Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 20.06.2002
Untertitel: Schröder: "Die Kraft unseres Landes, unsere eigene Stärke liegt zum einen in unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, zum anderen aber auch im sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft."
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/86831/multi.htm
vor allen Dingen, lieber Klaus Volkert,
herzlichen Dank für die Einladung und dafür, wieder einmal in der großen Halle des Volkes zu Wolfsburg reden zu können.
Ich denke, wir haben uns zu fragen, was eigentlich die Kraft der deutschen Volkswirtschaft, die Kraft unseres Landes ausmacht. Die Antwort ist, denke ich, ziemlich einfach: Die Kraft unseres Landes, unsere eigene Stärke liegt zum einen in unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, zum anderen aber auch im sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Klaus Volkert hat völlig Recht, wenn er darauf hinweist, dass beide Gesichtspunkte - wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, vorneweg zu marschieren in der Spitzentechnologie in der eigenen Branche, sowie soziale Sensibilität und Rücksicht auf die Beschäftigten - idealtypisch für Volkswagen zutreffen. Hier wird bewiesen - mir ist wichtig, dass sich das weit über den Konzern hinaus herumspricht - , dass Mitbestimmung, dass starke Betriebsräte eben nicht ein Nachteil für die Leistungsfähigkeit des Unternehmens sind, sondern - im Gegenteil - ganz wesentlich seine Kraft ausmachen. Das ist die Basis von Volkswagen. Das soll und muss so bleiben.
Leistungsfähigkeit auf beiden Gebieten, bei der Erforschung und Entwicklung neuer Produkte und auch bei der fantasievollen Gestaltung der Arbeitsplätze und der Arbeitswelt, wird nicht zuletzt durch jenes Gesetz zusammengehalten - Volkswagen-Gesetz genannt - , das Klaus Volkert angesprochen hat.
Für mich ist völlig klar: Unter meiner Führung wird es zu diesem Gesetz in Deutschland keine Veränderung geben. Wir werden jeden zurückweisen, der über Europa solche Veränderungen herbeizuführen wünscht.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein Weiteres sagen. Wir führen eine ziemlich intensive Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission über die Frage: Wie müssen Vertrieb und Service von Automobilen in Deutschland, in Europa in Zukunft geregelt sein? Die Kommission schlägt irgendein Lehrbuch auf und meint, man müsse das liberalisieren, ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen.
Wir glauben nicht, dass es der deutschen Automobilindustrie, dass es Volkswagen nutzt, wenn man die Tatsache, dass die Händler leistungsstark in ihren Gebieten sind, schlicht ignoriert. Wir glauben nicht, dass es hilfreich ist - auch nicht für die Preise von Automobilen - , wenn man Service und Vertrieb voneinander trennt. Wir sind deswegen der Auffassung, dass die Kommission nacharbeiten muss. Das, was es bis jetzt an Vorschlägen gibt, nutzt weder den Verbrauchern noch der Automobilindustrie. Weil das so ist, können wir dem nicht zustimmen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine Bemerkung zu dem machen, was Klaus Volkert zum Schluss angesprochen hat, nämlich zu der hier häufig beklagten Regelung, geldwerte Vorteile versteuern zu müssen. Ich will dazu Folgendes sagen: Mein Eindruck ist, dass diese Vorschrift haltbar war, als das Rabattgesetz noch galt. Wir haben jetzt die Situation, dass das Rabattgesetz und ähnliche damit in Zusammenhang stehende Gesetze gefallen sind, weil sie aus einer anderen Zeit kamen. Dies bedeutet, dass jeder, der ein Auto kaufen will, mit seinem Händler Rabatte aushandeln kann, ohne dass der Gesetzgeber ihm hineinredet. Natürlich muss er die Rabatte nicht versteuern. Wir werden also zu prüfen haben, ob das nach Abschaffung des Rabattgesetzes nicht auch für diejenigen gelten muss, die ihr Auto, weil sie es selbst herstellen, ohne einen Zwischenhändler direkt vom Werk kaufen.
Ich halte das für überfällig. Ich halte es für ein Gebot der Gerechtigkeit, denjenigen, der sein Auto direkt mit Rabatt bezieht, nicht anders zu stellen als denjenigen, der es vom Händler mit Rabatt kauft. Wir werden also ermitteln müssen, wie hoch die durchschnittlichen Rabatte sind, die bei den Händlern gewährt werden. Exakt in der gleichen Größenordnung muss auch Betriebsangehörigen die Möglichkeit gegeben werden, diese Rabatte in Anspruch zu nehmen, ohne zusätzliche Steuern bezahlen zu müssen.
Es wird nicht ganz einfach sein, das dem Finanzminister klarzumachen. Aber vielleicht, lieber Klaus Volkert, schaffen wir es ja beide zusammen.
Ich will über den engeren Bereich der Automobilindustrie hinaus noch ein paar Bemerkungen zu dem machen, was in der nächsten Zeit auf uns wartet, was an Problemen, die wir zu lösen haben, ansteht.
Kein Zweifel, in diesem Unternehmen weiß man, dass man in einer globalen Welt lebt und einem globalen Wettbewerb ausgesetzt ist. Hierin lag der Grund, warum wir für Unternehmen wie dieses, aber auch für die Vielzahl der kleinen privaten Unternehmen, der kleinen Personengesellschaften, ein modernes Steuerrecht geschaffen haben, das die Unternehmensleitungen in den Stand versetzt, in Europa und weit über Europa hinaus wettbewerbsfähig zu arbeiten und damit Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Wir haben das hinbekommen.
Wir haben daneben auch an die Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen gedacht, weil wir den Eingangssteuersatz gesenkt haben. Dies hat Auswirkungen auf den gesamten Verlauf der Kurve, die anzeigt, wie viel Steuern man zahlen muss, jene berühmte Progressionskurve.
Wir haben mit der dreimaligen Erhöhung des Kindergeldes dafür gesorgt, dass Familien heute besser gestellt sind als vorher. Wir wollen uns darauf nicht ausruhen. In der nächsten Legislaturperiode wird es vor allen Dingen darum gehen, durch massive Investitionen in Ganztagsbetreuung dafür zu sorgen, dass insbesondere gut ausgebildete junge Frauen Beruf und Familie besser als jemals zuvor verbinden können. Das ist eine wichtige Aufgabe, die wir bewältigen wollen.
So sehr wir Internationalität brauchen, gerade in einem Unternehmen, das - wie Volkswagen - global tätig ist, so sehr muss gelten: Solange wir uns nicht ernsthaft darum bemühen, denen eine Chance zu geben, die heute wegen doppelter Belastung aus Familie und Beruf keine Chance haben, solange macht es doch keinen Sinn, über Zuwanderung von Arbeitskräften nachzudenken. Zunächst geht es darum, die eigenen zu qualifizieren und ihnen eine angemessene Chance zu geben. Das werden wir durchsetzen.
Im Übrigen wird bei der Bildungspolitik zu gelten haben: Wir brauchen nicht weniger Menschen mit höheren Abschlüssen, sondern wir brauchen angesichts der technologischen Entwicklung und der immer komplizierter werdenden Arbeitswelt mehr Menschen mit höheren Abschlüssen. Deswegen wird für mich auch in Zukunft gelten: Die Frage, ob jemand zu Deutschlands höheren und höchsten Schulen gehen darf oder nicht, darf niemals von Papas oder Mamas Geldbeutel abhängen, sondern muss ausschließlich davon abhängen, was sie oder er im Kopf hat.
Deshalb darf bei allen Notwendigkeiten, die Qualitäten in unserem Bildungswesen zu verbessern - das sind große Herausforderungen - , eines nicht aufgegeben werden: Dass auch die Kinder aus Arbeiterfamilien die gleichen Chancen wie die Kinder der Wohlhabenderen in dieser Gesellschaft haben, was den Zugang zu Bildungsinstitutionen angeht. Das Prinzip gilt. Wir müssen miteinander für dieses Prinzip streiten.
Klaus Volkert hat zu Recht darauf hingewiesen, dass ich Peter Hartz gebeten habe, mit anderen zusammen Vorschläge zu entwickeln, wie man auf dem deutschen Arbeitsmarkt noch besser als in der Vergangenheit dazu kommen kann, Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Alles, was ich von diesen Vorschlägen weiß - wir haben oft miteinander darüber gesprochen - , ist anders als das, was jetzt von interessierter Seite unter das Volk gebracht wird.
Es geht eben nicht darum, Menschen, die arbeitslos sind, Leistungen zu entziehen, sondern es geht darum, sie in Stand zu setzen, schneller wieder auf die freien Plätze zu kommen und Arbeit aufnehmen zu können, und zwar nicht im zweiten, fünften oder zehnten Arbeitsmarkt, sondern unmittelbar in der Produktion. Seine Vorstellung ist, Vermittlung schneller zu erreichen als jemals zuvor, damit aus Arbeitslosen wieder Beschäftigte werden. Das ist die Aufgabe, die der Kommission von Peter Hartz gestellt ist.
Wir werden ein Zweites leisten müssen: Wir müssen die Leistungen, die der Staat jemandem zur Verfügung stellt, der - weil kein Arbeitsplatz für ihn da ist, weil er krank ist oder aus welchen Gründen auch immer - nicht arbeiten kann, aus einer Hand gewähren. Wir müssen verhindern, dass die Leute zu sechs Ämtern gehen müssen, um zusammenzubekommen, wovon sie zu leben haben. Auch die Verzahnung von Sozialhilfe auf der einen und Arbeitslosenhilfe auf der andere Seite mit dem Ziel, Leistungen aus einer Hand zu gewähren, ist Aufgabe dieser Kommission.
Ein Drittes kommt hinzu - daran müssen auch die Beschäftigten ein Interesse haben, weil sie nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern auch Beitragszahler sind; alle, die hier sind, sind auch Beitragszahler - : Gewiss muss der Staat diejenigen, die keine Arbeit haben, fördern. Aber wir müssen auch dazu kommen, dass sie gefordert werden. Das, was an zumutbarer Arbeit abgelehnt wird, darf nicht ohne Sanktionen bleiben, wobei klar sein muss, dass man bei der Definition von Zumutbarkeit den Familienvater anders behandeln muss als den Alleinstehenden, der viel mobiler sein kann als jemand, der gerade ein Haus gebaut und für seine Kinder beziehungsweise seine Familie zu sorgen hat.
Nach diesen fairen Prinzipien werden wir die Reform des Arbeitsmarktes durchführen. Wir werden sie so gestalten, dass unser eigener Anspruch, Veränderungen, die notwendig sind, sozial gerecht vorzunehmen, dabei nicht unter die Räder kommt. Ich glaube, für eine solche Politik der sozialen Sensibilität steht auch der Name eures Arbeitsdirektors in besonderer Weise.
Ich will noch auf einen Punkt hinweisen - ich will Ihre Zeit nicht zu lange in Anspruch nehmen - , der bei Klaus Volkert auch eine Rolle gespielt hat und jeden von uns, jeden von Ihnen und jeden von euch, treffen kann. Es geht um die Frage, wie wir in Zukunft unser Gesundheitssystem organisieren wollen. Da gibt es zwei Möglichkeiten, die gegenwärtig in der Diskussion sind. Die anderen, CDU / CSU, wollen das System in Grundleistungen und Wahlleistungen aufteilen. Das klingt ganz ungefährlich. Aber das ist in Wirklichkeit ziemlich gefährlich; denn in Zukunft soll nur noch eine bestimmte, und zwar eingeschränkte Versorgung von den Kassen bezahlt werden. Wer mehr, wer vor allen Dingen teurere Therapie und Versorgung haben will, der soll das dann selber bezahlen.
Ich sage: Diesen Einstieg in die Zwei-Klassen-Medizin mache ich nicht mit. Wir wollen keine Gesellschaft, die nach dem Muster funktioniert: Wer arm ist, hat Pech gehabt und muss halt früher dran glauben. Wir werden ein Gesundheitssystem verteidigen, das in sich effizienter sein muss, aber nach dem Solidarprinzip funktioniert. Das heißt, das zur Wiederherstellung der Gesundheit medizinisch Notwendige muss von den Kassen geleistet werden, unabhängig vom persönlichen Einkommen des Kranken. Das ist das Solidarprinzip. Das muss in Deutschland von uns allen verteidigt werden.
Ich komme zum Schluss. Wer im Jahre 2000 und im abgelaufenen Jahr genau hingeschaut hat, stellt fest: Das Gesicht Europas beginnt sich zu verändern. In vielen Ländern Europas haben Konservative die Macht übernommen und in einigen Ländern haben Rechtsradikale sie unterstützt. Das verändert Europa. Ich sehe es als meine Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass Deutschland, unser Deutschland, ein Bollwerk der Sozialstaatlichkeit in Europa bleibt. Das ist die Aufgabe, die ich mir jedenfalls gestellt habe. Für diese Aufgabe bitte ich um Unterstützung all derjenigen, die sich auch auf die Fahnen geschrieben haben: Unser Land blüht dann und nur dann, wenn wirtschaftliche Prosperität und wirtschaftliche Leistungskraft mit sozialem Zusammenhalt verbunden werden. Dafür will ich auch in Zukunft arbeiten und kämpfen.