Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 14.06.2002

Untertitel: "Das letzte Jahr zeigt uns: Der deutsche Film ist auf der Erfolgsspur: Im vergangenen Jahr konnte er seinen Marktanteil im einheimischen Kino um ein Drittel auf 19 Prozent steigern. Das beste Ergebnis seit Mitte der siebziger Jahre."
Anrede: liebe Gäste!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/23/84523/multi.htm


Verehrte ehemalige und zukünftige Träger des Deutschen Filmpreises,

verehrte Nominierte,

Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren starb in München ein Künstler, dessen Lebenswerk vielleicht die beste Begründung dafür ist, warum es den Deutschen Filmpreis geben muss - und was dieser Preis bewirken kann.

Ich meine natürlich den unvergessenen Rainer Werner Fassbinder, der zwischen 1970 und 1982 gleich sechsmal mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurde. Mit seiner radikalen Ästhetik und seiner kompromisslosen Art, Geschichten zu erzählen und Filme zu machen, war besonders der frühe Fassbinder bestimmt alles andere als der "Liebling der Geldgeber".

Aber mit den Preisgeldern aus dem Bundesfilmpreis konnte er drehen, was ihm buchstäblich "auf den Nägeln brannte". Gleich im Jahr seines ersten Preises für den Film "Katzelmacher" stellte Fassbinder sage und schreibe sechs Filme fertig. Keine Bange, solch einen Parforceritt wird niemand von Ihnen, die Sie heute abend für den Filmpreis nominiert sind, erwarten.

Aber ich denke, es ist gut, bisweilen daran zu erinnern, was dieser mit 2,8 Millionen Euro höchstdotierte Kulturpreis der Bundesrepublik Deutschland vor allem bedeutet:

Er zeichnet herausragende künstlerische Leistungen aus. Und er soll neue Produktionen anregen. Und da ist es dann schon ein beachtliches Ergebnis, wenn immer wieder - so auch heute - unter den nominierten Filmen solche sind, die durch die Gelder des Deutschen Filmpreises ermöglicht wurden.

Meine Damen und Herren,

das letzte Jahr zeigt uns: Der deutsche Film ist auf der Erfolgsspur: Im vergangenen Jahr konnte er seinen Marktanteil im einheimischen Kino um ein Drittel auf 19 Prozent steigern. Das beste Ergebnis seit Mitte der siebziger Jahre.

Eine Zeitlang hieß es, der Erfolg werde nur mit Komödien erreicht, die außer uns niemand auf der Welt versteht - und auch bei uns nur eine bestimmte Generation.

Dieser Vorwurf wird durch die heutige Auswahlliste ganz eindrucksvoll widerlegt: Die thematische Bandbreite, vom Schicksal einer deutschen Familie in den 30er Jahren in Kenia bis zu ostdeutschen Befindlichkeiten Anfang des 21. Jahrhunderts, könnte erfreulicher nicht sein.

Das zeigt auch: der deutsche Film ist internationaler geworden. Wir sollten stolz darauf sein, wenn es deutschen Regisseuren wie Tom Tykwer auch mit deutschen Fördergeldern gelingt, wahrhaft europäische Produktionen wie "Heaven" auf die Beine zu stellen und dafür auch internationale Anerkennung zu bekommen.

Ich höre kritische Stimmen, dass in diesem Jahr erstmals Filmpreise in den Kategorien "Dokumentar-" und "Kinderfilm" vergeben werden.

Manche halten das für ein Zeichen der Risikoscheu. Sie meinen, Dokumentationen seien "billig" und Kinderfilme "unverfänglich".

Das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist der Fall. Es ist gut, wenn Dokumentarfilme, die sich auch mit schwierigen Stoffen der Gegenwart und der Geschichte auseinandersetzen, ihre Resonanz beim Publikum finden.

Und wenn von den 31 Millionen Zuschauern, die sich im letzten Jahr deutsche Filme im Kino angeschaut haben, allein acht Millionen auf Kinderfilme entfallen, dann ist das ein sehr ermutigendes Zeichen - gerade in einer Zeit, da doch viele unsere Jüngsten schon hoffnungslos an Fernsehserien und Computerspiele verloren glaubten.

Meine Damen und Herren,

ich möchte, wenn Sie erlauben, noch einen Augenblick bei diesem Thema bleiben.

Nicht erst die schreckliche Tat eines Jugendlichen am Gutenberg-Gymnasium von Erfurt hat die Frage aufgeworfen, inwieweit die Darstellung von Gewalt in den Medien mit tatsächlicher Gewalt gerade Jugendlicher in Zusammenhang steht.

Es ist wohl so, dass es keinen direkten Beweis für einen solchen Zusammenhang gibt - dass es aber dieses Beweises eigentlich auch gar nicht bedarf. Denn dass die Darstellung von Gewalt als Mittel der Problemlösung - oder, schlimmer noch: als Selbstzweck - gerade bei labilen Jugendlichen eine gefährliche Suggestivkraft entwickelt, dürfte wohl unbestritten sein.

Gewalt ist kein Spaß und auch nicht sehr unterhaltsam. Und Gewalt darf kein sich selbst genügendes ästhetisches Prinzip sein. Natürlich darf Gewalt, da sie nun leider in der Welt ist, auch im Kino nicht ausgeblendet werden. Aber sie sollte eben auch nicht verherrlicht werden.

Ich denke, wir sollten miteinander noch intensiver nachdenken, wie wir junge Menschen in den Stand versetzen, Kompetenz im Umgang mit den Medien zu lernen - und nicht nur im Umgang mit der Fernbedienung.

Es gibt in dieser Hinsicht bereits Projekte, wie etwa die Schul-Film-Wochen der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Bund hat seine Unterstützung zugesagt, sie flächendeckend zu einer dauerhaften Einrichtung zu machen.

Nötig wäre sicherlich auch, an den Schulen kontinuierlich die Auseinandersetzung mit jener Bilderflut zu üben, der wir alle tagtäglich ausgesetzt sind.

Meine Damen und Herren,

eine der besten "Schulen des Sehens" ist und bleibt die Kunst des Films.

Kino hat die phantastische Möglichkeit, gesellschaftliche Probleme und Stimmungen, aber auch die Suche der Menschen nach sich selbst, nach Liebe, Anerkennung und persönlichem Glück im besten Sinne des Wortes zu "beleuchten".

Wie überall in Europa, ist der Film auch in Deutschland auf die Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen. Das ist keineswegs ein Zeichen von Schwäche. Sondern ein Ergebnis der Tatsache, dass wir es ernst meinen mit kulturellen Standards, mit kritischem Engagement und mit dem Beitrag des Kinos zur Bildung und Bewahrung nationaler, regionaler und sozialer Identitäten.

In diesem Sinne steht das deutsche Kino in den großen Filmtraditionen Europas. Dieser Tradition sehen wir uns verpflichtet. Und wir kommen dieser Verpflichtung nach, indem wir das System der Filmförderung weiter verfeinern und verbessern.

Es geht schließlich - nicht nur, aber auch - um den Film als Wirtschaftsfaktor. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, wenn die Kreativität des Kinos noch stärker zur Produktivkraft würde.

Meine Damen und Herren,

vor allem aber soll Kino, bei allem Kunstvorbehalt und allem kritischen Auftrag doch eines leisten: Es soll unterhalten.

Deshalb haben wir Sie ja heute auch nicht in einen Hörsaal eingeladen, sondern hierher ins Tempodrom - wie ich finde, ein großartiger Rahmen, um die schönen Erfolge des deutschen Films zu feiern.

Ihnen geht es wie mir: Wir wissen nicht, wer die begehrten Preise heute mit nach Hause nehmen wird. Darum wünsche ich jetzt allen einen spannenden und vergnüglichen Abend.

Ich danke Ihnen.