Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 25.06.2002

Untertitel: Europa und dessen Verhältnis zu Amerika in den Mittelpunkt der diesjährige Konferenz zu stellen, bestätigt das großes Interesse an Europa in Kanada und die Bedeutung des Verhältnisses zueinander. Europa steht heute vor vielen Herausforderungen. Die Antwort Europas darauf muss ein Mehr an europäischer Kooperation, ein Mehr an europäischer Integration und Handlungsfähigkeit sein.
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/80/85980/multi.htm


Frau Vizeministerpräsidentin, Herr Minister, Exzellenzen,

ich bin gern nach Montréal zu dieser Konferenz gekommen, die sich zu einer bedeutenden Wirtschaftskonferenz entwickelt hat. Sie ist ein erstrangiges Forum für wirtschaftspolitische Diskussionen und politische Gespräche insgesamt geworden. Montréal, diese Stadt, ist allemal einen Besuch wert - nicht zuletzt, weil Montréal in ganz besonderer Weise die enge kulturelle Verbundenheit Kanadas mit Europa ausdrückt. Ich denke, das ist auch der Reiz, den die Gäste dieses Forums immer wieder wahrnehmen. Ein großes Kompliment also an die Stadt, an die Region und an die Organisatoren dieser Konferenz.

Die diesjährige Konferenz beschäftigt sich mit den Entwicklungen in Europa und mit der Frage, welche Chancen durch diese Veränderung in Europa für die Beziehungen zwischen Europa einerseits und dem amerikanischen Kontinent andererseits gegeben sind. Diese Themenwahl, verehrter Herr Rémillard, bestätigt einmal mehr, dass entgegen dem, was man gelegentlich liest, in Kanada und in den Vereinigten Staaten nach wie vor ein großes Interesse an Europa besteht, und das ist insbesondere in dieser Stadt zu spüren.

Kanada misst dem Verhältnis zu Europa einen besonderen Stellenwert bei. Das ist auch erklärbar, nämlich aus der Tatsache heraus, dass Kanada bei allen ökonomischen und politischen Verbindungen zum "großen Bruder" strikt darauf achtet, dass es eine eigene und in der Tat sehr bedeutende Rolle, ökonomisch wie politisch, in der Welt spielt. Europa, das will ich sehr deutlich sagen, und Deutschland zumal können das nur begrüßen. Dem entspricht eine Einschätzung, die ich nachdrücklich unterstreichen will, dass die transatlantischen Beziehungen für beide Seiten heute ebenso wichtig sind wie in der Vergangenheit - vielleicht angesichts der neuen Herausforderungen, mit denen wir es zu tun haben, sogar noch wichtiger. Für Deutschland heißt das: Neben der europäischen Integration ist die transatlantische Verbindung die entscheidende Säule deutscher Außenpolitik.

Dies ist mein erster offizieller Besuch als deutscher Bundeskanzler in Kanada. Meine Eindrücke sind die eines sich dynamisch entwickelnden und wunderbaren Landes. Das sage ich nicht nur, weil Premier Chrétien mich fischen gelehrt hat.

Aber es kommt mir ohnehin so vor, als wäre man schon lange in enger Partnerschaft verbunden. Das betrifft nicht nur mein sehr persönliches Verhältnis zum Premierminister - der sich im Übrigen, nicht als Sozialdemokrat, jedenfalls noch nicht, an der Diskussion über "Modernes Regieren", die von Sozialdemokraten angestoßen worden ist, sehr aktiv beteiligt hat. Das zeigt übrigens, wie wenig er vorurteilsbeladen ist. Mich hat vor allen Dingen das große Interesse der kanadischen Freunde, aber nicht nur das Interesse, auch ihr Wissen über Deutschland und Europa beeindruckt. Die bilateralen wirtschaftlichen, politischen, aber auch kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Kanada sind so ausgezeichnet, man muss sie - das ist unsere gemeinsame Aufgabe - auf diesem Level halten und unter neuen Bedingungen weiter entwickeln. Das gilt übrigens nicht nur für die Zusammenarbeit auf Bundesebene, sondern auch für die Kooperation zwischen kanadischen Provinzen und deutschen Bundesländern.

Die "Team Canada" -Reise, die Premierminister Chrétien im Februar dieses Jahres mit einer großen Delegation aus Regierungschefs der kanadischen Provinzen und wichtigen Wirtschaftsvertretern nach Deutschland unternommen hat, hat diese bewährte Zusammenarbeit bestärkt; mehr noch: sie hat dieser Zusammenarbeit neue Chancen eröffnet.

Als Politiker aus Deutschland bin ich natürlich besonders an den Erfolgen interessiert, die Kanada in jüngster Zeit erzielt hat, insbesondere im Bildungswesen, das beispielhaft organisiert ist, wie internationale Studien gezeigt haben. Wie die Verantwortlichen hier in Kanada sind auch wir davon überzeugt, dass Bildung - besser: der Zugang zur Bildung - für alle, und zwar unabhängig von persönlichem Einkommen, die soziale Frage des 21. Jahrhunderts sein wird. Zu Bildung und guter Bildungspolitik gehört es, voneinander zu lernen. Das können wir, denke ich, auch auf diesem Gebiet.

Kanada spielt eine außerordentlich wichtige Rolle in der internationalen Politik. Dies zeigt nicht zuletzt der G 8-Gipfel, bei dem Kanada die Präsidentschaft inne hat und der in dieser Woche hier stattfindet. Es zeigt sich auch in der NATO, in der Kanada aufs Engste mit Europa verbunden ist. Die in Europa stationierten kanadischen Soldaten haben in der Zeit des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation einen wirklich bedeutsamen Beitrag zur Wahrung des Friedens in Europa geleistet. Speziell wir Deutsche sind dem kanadischen Volk, seinen Regierungen, dafür in besonderer Weise dankbar.

Heute engagiert sich Kanada sehr stark auf dem westlichen Balkan mit eigenen Soldaten, übrigens mit uns zusammen, und hilft dadurch mit, diese Region Europas politisch zu stabilisieren, was auch die Vorbedingung für ökonomische Stabilisierung ist.

In Afghanistan leisten kanadische Soldaten und zivile Hilfskräfte einen gewichtigen Beitrag für Frieden und für den Wiederaufbau dieses vom Krieg so geschundenen Landes. Lassen Sie mich hinzufügen - das habe ich auch dem Premierminister gesagt - , worin wir übereinstimmen:

Wir verteidigen Werte im Kampf gegen den internationalen Terrorismus auch und gerade in Afghanistan. Aus diesem Grunde unterstützen wir und haben die Regierung Karsai unterstützt. Aber die Wiedereinführung der Scharia mit allem, was das bedeutet, sind nicht die Werte, für die unsere Soldaten dort sind. Darüber muss man sich im Klaren sein, und darüber müssen sich die neu gewählten Verantwortlichen in diesem Land im Klaren sein. Kanada und Europa vertreten jedenfalls dieselben Werte und haben fast identische Einschätzungen zu fast allen Fragen der internationalen Politik. Meine Gespräche mit Premierminister Chrétien gestern in Ottawa haben das einmal mehr in den unterschiedlichsten Bereichen bestätigt.

Seit der Zeitenwende der Jahre 1989 und 1990, die uns Deutschen die Einheit wiedergebracht hat, hat sich die politische Architektur Europas entscheidend verändert. Die Europäische Union befindet sich in ihrer Geschichte in einem beispiellosen Erweiterungsprozess.

Wenn ich sage "die Europäische Union", dann meine ich die Europäische Union. Denn man darf einen Fehler nicht machen, nämlich in Bezug auf die Erweiterung von der Erweiterung Europas zu sprechen. Denn die Staaten, die beitreten wollen - die baltischen Staaten Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, später sicher auch Bulgarien und Rumänien - , sind Teil des alten Europas. Sie wurden nur durch die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges getrennt, waren aber immer Teil Europas. Es geht also um die Komplettierung und die Erweiterung der Europäischen Union und nicht um die Erweiterung Europas. Ich denke, diesen wichtigen Unterschied muss man machen, auch aus Respekt vor denen, die zu den unglaublichen kulturellen Leistungen insbesondere in Ost- und Mittelosteuropa beigetragen haben.

Derzeit laufen mit zehn mittel- und osteuropäischen Kandidatenländern sowie mit Zypern und Malta Beitrittsverhandlungen, die bis zum Ende des Jahres mit möglichst vielen Ländern abgeschlossen sein sollen. Der Beitritt dieser Länder wird die Europäische Union entscheidend verändern. Weil das so ist, muss parallel zum Erweiterungsprozess die Vertiefung, muss ein Mehr an Integration der Europäischen Union, ins Auge gefasst werden. Das heißt: Die Intensivierung der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Integration muss erheblich vorangetrieben werden.

Sichtbarster Ausdruck dieser beeindruckenden integrativen Entwicklung ist die Einführung des Euro-Bargeldes in den Ländern der Euro-Zone zu Jahresbeginn. Ich persönlich war sehr überrascht von dem Maß an Enthusiasmus, mit dem in allen Ländern des Euro-Blocks die Einführung aufgenommen worden ist, gerade übrigens in Deutschland. Das zeigt, dass die europäische Idee tief in den Köpfen und Herzen unserer Menschen verankert ist.

Die fortbestehende Bereitschaft der USA und Kanadas, als Allianzpartner in Europa engagiert zu bleiben, war, ist und wird eine entscheidende Voraussetzung für die Stabilität unseres Kontinents bleiben. Mit der Erklärung von Rom vom 28. Mai 2002 hat die NATO den Beziehungen zu Russland eine neue Qualität gegeben und damit eine wahrhaft historische Chance ergriffen.

Ich will hinzufügen: Wenn hier vor fünfzehn Jahren irgendjemand aus Europa oder woher auch immer als verantwortlicher Politiker prophezeit hätte "Fünfzehn Jahre später wird Russland faktisch Mitglied der NATO sein", ich glaube, er wäre zu einem Fantasten erklärt worden.

An diesem Punkt kann man sehen, was sich glücklicherweise in der Welt bewegt hat und welche enormen politischen und als Folge dessen auch ökonomischen Chancen sich damit verbinden. Sie werden verstehen, wenn ich sage: Wenn irgendeiner der heute verantwortlich handelnden Politiker diese Chance nicht ergriffe, dann flöhe er vor seiner Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Das darf, denke ich, keiner tun. Deswegen ist die Erweiterung der Europäischen Union einerseits und die Tatsache, dass wir andererseits engste Beziehungen zu Russland auf allen Gebieten haben entwickeln können, eine der großen Chancen in der Weltpolitik.

Dabei ist bemerkenswert und es freut mich sehr, dass sowohl der amerikanische Präsident George W. Bush bei seinem Besuch in Berlin am 23. Mai als auch einige Monate zuvor der russische Präsident Putin in Berlin vor dem Deutschen Bundestag im alten Reichstagsgebäude fast übereinstimmend erklärt haben, dass der Kalte Krieg nun beendet sei und in den amerikanisch-russischen Beziehungen ein neues Kapitel enger Partnerschaft geschrieben werden müsse, was seitdem auch geschieht.

Sie werden verstehen, dass gerade Deutschland an einer solchen Entwicklung ein besonderes Interesse hat. Denn wir haben von Anfang an auf die Demokratisierungsbemühungen Putins in Russland, die erfolgreich sind, gesetzt und wollten natürlich ohne unsere Partner in Europa und vor allen Dingen auch im transatlantischen Bündnis nicht in eine Sonderrolle kommen. Uns freut, dass wir es auch nicht sind. Angesichts neuer Bedrohungen und Herausforderungen müssen in den nächsten Jahren aus meiner Sicht folgende Ziele im Mittelpunkt der deutschen und der europäischen Politik stehen:

Erstens: Die Europäische Union muss auch unter veränderten internationalen Rahmenbedingungen durch die transatlantische Klammer eng mit den USA und Kanada verbunden bleiben.

Zweitens: Russland muss auf seinem Kurs der Öffnung gegenüber dem Westen bestärkt werden. Niemand darf diese historische Chance verspielen. Das wird sich auch in Kananaskis wieder erweisen müssen.

Drittens: Die Europäische Union steht institutionell vor einer doppelten Herausforderung, nämlich der Erweiterung einerseits und der Vertiefung der Integration anderseits. Im Kern geht es darum, dass die auf 25 oder gar 27 Staaten, möglicherweise sogar noch mehr, angewachsene Union auch künftig politisch führbar bleibt. Denn mit dem gegenwärtigen Institutionengefüge und der Zuordnung der Institutionen in Europa zueinander wäre das wohl schwer möglich. Übrigens sollte sie führbar bleiben zum wirtschaftlichen, aber auch zum sozialen und kulturellen Nutzen der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union.

Viertens: Die Europäische Union muss die bereits existierenden Instrumente zur Gewährleistung der äußeren und inneren Sicherheit entschlossen weiterentwickeln, um neuen Bedrohungen wie dem internationalen Terrorismus auch als ein einheitlich auftretendes Europa wirksam begegnen zu können.

Kein Nationalstaat - davon bin ich überzeugt - wird für sich allein diese Herausforderung bewältigen können. Das müssen viele einsehen und sich entsprechend verhalten. Ein Mehr an Handlungsfähigkeit der Europäischen Union ist im Übrigen auch für die Balance der transatlantischen Beziehungen von ausschlaggebender Bedeutung. Die transatlantischen Beziehungen haben zu gewissen Zeiten nicht unter der Dominanz der Amerikaner gelitten, sondern darunter, dass Europa sich nicht einig genug war. Man darf diesen Vorwurf nicht falsch erheben. Es gibt nicht zu viel Amerika, sondern bislang zu wenig Europa. Das zu ändern, ist unsere eigene Verpflichtung. Jammern und Klagen über Andere hilft überhaupt nicht. Europa muss in Zukunft eine noch aktivere Rolle in der internationalen Politik spielen.

Fünftens: Die Europäische Union muss auch künftig durch ein umfassendes Programm der Modernisierung die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen garantieren, damit sich die europäische Wirtschaft und die europäischen Gesellschaften im globalisierten Wettbewerb behaupten können. Genau dabei tragen Europa und Amerika gemeinsam Verantwortung für die Entwicklungschancen der Welt. Diese Verantwortung müssen wir gemeinsam, zum Beispiel durch weitere Schritte zur Liberalisierung des Welthandels, wahrnehmen. Aber das muss dann auch gelten, und zwar in allen Bereichen. Und das darf nicht nur in Reden gefordert werden, sondern dann muss man sich zum Beispiel in der Landwirtschaft oder auch beim Stahl entsprechend verhalten.

Ich möchte noch einige Punkte ein wenig näher beleuchten. Die Frage der institutionellen Struktur der Europäischen Union sowie die Verbesserung ihrer Instrumente im Bereich der äußeren und inneren Sicherheit stehen im Zentrum der Arbeit des Konvents, den der frühere Präsident Frankreichs, Valéry Giscard d'Estaing, leitet und der Vorschläge machen soll. Dabei geht es um die Zuordnung der Institutionen in Europa zueinander, um dieses größer gewordene Europa politisch führbar zu halten. Das heißt zunächst einmal: Europa braucht eine starke Exekutive, die handlungsfähig ist. Ob man sie Regierung, Kommission oder sonst wie nennt, ist dabei nicht wichtig. Denn nicht die Begrifflichkeiten sind wichtig, sondern die Inhalte. Wir brauchen eine starke Exekutive.

Aber wenn Sie in einer Demokratie, wie immer Sie das Staatengebilde bezeichnen, eine starke Exekutive haben, brauchen Sie eine starke Kontrolle der Exekutive, also ein Parlament, das wirklich Rechte hat und die Rechte auch gegenüber einer starken Exekutive wahrnimmt.

Das Dritte ist: Der Konvent wird entscheiden müssen, wie die Zuordnung der Nationalstaaten zu den europäischen Institutionen oder der Institution der Nationalstaaten zu den europäischen Institutionen sein soll. Das betrifft also die Arbeitsweise des Europäischen Rates und der Fachministerräte, so weit es sie in Zukunft noch gibt. Das muss in eine Balance gebracht werden, und das ist die Aufgabe des Konvents.

Parallel dazu wird es um eine Art Verfasstheit der Europäischen Union gehen, also auch ein juristisches Gebilde, das die Grundlage für die operative Politik Europas liefert. Wir haben aus früherer Zeit eine Grundrechtscharta installiert; die man verbindlich machen kann. Dann haben Sie den Grundrechtsteil einer Verfassung. Wenn Sie das Institutionengefüge und die Arbeit im Institutionengefüge geregelt haben, haben Sie den zweiten Teil einer Verfassung. Und wenn Sie dann noch die Kompetenzen regeln, also das, was Sache Europas werden soll, etwa in der Wirtschaft und Finanzpolitik der einheitlichen Währung wegen, und das, was Sache der Nationalstaaten werden oder bleiben soll, dann haben Sie den dritten Teil einer Verfassung, der die Kompetenzen der unterschiedlichen Gebietskörperschaften zueinander betrifft. Dann bleibt im Grunde nur Arbeit an der Finanzierung dieses neuen Europas. Dann haben Sie den vierten und letzten Teil einer Verfassung, und die kann man auch ruhig Verfassung nennen. Das wäre dann die Basis für die Arbeit der Institutionen und für die Zuordnung der Institutionen zueinander.

Ich hoffe, dass wir das hinbekommen. Das soll auf einer Regierungskonferenz im Jahre 2004 beschlossen werden. Ich gehe davon aus, dass der Konvent entsprechende Vorschläge dafür vorlegt.

Übrigens: Nur wenn das klar ist, werden wir in einem längeren Zeitraum Europa als Idee und Wirklichkeit auch in den Köpfen und Herzen der Menschen verankern können. Denn wir haben in der Tat das Problem, dass wir an einem Mangel an Transparenz in den Entscheidungen leiden. Und ein Mangel an Transparenz heißt immer Undurchschaubarkeit für die Bürgerinnen und Bürger und bedeutet nicht mehr, sondern weniger Legitimation für europäische Politik. Ich denke, auch das werden wir miteinander überwinden müssen.

Der Konvent muss sich darüber hinaus mit zwei Bereichen befassen, in denen die Europäische Union nicht nur nach meiner Auffassung, sondern auch nach Auffassung der großen Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger mehr Aufgaben übernehmen muss, nämlich in der inneren und äußeren Sicherheit.

Erstens: Die Ereignisse des 11. September haben uns vor Augen geführt, wie neu und überraschend die Herausforderungen an die Zivilisation geworden sind. Die Privatisierung von Gewalt bei terroristischen Gruppen ist eine Herausforderung, auf die die Staatengemeinschaft eine Antwort finden muss, und das im Innern wie nach außen. Im Bereich der inneren Sicherheit arbeiten wir daran, mittelfristig eine Grenzpolizei in Europa aufzubauen, den Ausbau von Europol zu einer operativen europäischen Polizei voranzutreiben sowie exekutive Befugnisse für die Justizorgane in Europa auf einer gemeinsamen Basis zu schaffen.

Zweitens: Auch im Bereich der äußeren Sicherheit plädiere ich für eine weit reichende Europäisierung. Diese sollte sich auf den militärischen Bereich, auf den Bereich der Rüstungskooperation, aber natürlich auch auf die übrigen Felder der Außenpolitik, also etwa die Diplomatie, erstrecken. Dadurch schaffen wir die Voraussetzungen für ein verstärktes europäisches Engagement in der internationalen Politik.

Ich will noch einige Bereiche nennen, in denen Europa und Kanada besonders eng zusammenarbeiten, was beide Seiten sehr zufrieden macht. Ich habe zum Beispiel vor kurzem die afghanische Hauptstadt Kabul besucht. Für mich war beindruckend, dass es vor allem die Existenz der internationalen Schutztruppe ist, die den Menschen dort eine wirkliche Perspektive und damit eine Zukunft gibt.

Diese Erfahrung hat mich darin bestärkt, dass es richtig war, dass sich Deutschland zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl im Kosovo als auch in Mazedonien und jetzt im Rahmen der internationalen Schutztruppe in Afghanistan militärisch beteiligt hat. Das war nicht einfach in unserer Bevölkerung zu erklären, die Derartiges nicht gewohnt war. Aber es war notwendig.

Übrigens: In diesem Zusammenhang beeindruckt mich das kanadische Engagement in Afghanistan sehr, weil es zeigt, dass man Verantwortung übernimmt - ähnlich wie wir Deutschen uns der Verantwortung stellen. In dem Zusammenhang berührt jeden von uns der tragische Tod von kanadischen und deutschen Soldaten. Unser tief empfundenes Mitgefühl gilt den Familien und Angehörigen.

Ein weiterer Bereich, der durch ein besonders großes Einvernehmen zwischen Europa und Kanada gekennzeichnet ist, sind die Vereinten Nationen. Kanada spielt dort eine wichtige Rolle. Wir versuchen, unsere Rolle zu spielen. Wir stimmen hinsichtlich der zentralen Bedeutung der Weltorganisation für die internationale Politik und für die Weiterentwicklung des Völkerrechts überein. Für beide, Kanada wie Deutschland, sind und bleiben die Vereinten Nationen die einzige Organisation, die Forum, aber auch Entscheidungsgremium zur Legitimation von Lösungen in der internationalen Staatengemeinschaft ist.

Auch auf einem anderen Feld der internationalen Politik hat Kanada eine herausragende Rolle gespielt. Ich meine die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs, der einen entscheidenden Beitrag zur Herstellung von Rechtssicherheit in der Welt leisten wird. Wir alle haben Anlass deutlich zu machen, dass endlich Schluss damit sein muss, dass Verstöße und schwerste Verbrechen gegen das Völkerrecht straflos bleiben.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben sich beim Frühjahrsgipfel 2000 in Lissabon ein sehr ehrgeiziges Ziel gesetzt, Europa bis zum Ende des Jahrzehnts zu einem der dynamischsten Wirtschaftsräume der Welt auszubauen. Durch das dort vereinbarte Maßnahmenpaket soll die Europäische Union noch besser auf die Globalisierung vorbereitet werden. Dass andere Regionen, allen voran die NAFTA, diesen produktiven Wettstreit annehmen werden, davon gehen wir aus, und davor haben wir auch keine Angst, weil bekanntlich Konkurrenz das Geschäft belebt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Integration der Finanzmärkte, das Internet, E-Commerce sowie die Liberalisierung der Energiemärkte.

Ich war gerade bei Bombardier. Auch dort kann man es sehen: Die klassischen industriellen Bereiche dürfen der New Economy nicht geopfert und sollten auch deswegen nicht vernachlässigt werden. Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die man gegenwärtig auch in der Weltwirtschaft machen muss.

Einen wichtigen Punkt möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen: Europa ist durch ein spezifisches Zivilisations- und Gesellschaftsmodell geprägt - ein Modell, das durch die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten an den erarbeiteten Werten, an den Errungenschaften in der Gesellschaft und an den Entscheidungen der Gesellschaft gekennzeichnet ist. Die Wertvorstellungen, die diesem Modell zu Grunde liegen, unterscheiden sich - das ist jedenfalls mein Eindruck - nur wenig von den Wertvorstellungen, die in der kanadischen Gesellschaft gelebt werden. Bei der notwendigen Modernisierung unserer Wirtschaft müssen wir, so denke ich jedenfalls, immer auch die Bedürfnisse der Menschen im Auge behalten und dürfen deren Bedürfnisse nicht übersehen. Anderenfalls würden wir Begabungen, Engagement, aber auch Legitimationen für eine strikte und notwendige Modernisierungspolitik verlieren.

Ich habe Ihnen einige Schwerpunkte der deutschen und europäischen Politik der nächsten Jahre genannt. Die Antwort Europas auf die zahlreichen Herausforderungen muss ein Mehr an europäischer Kooperation, ein Mehr an europäischer Integration und ein Mehr an europäischer Handlungsfähigkeit sein. Europa muss und wird sein gewachsenes Gewicht aber in engem Schulterschluss mit seinen transatlantischen Partnern, insbesondere mit den Vereinigten Staaten und Kanada, in die Weltpolitik einbringen.

Ich sage es noch einmal: Die vor uns liegenden Probleme können von keinem Staat - und sei er noch so groß, wirtschaftlich noch so mächtig und politisch noch so bedeutsam - im Alleingang gelöst werden.

Diese Konferenz von Montréal wird viele der aufgeworfenen Fragen behandeln. Ich bin sicher, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass Sie weiterführende interessante Debatten haben werden. Das ist der Grund, warum ich Ihrer Konferenz einen vollen Erfolg wünsche und mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanke.