Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.06.2002

Untertitel: Bundeskanzler Schröder über Herausforderungen des Regierens im 21. Jahrhundert, den Kampf gegen den internationelen Terrorsmus, die Globalisierung und die Reform und Verteidigung des Sozialstaats.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/47/84547/multi.htm


Ich soll über Herausforderungen des Regierens im 21. Jahrhundert reden. Ich will das gern und so tun, wie es sich für einen Zukunftskongress gehört, also nicht bezogen auf die aktuelle Wahlkampfsituation, sondern bezogen auf das Grundlagenpapier, das ihr erarbeitet habt.

Ich will vier Herausforderungen nennen, die uns in den nächsten Jahren, vielleicht auch Jahrzehnten, beschäftigen werden.

Die erste Herausforderung ist eine völlig andere Bedrohungssituation unseres Landes, aber nicht nur unseres Landes, hervorgerufen durch das, was man Privatisierung von Gewalt nennen könnte. Die reale Bedrohung des Zusammenlebens unserer Gesellschaften ist - anders als im Kalten Krieg - weniger eine Bedrohung durch erklärte Kriege eines Landes gegen ein anderes, sondern eher eine Bedrohung durch privatisierte Gewalt, durch Gruppen wie Al-Qa'eda, also eine Bedrohung, die wir seit dem 11. September ganz praktisch erlebt haben.

Wenn man dieser Bedrohung entgegentreten will, stellen sich Fragen: Was sind die Ursachen, und was sind die angemessenen Instrumente der Reaktion? Wenn man sich zunächst mit den Ursachen befasst, stellt man fest, dass es falsch wäre, diese Form des internationalen Terrorismus mit der Unterdrückung der Massen in der Dritten Welt gleichzusetzen. Es gibt keine direkte Beziehung zwischen dem einen und dem anderen. Aber genauso klar muss man begreifen, dass die Chancen für den internationalen Terrorismus gerade darin bestehen, Menschen, die verelendet und unterdrückt sind, die sich ökonomisch wie politisch als Verlierer der Globalisierung empfinden, für ihre Zwecke zu mobilisieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Das muss die politische Reaktion auf diese neue Form der Bedrohung bestimmen. Das bedeutet, dass die Reaktion auf die neue Form der Bedrohung nicht allein im Einsatz militärischer Mittel bestehen kann. Das heißt, die Herausforderung, die wir zu bestehen haben, ist, einen Sicherheitsbegriff zu entwickeln und politisch Realität werden zu lassen, der über das Ausschalten von Bedrohungen durch militärische Gewalt hinausgeht. Hierin liegt der Grund, warum wir gesagt haben: Die Reaktion auf den internationalen Terrorismus muss politisch, ökonomisch und diplomatisch sein, vor allen Dingen eine Verstärkung der Entwicklungszusammenarbeit vorsehen.

Wir haben 1999 in Köln beim dortigen G8 -Gipfel eine der weitreichendsten Entschuldungsinitiativen durchgesetzt, die es für die Ärmsten der Armen in der Dritten Welt jemals gegeben hat. Ich bitte zu verstehen, dass das Teil einer Strategie gewesen ist, die den neuen Bedrohungen Herr werden will, indem wir eine gerechtere Welt durch eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung schaffen, um Solidarisierungen zwischen allen Formen von Terrorismus und Unterdrückung in der Dritten Welt, aber nicht nur in der Dritten Welt, zu verhindern.

Mir kommt es darauf an, zu verdeutlichen, dass meine Regierung und diese Koalition für einen anderen Sicherheitsbegriff stehen als den, der gepflegt wird, wenn man nur auf militärische Ressourcen zurückgreift. Dieser andere Sicherheitsbegriff hat automatisch Folgen für die Aufteilung von Ressourcen innerhalb unseres Landes. Denn je nachdem, ob man Sicherheit umfassend definiert, also auch durchgesetzt mit militärischen Mitteln, aber das allenfalls als Ultima Ratio, jedoch in erster Linie durch politische, soziale und ökologische Zusammenarbeit hergestellt, oder ob man Sicherheit allein auf das Militärische bezieht, je nachdem also, wie man den Sicherheitsbegriff definiert, wird die Auseinandersetzung um entsprechende Ressourcen in der Gesellschaft entschieden werden.

Deswegen sollte man in einer solchen Debatte, in der es um die Zukunft unseres, aber nicht nur unseres Landes geht, gleich deutlich machen, dass wir miteinander auf einem Sicherheitsbegriff bestehen müssen, der die politische, die soziale und die ökologische Dimension einbezieht und sich nicht auf das Militärische reduziert.

Angesichts dessen, was wir haben erleben müssen, wird die demokratische Linke in Deutschland in einem Punkt lernfähig bleiben müssen. Ich weiß, dass es vielen schwerfällt, entsprechende Entscheidungen zu verstehen oder gar zu treffen - unterstellt mal: mir auch. In einem Punkt werden wir gleichwohl Lernerfahrungen machen müssen und entsprechende Konsequenzen daraus zu ziehen haben. So sehr wir auf einem umfassenden Sicherheitsbegriff bestehen, die Tabuisierung militärischen Eingreifens als Ultima Ratio von Politik wird sich nicht aufrecht erhalten lassen. Das ist eine bittere Erfahrung, aber eine Erfahrung, die ich in den letzten vier Jahren habe machen müssen und die natürlich für viele von uns Abschied von Vorstellungen bedeutet hat, mit denen wir groß geworden sind und mit denen wir, wie es so schön heißt, politisch sozialisiert worden sind.

Die zweite Herausforderung an Regieren in der Welt des 21. Jahrhunderts will ich beschreiben mit der Internationalisierung von Regierungspolitik. Wir machen mehr und mehr die Erfahrung, dass nationale Politik zwar wichtig und durchaus nicht einflusslos ist, aber dass sie durch neue Konzepte der internationalen Zusammenarbeit ergänzt werden muss.

In der Außenpolitik heißt das vor allen Dingen, dass entgegen dem Trend zum Unilateralismus, den es immer wieder und immer noch gibt - ich will gar nicht die Orte nennen, an denen er besonders virulent ist - , deutsche Politik darauf bestehen wird und muss, dass im Mittelpunkt internationaler Krisenlösung die Vereinten Nationen stehen.

Wir haben deutlich gemacht, dass die Reform der Vereinten Nationen, um sie handlungsfähiger zu machen, dass die Legitimation von Konfliktlösungsmustern durch die Vereinten Nationen unerlässlich ist, wenn Deutschland sich solidarisch beteiligen soll. Das hat unser außen- und sicherheitspolitisches Handeln auf dem Balkan ebenso bestimmt wie in Afghanistan. Das wird so bleiben.

Internationalisierung, also die Tendenz, Unilateralismus durch Multilateralismus zu überwinden, bezieht sich nicht nur auf die klassische Außen- und Sicherheitspolitik, sondern muss sich auch auf die Herausforderungen beziehen, denen wir auf dem ökonomischen Felde ausgesetzt sind, und sich entsprechend in der Wirtschafts- , in der Finanzpolitik und in anderen Politikbereichen niederschlagen.

Die politische Antwort auf die Globalisierungstendenzen an der ökonomischen Basis ist für unsere Region die Erweiterung und die Vertiefung Europas. Unsere Generation hat die einmalige historische Chance, durch die Erweiterung der Europäischen Union dieses Europa - über Jahrhunderte Schauplatz blutigster Auseinandersetzungen - zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlstandes seiner Menschen zu machen. Ich denke, dass diese historische Chance jede Belastung und jede Schwierigkeit, die in einem solchen Einigungsprozess liegen, rechtfertigt.

Weil die Antwort auf die Herausforderungen einer globalisierten Welt für uns das integrierte Europa ist, muss es zur Erweiterung kommen, und zwar in den Fristen, die wir uns vorgenommen haben. Das bedeutet, dass zehn der ost- und mittelosteuropäischen Staaten im Jahre 2004 an den Wahlen zum Europäischen Parlament als Mitglieder der Europäischen Union teilhaben sollen. Ich glaube, das ist die entscheidende Voraussetzung dafür, damit der historische Auftrag, den ich beschrieben habe, auch wirklich gelingen kann.

Aber wenn man das macht, muss man mindestens parallel dazu dafür sorgen, dass dieses erweiterte Europa, besser: diese erweiterte Europäische Union - denn die, die hinzukommen wollen, sind ja alte europäische Staaten - politisch auch führbar bleibt. Hier ist wichtig, dass es zu einer neuen Balance der Institutionen in Europa zueinander kommen muss.

Das heißt, wir brauchen eine starke Exekutive, aber eine Exekutive, die nicht technokratisch in Brüssel entscheidet, sondern die sich für ihre Entscheidungen, die in den Lebensalltag von Menschen massiv eingreifen - manchmal mehr, als nationale Politik das tut oder tun kann - , auch verantworten müssen. Das bedeutet, dass wir ein wirklich gestärktes Europäisches Parlament brauchen, denn das ist die Kontrollinstanz einer starken Exekutive. Ohne ein erstarktes Europäisches Parlament mit erweiterten Rechten und erweiterten Verantwortlichkeiten kann es nicht gehen.

Das heißt, über die Tatsache, dass diejenigen, die im Parlament europäische Politik machen, bezogen auf Verantwortung sehr weit weg von den Bürgerinnen und Bürgern sind, weil sie über komplizierte Listensysteme ausgewählt werden, muss nachgedacht werden. Denn wenn das Parlament der Ort der Kontrolle der Exekutive ist, muss das Volk in der Lage sein, die gewählten Parlamentarier direkter zu kontrollieren. Sonst funktioniert das System nicht.

Wir brauchen weiter eine Entwicklung des Europäischen Rates, also des Rates der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, hin zu einer Staatenkammer, die sowohl exekutive als auch legislative Funktionen haben wird.

Diese Fragen sind im Konvent zu klären, der seine Arbeit aufgenommen hat. Das muss parallel zur Erweiterung geklärt werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass dieses erweiterte Europa politisch kaum mehr führbar sein würde und dann technokratische Entscheidungen politisch unkontrolliert das Leben von Menschen, auch von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, bestimmen könnten - eine Entwicklung, der wir miteinander entgegentreten müssen.

Gleichzeitig gibt es bereits einen ausgereiften Grundrechtskatalog. Wenn man die Aufteilung von Kompetenzen hinzunimmt, also die Aufteilung dessen, was Sache Europas ist und was Sache der Nationalstaaten bleiben soll, dann hat man die Struktur einer europäischen Verfassung. Ob man sie so nennt oder dabei auf Empfindlichkeiten von Staaten mit anderen historischen Zusammenhängen Rücksicht nimmt, ist nicht die Frage. Aber man hat dann eine europäische Verfassung, auf deren Basis Verantwortlichkeit und Transparenz, also Durchschaubarkeit, für die Menschen ermöglicht werden können.

Mir scheint, dass dieses Modell einer regionalen Stabilität, das wir Europäische Union nennen, ein Modell ist, das wir nicht anderen Regionen oktroyieren können, das sich aber, gespeist aus den historischen Erfahrungen, die die Europäer gemacht haben, schon als ein Modell eignet, um Konflikte ökologisch, sozial und politisch lösen zu helfen. Ich glaube, dass sich in Europa, wenn wir es schaffen, das so zu verwirklichen, etwas entwickeln wird - partiell schon entwickelt hat - , das beispielgebend für Konfliktlösungsmechanismen in anderen Teilen der Welt sein kann.

Mir scheint nun, dass, wenn man über die Perspektiven im nächsten Jahrhundert redet, man nicht nur, bezogen auf Europa, über das diskutieren darf, was die Institutionen leisten sollen, sondern gerade wir müssen darüber reden, welche Inhalte mit und in den Institutionen durchgesetzt werden sollen, das heißt nach welchem Gesellschaftsmodell dieses neue erweiterte Europa funktionieren soll.

Damit bin ich bei dem dritten Punkt, den ich für unsere Debatte einleitend ansprechen wollte: Dieses Europa, unabhängig von dem, was sich an falschen und problematischen Entscheidungen in der letzten Zeit angedeutet hat, war im Unterschied zu dem, was sich ansonsten in der Welt ereignet, nach einem bestimmten Prinzip aufgebaut. Man kann es Sozialstaatsprinzip nennen. Ich würde vorziehen, es das Prinzip der umfassenden Teilhabe möglichst aller Menschen zu nennen, nicht zuletzt der abhängig Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen.

Was meine ich mit Teilhabe? Ich meine mit Teilhabe das Mitentscheiden-Können bei den Entscheidungen in der Gesellschaft, also Teilhabe am Sagen in der Gesellschaft. Ich meine mit Teilhabe aber ebenso Teilhabe an den erarbeiteten Werten in der Gesellschaft. Das ist jener Teilhabebegriff, der nach meinem Verständnis Sozialstaatlichkeit in Deutschland prägt. Das bedeutet, dass wir diesen Begriff von Teilhabe und die entsprechenden politischen Konsequenzen in Deutschland für das ganze Europa zu verteidigen haben.

Was heißt das im Einzelnen, auch bezogen auf die Aktivitäten deutscher Gewerkschaften? Ich glaube, dass es hier ein Maß an Übereinstimmung gibt, das gelegentlich hinter aktuellen Konflikten verborgen bleibt - Konflikte, die durchaus mal nötig sind, auch mit uns, und die ich sehr wohl nachvollziehen kann. Was heißt Teilhabe am Sagen? Ich glaube, es geht vor allen Dingen darum, dass wir nicht nur unter uns erkennen, sondern denen, die diesen Ideen ferner sind, klar machen, dass das Prinzip umfassender Mitbestimmung der arbeitenden Menschen in unserer Gesellschaft ein Prinzip ist, das die Stärke unserer Volkswirtschaft ausmacht.

Die Auseinandersetzungen werden in Deutschland weitergehen, wir werden uns aber auch mit einem veränderten Kräfteverhältnis in Europa beschäftigen müssen. Auch Ihr kennt die Ergebnisse der letzten Wahlen. Was bedeuten sie? Wir werden in den nächsten Jahren eine Auseinandersetzung um die Frage führen: Können wir das deutsche Mitbestimmungssystem im Prinzip erhalten und fortentwickeln oder nicht? Daran hängt auch die Frage, ob wir in der Lage sind, auf diesem Prinzip aufbauende Sozialstaatlichkeit zu verteidigen oder ob wir diese Auseinandersetzung verlieren.

Ich glaube, es wird in vielen Bereichen nicht zureichend erkannt, worum es dabei geht. Zunächst einmal wird von der demokratischen Rechten in Deutschland versucht, das, was über die Flächentarifverträge geregelt wird, außer Kraft zu setzen. Ich will nicht missverstanden werden: Ich glaube, dass es richtig ist, wenn die IG Metall und andere Gewerkschaften über die Frage nachdenken, ob man eine neue Beziehung zwischen dem Flächentarifvertrag auf der einen Seite und betrieblichen Entscheidungsmöglichkeiten auf der anderen Seite braucht. Die Diskussion ist interessant. Es ist vor allen Dingen eure Diskussion. Es ist eine Diskussion, die auf alle Gewerkschaften zukommt und der man nicht ausweichen kann. Es ist eine Diskussion, die innerhalb der deutschen Gewerkschaften geführt werden muss und die auch geführt wird, wie man sieht.

Aber eines muss politisch klar sein: Die Debatte der anderen um den Flächentarifvertrag hat eine völlig andere Qualität. Da geht es nicht um ein neues Verhältnis zwischen zentraler Verhandlungsmacht und betrieblichen Gestaltungsmöglichkeiten. Wer das glaubt, wäre etwas naiv. Es geht vielmehr darum, zentrale Verhandlungsmacht der Gewerkschaften zu zerstören. Das ist das Ziel.

Mir liegt schon daran, deutlich zu machen: Wenn wir darüber reden oder ihr darüber redet, geht es um eine vernünftige Zuordnung zwischen zentraler Verhandlungsmacht auf der einen Seite und betrieblicher Interessenvertretung auf der anderen Seite, ohne indessen die zentralen Möglichkeiten in Frage zu stellen und damit auch der betrieblichen Unterstützungsfunktion der Gewerkschaften für die Betriebe den Boden zu entziehen. Wenn die darüber reden, geht es um die Zerstörung der zentralen Verhandlungsmacht, und wenn sie das schafften, wäre alsbald auch die betriebliche Verhandlungsmacht auf wahrscheinlich wenige Großbetriebe reduziert und damit aufs Elementarste in Frage gestellt.

Da gibt es also schon gravierende Unterschiede, die sich an diesem Punkt klar machen lassen. Ich denke, das wird die Auseinandersetzung bestimmen, aktuell im Wahlkampf, aber - macht euch nichts vor - prinzipiell weit darüber hinaus. Und so viele Bündnispartner habt ihr nicht, als dass ihr auch nur auf einen verzichten könntet. Aber damit das klar ist: ich auch nicht.

Wir haben weiter eine Debatte über Sozialstaatlichkeit. Diese kommt natürlich nicht in dem Gewand des direkten Angriffs auf den Sozialstaat daher. Das könnte in Deutschland niemand wagen. Täte man das, würde man politisch marginalisiert. Also braucht man Formeln, die verbergen, was dahinter steht. Diese Formeln heißen "dreimal unter 40" oder gar "dreimal unter 35". Das heißt, die Staatsquote und die Quoten für die Sozialversicherungen sollen so weit gedrückt werden - je nachdem, welches Parteiprogramm man nimmt: bei der CDU auf unter 40, bei der FDP auf unter 35. Das ist der zentrale Angriff gegen die Aufrechterhaltung von Sozialstaatlichkeit in Deutschland. Das kann man ganz einfach belegen. Man muss sich nur einmal ausrechnen lassen, was das in der heutigen Situation bedeuten würde. Machte man das auf einmal, würde es bedeuten, dass man bei einem Bundeshaushalt von rund 250 Milliarden Euro bei der Formel "dreimal unter 40" 170 Milliarden auf allen staatlichen Ebenen einzusparen hätte. Das gilt also für Bund, Länder und Gemeinden. Das ist eine so unvorstellbare Summe, dass deren Realisierung sofort das Ende jeglicher Sozialstaatlichkeit, übrigens auch das sofortige Ende jeder Investition in die öffentliche Infrastruktur bedeuten würde.

Das heißt, die Realisierung dessen, was da angekündigt ist, würde Sozialstaatlichkeit in Deutschland zerstören. Nun ist klar, dass die auch wissen, dass sie das auf einen Schlag nicht können. Aber interessant ist, dass dies das Ziel ist. Deswegen ist es so wichtig, dass jeder hier im Saal und hoffentlich auch darüber hinaus begreift, dass diese Strategie schrittweise vorgeht und mit Abbau in Bereichen beginnt, über die man noch gar nicht nachdenkt oder die erst allmählich thematisiert werden, bis dann das bittere Ende erreicht ist.

Das ist der Grund, warum man ganz genau hinschauen und hinhören muss, zum Beispiel auch, als Herr Merz gestern sagte: Wenn man das realisieren will, muss man die Renten natürlich nach unten bringen. - Damit meint er die Renten, die bereits verdient worden sind. Das hängt miteinander zusammen. Der erste Schritt der Realisierung dessen, was die prinzipiell aufgeschrieben haben, trifft 17 Millionen Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, denen vom Fraktionsvorsitzenden der CDU / CSU - eigentlich müsste man jetzt CSU / CDU sagen - gesagt worden ist: Ihr seid die Ersten, die bei der Erreichung unseres Ziels dran sein werden. Ich weiß nicht, ob er sich verplappert hat, aber es ist die Wahrheit. Manchmal kommt die Wahrheit ja auch heraus, ohne dass man es will.

Mir lag daran, deutlich zu machen, dass hier auf dem Boden von Forderungen, die sehr theoretisch klingen, Politik vorbereitet wird, die in den nächsten vier Jahren Realität werden wird, und die Rentnerinnen und Rentner werden es zuerst merken.

Wir haben auf diesem Gebiet erreicht, dass der Aufbau von Kapitaldeckung eben keine Reduzierung dessen bedeutet, was durch beitragsfinanzierte Renten bereits verdient ist. Wir haben doch nicht eine Auseinandersetzung unter uns geführt und uns gegen Kürzungen entschieden, um jetzt tatenlos zuzusehen, wie die anderen massiv in verdiente Rentenanwartschaften eingreifen.

Ich denke, an diesem Punkt und nicht nur an diesem Punkt wird deutlich, dass Sozialstaatlichkeit aufs Ärgste bedroht wird, und zwar schon mit den ersten Entscheidungen, die von den anderen angekündigt sind.

Oder nehmen wir ein anderes Feld: Herr Seehofer, verantwortlich für Gesundheitspolitik in diesem Team, das da Kompetenz vorgeben soll, hat als Erstes erklärt: Natürlich müssen die Kassenbeiträge steigen - mit Folgen für die Lohnnebenkosten, von denen bekanntlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Hälfte zahlen.

Das hat er klipp und klar erklärt, während wir gerade den Versuch machen, durch Effizienzgewinne im System das uferlose Steigen der Krankenkassenbeiträge zu vermeiden, ohne ein zentrales Prinzip von Sozialstaatlichkeit in Deutschland aufzugeben, nämlich das Prinzip, dass Wiederherstellung von Gesundheit durch das medizinisch Mögliche unabhängig vom Einkommen geschehen muss, es also Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen nicht geben darf, weil das eine Politik wäre, die nach dem Motto verfährt: Wer arm ist, muss eben früher dran glauben.

Ich denke, wir haben guten Grund, prinzipiell ein System zu verteidigen, es aber auch effizienter zu gestalten, das inzwischen in Europa von anderen benutzt und in höchsten Tönen gelobt wird, weil sie realisiert haben, was die Schlaumeier der Rechten ihnen empfohlen hatten. Das hat Frau Thatcher in England nämlich getan, und das Ergebnis ist, dass durch die Thatcher'schen Reformen die Menschen bei akuten Operationen nach Deutschland kommen, weil das in England nicht mehr gemacht werden kann und Tony Blair noch gar nicht die massiven Mittel aufbringen konnte, die er bräuchte, um das britische Gesundheitssystem auf einen Level zu bringen, der unserem entspricht.

Wir sollten deswegen nicht den falschen Weg gehen. Wir haben das Prinzip zu verteidigen und Auswüchse zu beschneiden, indem wir Effizienzgewinne durch politische Entscheidungen möglich machen. Aber wir dürfen nicht das Umgekehrte tun, was die Rechte in Deutschland will. Das ist nicht unsere Sache. Das müssen wir verhindern.

Der vierte Punkt ist ebenfalls eine riesige Herausforderung und betrifft den Bereich von Bildung und Weiterbildung. Wir haben in dem oftmals geschmähten Bündnis für Arbeit erreicht, dass wir in Fragen der Weiterbildung wirklich weitergekommen sind, und wir haben - das will ich den jungen Leuten sagen - nicht zuletzt durch die Beratungen dort und den Druck, den die Gewerkschaftsseite dort ausgeübt hat, durch JUMP und ähnliche Programme dafür gesorgt, dass denjenigen, denen betriebliche Ausbildungsplätze aus unterschiedlichen Gründen vorenthalten werden - aus Unwilligkeit, aber auch aus Mangel an Betrieben - , ein staatliches Angebot gemacht wirund Das werden wir beibehalten.

Wir werden uns darüber hinaus darum zu kümmern haben, wie die Perspektiven an der Schwelle von Berufsausbildung und Eintritt ins Arbeitsleben verbessert werden können, weil diese Schwelle im Moment die ist, die uns am meisten Schwierigkeiten macht.

Es ist klar, dass es angesichts der Situation auf diesem Gebiet auch in Zukunft staatlicher Intervention bedarf. Deswegen ist die Aufforderung, an dieser Stelle nicht aufzuhören, sondern möglichst besser weiterzumachen, eine, die ich erstens nachvollziehen kann und die ich zweitens teile.

Wir haben eine Menge gemacht, was die Frage der Bildung, soweit wir zuständig sind, angeht. Wir haben eine harte Konsolidierungspolitik machen müssen, die übrigens etwas mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Denn alles, was wir über Verschuldung finanzieren, tragen ja nicht wir, sondern tragen die kommenden Generationen. Deswegen musste es Konsolidierungspolitik geben und wird es weiter Konsolidierungspolitik geben müssen. Aber wir haben im Rahmen von Konsolidierungspolitik vernünftige Prioritäten gesetzt, weil wir dafür gesorgt haben, dass der Bundeshaushalt für Forschung und Entwicklung und für Bildung um mehr als 20 Prozent gestiegen ist.

Das hat dazu geführt, dass die Zahl derer, die aus sozial schwächeren Familien zu Deutschlands höchsten Schulen gehen, um 80.000 gestiegen ist. Das ist zwar kein Durchbruch, wie ich ihn mir wünsche, aber immerhin ein Erfolg. Das hat übrigens dazu geführt, dass wir in wichtigen Zukunftsbereichen unserer Wirtschaft, in den Biotechnologien, in den Informationstechnologien, inzwischen in Europa an der Spitze rangieren.

Das wird in der nächsten Legislaturperiode dazu führen, dass wir aus sozialen wie aus ökonomischen Gründen das Problem angehen müssen, dass wir es bisher nicht geschafft haben, jungen - nicht nur diesen, aber zumal diesen - , gut ausgebildeten Frauen eine wirkliche Wahlfreiheit zu lassen, ob sie ausschließlich der Familienarbeit nachgehen wollen oder ob wir ihnen dabei helfen, Familie und Beruf miteinander in

Übereinstimmung zu bringen.

Der Mangel an Wahlfreiheit hat mit einem Mangel an Betreuung zu tun, und zwar an ganztägiger Betreuung in Deutschland. Wir sind im Vergleich zu anderen europäischen Ländern weit hinten, was diese Frage angeht. Nachdem wir in der ersten Wahlperiode die materielle Besserstellung über das Kindergeld und über die Steuerreform gemacht haben, werden wir in der zweiten Legislaturperiode, obwohl formal nicht zuständig, massiv in Ganztagsbetreuungsangebote, und zwar pädagogisch sinnvolle Angebote, investieren. Das ist ein Gebot der Gleichheit zwischen den Geschlechtern, also der sozialen Gerechtigkeit.

Es ist zugleich ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Denn es macht trotz aller Notwendigkeit, Internationalität in den wichtigsten Schlüsselbereichen der Zukunft herbeizuführen, keinen Sinn, Leute von außen zu holen, wenn man durch politische Versäumnisse dafür sorgt, dass exzellent ausgebildete Frauen keine Chance auf den Arbeitsmärkten erhalten.

Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, betrifft den Arbeitsmarkt. Was die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland angeht, haben wir unser Ziel, in der ersten Legislaturperiode die Arbeitslosigkeit unter 3,5 Millionen zu drücken, nicht erreichen können, und bis zum Ende der Legislaturperiode werden wir es nicht erreichen. Das hat Gründe, die ich jetzt nicht herunterbeten will, aber die vor allem mit den schweren weltwirtschaftlichen Verwerfungen des vergangenen Jahres zu tun haben.

Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass wir durch Maßnahmen politischer Natur in einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung unter anderen Bedingungen starten als jemals zuvor. Wir haben nämlich, bezogen auf die Zahlen von 1998, erstmals eine geringere Sockelarbeitslosigkeit nach einer Rezession - im letzten Jahr hatten wir eine solche, das darf man nicht vergessen. Ungeachtet der Tatsache - dies will ich nicht beschönigen - , dass wir unser Ziel nicht haben erreichen können, starten wir mit rund 500.000 Sockelarbeitslosen weniger in einen neuen Aufschwung, als das 1998 der Fall war. Hinzu kommen etwa eine Million zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Das ist ein Erfolg, der mit den Rahmenbedingungen zu tun hat, die wir gesetzt haben.

Wir werden uns in der nächsten Legislaturperiode vor allen Dingen um die Reform des Arbeitsmarktes kümmern müssen. Ich will hier sehr deutlich sagen: Dabei geht es nicht darum, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Objekten von Entscheidungen zu machen, sondern es geht um eine sinnvolle Balance zwischen den Flexibilitätserfordernissen in den Betrieben, den globalisierten zumal, und den Sicherheitsbedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Sicherheitsbedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berücksichtigt man nicht, wenn man ohne Kenntnis der wirklichen Hintergründe über die angebliche Notwendigkeit faselt, Leute leichter rausschmeißen zu können, um damit angeblich mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist falsch.

Insofern wird es nicht darum gehen, die Sicherheitsbedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hintanzustellen, sondern es muss darum gehen, die offenen Stellen, die es in der Wirtschaft angeblich gibt, schneller mit entsprechend qualifizierten Arbeitslosen zu besetzen. Dazu sind zwei Entscheidungen nötig.

Erstens: Wir brauchen eine Reform der Bundesanstalt für Arbeit. Sie muss in der Lage sein, institutionell in den Mittelpunkt ihrer Arbeit Vermittlung zu stellen. Reformvorstellungen dieser Art werden formuliert, und ich erbitte mir eine kritische Diskussion, aber danach auch Unterstützung für ein Reformwerk, das sowohl im Interesse der Beitragszahler, als auch im Interesse der Arbeitslosen liegt.

Zweitens: Wir werden die Menschen nicht nur besser fördern müssen, sondern wir müssen sie auch fordern. Es gibt Tendenzen - das ist nicht die generelle Haltung der Menschen, die arbeitslos sind, aber man darf dem nicht ausweichen - , sich in den Betreuungssystemen einzurichten und dort zu verbleiben. Diese Tendenzen müssen aufgebrochen werden - durch Fördern, aber auch durch Fordern.

Dabei geht es darum, das zu machen, was wir auch nach langen Diskussionen das Verzahnen unterschiedlicher Leistungen genannt haben. Zum Beispiel die Verzahnung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe muss geleistet werden, wobei man natürlich nicht den Fehler machen darf, dass es bei diesem wichtigen Projekt, eine Leistung aus eigener Hand anzubieten, als Teil des Förderns, aber auch des Forderns, darum ginge, den Menschen, die darauf angewiesen sind, Kürzungen zuzumuten. Das ist nicht der Kern dessen, was wir vorhaben, sondern der Kern dessen ist, Leistungen zusammenzufassen, effizienter zu machen und auf diese Weise die Förderung zu verbessern. Ich denke, das ist etwas, was deutlich werden muss, weil man sonst diejenigen, die man für die Akzeptanz und Legitimation einer Reform braucht, nur verschrecken würde.

Lasst mich noch abschließend sagen: Meine Erwartung war und ist auch nie, dass man die deutschen Gewerkschaften, zumal diese nicht, sozusagen zur kritiklosen Unterstützung von Regierungspolitik bekommen könnte. Das wäre eine Illusion, und es gab Zeiten, in denen ich dieser Illusion auch selbst sehr hart widersprochen hätte. Das habe ich nicht vergessen. Meine Bitte und meine Erwartung ist aber schon, dass man sich nach einer Phase der kritischen Auseinandersetzung der gemeinsamen Wurzel, aber auch der gemeinsamen Gefahren, die es abzuwehren gilt, bewusst ist und gemeinsame Anliegen dann auch mit Überzeugung vertritt.