Redner(in): Frank-Walter Steinmeier
Datum: 01.07.2002

Untertitel: Steinmeier: "Der Bundeskanzler befindet sich noch auf dem Rückweg aus Japan und hat mich gebeten, heute an seiner Stelle die 40-jährige Tätigkeit der Stiftung Wissenschaft und Politik zu würdigen. "
Anrede: Sehr geehrter Herr Hartmann, sehr geehrter Herr Dr. Bertram, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/74/86974/multi.htm


der Determinismus in der Wissenschaft ist uns schon vor Jahren abhanden gekommen! Und er ist leider nicht ersetzt worden durch die Gabe der Prophetie, auch nicht bei einer so vorausschauenden Institution wie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Insofern ist doppelt entschuldigt, dass bei Festsetzung des heutigen Termins niemand vorausgeahnt hat, dass Ihre Jubiläumsfeier heute "on the day after" fällt.

Gleichwie - der von uns Kleingläubigen unvermutete Einzug der Fussballnationalmannschaft ins Finale hat uns um den Hauptredner des heutigen Abends gebracht.

Der Bundeskanzler befindet sich noch auf dem Rückweg aus Japan und hat mich gebeten, heute an seiner Stelle die 40-jährige Tätigkeit der SWP zu würdigen.

Dies tue ich um so lieber, als ich mich der Stiftung und Ihnen, sehr verehrter Herr Bertram, als vielfältiger Nutznießer Ihrer Expertise und natürlich auch als stellvertretender Vorsitzender des Stiftungsrates in besonderer Weise verbunden fühle.

Ein Jubiläum ist ein fröhliches Ereignis, ein 40-jähriges allemal. Als solches war es gedacht und geplant. Und dennoch wird es verknüpft sein und bleiben mit dem 11. September 2001. Sie alle werden sich daran erinnern, dass am 11. September des vergangenen Jahres die feierliche Einweihung Ihres neuen Forschungsinstituts vorgesehen war. Während der Sitzung des Stiftungsrats ereigneten sich die schrecklichen Terroranschläge in New York und Washington. Die Feierstunde wurde abgesagt. Der 11. September hat die Welt verändert. Der Satz ist oft gesagt; und dennoch nicht wirklich im Bewusstsein aller!

Wer - wie viele von Ihnen - mit der Planung, Durchführung oder auch nur Teilnahme an internationalen Großereignissen zu tun hat, weiß, was gemeint ist, wenn ich sage: Die Folgewirkungen der schrecklichen Terroranschläge sind auch heute, mehr als neun Monate danach, nicht annähernd vollständig abzuschätzen.

Auf die Sicherheitspolitik der Atlantischen Allianz hatten die Anschläge des 11. September bereits erhebliche Auswirkungen. Die NATO hat erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall festgestellt. Russland wird seit dem NATO-Russland-Gipfel von Rom als gleichberechtigter Partner bei einer Reihe wichtiger Themen in die Arbeit der Allianz einbezogen. Das Thema Terrorismusbekämpfung steht ganz oben auf der internationalen Tagesordnung; übrigens auch in der Kommunikation mit Staaten, mit denen uns partnerschaftliche Erörterung aktueller Fragestellungen in der Vergangenheit - zurecht - schwer fiel.

Und wir können der Frage nicht ausweichen, wie wir den Frustrationen, dem Gewaltpotential, den Fundamentalismen unterschiedlichster Prägung und dem augenfälligen Demokratiedefizit in einigen Ländern des arabisch-islamischen Krisenbogens begegnen wollen. Viel zu lange haben wir uns in Deutschland der trügerischen Hoffnung hingegeben, dass Krisen und Konflikte in vermeintlich fernen Weltgegenden unseren Alltag nicht wirklich betreffen - oder dass andere, insbesondere die USA, dort für Stabilität und Sicherheit zuständig sind. Diese Haltung können wir uns - Sie alle wissen das - nicht länger gestatten. Wir können uns unserer gewachsenen Verantwortung nicht entziehen. Dabei werden wir uns auch an den Gedanken gewöhnen müssen, dass neben Krisenprävention und Krisenmanagement, wenn nötig, auch militärische Mittel zur Sicherung von Frieden und Stabilität eingesetzt werden müssen.

Krisenvermeidung verlangt umfassende Strategien, die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Elemente sowie ein starkes Nachhaltigkeitsmoment einschließen. Nicht alles vom dazu notwendigen Wissen ist in den Akten schon vorhanden oder in den Köpfen der aktuell Verantwortlichen gespeichert und abrufbar. Das gilt erst recht in Situationen, wo Krisenvermeidung versagt, wo neue Entscheidungssachverhalte mit hohem Entscheidungsdruck auf die in anderen Koordinationssystemen agierende Politik zulaufen.

Kosovo war ein solcher Fall. Anspruchsvoller noch, weil europafern und in uns fremden Kulturkreisen, die Anforderungen Deutschlands für Afghanistan oder am Horn von Afrika.

Mit neuer Dringlichkeit stellt sich - neben vielen anderen - die Frage: Was erwartet die Bundesregierung, namentlich das Bundeskanzleramt, für das ich spreche, von einem Austausch mit einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik?

Ich will versuchen, auf diese Frage eine dreifache Antwort zu geben.

Erstens: Zunächst, und das sehr vordergründig: Die Bundesregierung erwartet die Bereitstellung fundierter Expertise. Außen- und sicherheitspolitisches Handeln findet in einem sich rasch wandelnden internationalen Umfeld statt, in dem alte Orientierungsmuster - sowieso die aus der Architektur des Ost-West-Konflikts - weitgehend ihre Relevanz eingebüßt haben.

Das, was man darüber hinaus die alte Unübersichtlichkeit nennen könnte, nämlich die partielle Unzugänglichkeit fremder Länder, Kulturen und Weltanschauungen, wird zunehmend überlagert durch eine neue Unübersichtlichkeit, die die Orientierung erschwert.

Es wird nicht nur mir so gehen, dass das Auftreten einer Vielzahl neuer außenpolitischer Akteure, die in der Vergangenheit keine oder nur eine marginale Rolle gespielt haben, eingeübte, ja sogar bewährte Bewertungs- und Reaktionsmuster untauglich erscheinen lässt. Manche sehen das Ende des Nationalstaats ausgerufen, wovon ich nicht ausgehe.

Aber eines ist ja richtig: Das Zusammenwachsen der Welt, die revolutionären Veränderungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie im Transportsektor lassen die Welt zum "globalen Dorf" schrumpfen, in dem uns potentiell alles angeht, weil uns potentiell alles betreffen kann.

Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund alter und neuer Konflikte und Gefahrenherde sowie einer weiterhin wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.

In einem solchen Umfeld braucht die Bundesregierung mehr denn je präzise aufbereiteten und fundierten wissenschaftlichen Rat, der es ihr erleichtert, aus dem Spektrum möglicher Entscheidungsoptionen die kurzsichtigen, einseitigen, untauglichen, falschen und weniger guten möglichst frühzeitig auszusondern. Natürlich bewegt sich eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik in einem Kontext, der schon mehrfach besetzt ist.

Informationen werden in den zuständigen Fachressorts verdichtet und analytisch aufbereitetet. Sie erreichen uns über das Netz unserer Auslandsvertretungen, über unsere Dienste, über den Austausch mit befreundeten Regierungen und natürlich auch über die Medien.

Aber eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung hat doch einen beträchtlichen komparativen Vorteil: Die Sachkunde ihrer Mitarbeiter hat eine spezifische Qualität, die sich aus der zumeist ein ganzes wissenschaftliches Leben währenden Beschäftigung mit einem bestimmten Thema speist. Gerade im Nachgang zum 11. September hat sich die Expertise der Mitarbeiter der SWP als unverzichtbar erwiesen. In den darauf folgenden Tagen und Wochen haben wir enorm von diesem eindrucksvollen Potential profitiert.

Ich erinnere mich gern an die zum Teil auch ganz - kurzfristig einberufenen Runden - wir haben gerade heute eine nächste zum Thema Irak vereinbart - , in denen ich mich mit Experten der SWP, des Auswärtigen Amtes und des Bundesnachrichtendienstes zu Fragen wie Islamismus, Iran, biologische Kampfstoffe u. ä. beraten habe. Doch es geht, und das ist der zweite Aspekt, der mir wichtig ist, um weit mehr als um die rasche und zuverlässige Mobilisierung von Expertise zu Einzelfragen der Außen- und Sicherheitspolitik.

Sie alle wissen: In der Außen- und Sicherheitspolitik ist Kontinuität des Regierungshandelns eine besondere Verpflichtung. Sie sichert Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit - Tugenden, die auf diesem Terrain schlechterdings unverzichtbar sind.

Keine Partei, die in der Regierungsverantwortung steht ( spätestens dann! ) oder stand, stellt die zentralen Grundorientierungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik in Frage: Europäische Integration, Pflege des transatlantischen Verhältnisses und Stärkung multilateraler Kooperation sind und bleiben die tragenden Elemente. Hier gibt es einen breiten und tragfähigen Konsens in der Gesellschaft und quer durch alle politischen Parteien. Infolgedessen sind für den politisch Handelnden die Handlungsspielräume bei der Gestaltung der Außenpolitik nicht uferlos. Das ist auch gut so, denn es ist die Konsequenz der festen Verankerung Deutschlands in Europa, im westlichen Bündnis und in den Vereinten Nationen. Diese Situation birgt Chancen und Risiken zugleich. Außenpolitisches Handeln ist einerseits vom Zwang zur permanenten Selbst-Vergewisserung über strategische Grundoptionen weitgehend befreit. Dennoch wäre aus meiner Sicht es ein Trugschluss zu meinen, dass eine solche Selbst-Vergewisserung gegenstands- oder nutzlos wäre. Konzeptionelles Denken hat seinen Ort und seine Berechtigung. Nehmen Sie als Beispiel nur die Frage, wohin ein erweitertes Europa steuert, wie wir die Zukunft Europas jenseits der Auseinandersetzungen über die Agrarmarktordnung gestalten wollen und auf welche Weise wir sicherstellen können, dass Europa international handlungsfähig wird.

Die Aufgeregtheiten, die immer dann entstehen, wenn ein politischer Entscheidungsträger sich öffentlich hierzu äußert, demonstrieren in sinnfälliger Weise die Grenzen und Zwänge, denen handelnde Politik ausgesetzt ist. Und hier kann eine wissenschaftliche Forschungseinrichtung ihren zweiten großen komparativen Vorteil einsetzen: Ihre Unabhängigkeit - vom Tagesgeschäft, vom staatstragenden Gestus und von protokollarischen Rücksichtnahmen.

Und ein dritter Aspekt ist mir wichtig, wobei ich gleich darauf hinweisen will, dass dies weniger eine Erwartung, als vielmehr eine Hoffnung ist: Regierungshandeln, das haben wir von Max Weber gelernt, vollzieht sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist gebunden daran, auf welche Weise die Ausübung von Herrschaft organisiert ist. Im Auge hatte Weber damit weniger den gewaltenteiligen Prozess zwischen Legislative und Exekutive, sondern vielmehr die Entscheidungsvorbereitung und -findung innerhalb der Exekutive, die, um ihn selbst zu zitieren, von "festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung" als grundlegenden Organisationsprinzipien geprägt ist.

Das gilt natürlich auch für das Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik, auch wenn das nicht immer so offensichtlich ist.

Modernes Regieren heißt andererseits aber auch und vor allem: Ein Klima des Dialogs und des Diskurses zu schaffen, in dem Politik nicht nur gemacht, sondern auch begründet wird. Es ist klar, dass dieses diskursive Element in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den soeben genannten Prinzipien der Organisation eines hierarchischen Apparats steht.

Ich denke sicherlich nicht daran, die Staatssekretärsrunden künftig als herrschaftsfreien Diskurs zu organisieren. Aber wir brauchen Dialog und Diskurs, wenn wir Politik machen wollen, die sich nicht im Verwalten von Dossiers erschöpft. Hierzu ist ein kontinuierlicher Austausch mit der Wissenschaft unverzichtbar. Denn ein Wissenschaftler ist grundsätzlich in diskursiv strukturierten Kommunikationszusammenhängen zuhause -- der dritte komparative Vorteil, den er gegenüber einem in einem Apparat eingebundenen Regierungsvertreter hat. Und ich bin davon überzeugt, dass wir, auch was das geistige Klima in dieser Republik angeht, von einem intensivierter Dialog mit der Wissenschaft profitieren können.

Berlin bietet dazu gute Voraussetzungen. Nicht nur im engeren Sinne universitär ( Humboldt-Rede ) , sondern neben SWP auch durch WZB und Wissenschaftskolleg. Die Möglichkeit zu sehen, heißt noch nicht, sie zu nutzen. Natürlich weiß ich, dass der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik vielerorts verbesserungsbedürftig ist. Das ist eine Aufgabe, der sich beide Seiten stärker als bisher widmen müssen.

Zunächst einmal bedarf dieser Dialog, das ist meine feste Überzeugung, der Verstetigung. Das könnte wechselseitige Verständigungsschwierigkeiten ausräumen helfen: Die zuweilen beklagte Irrelevanz der Forschungsergebnisse ließe sich verringern, wenn größere Klarheit über die Erwartungen der Rezipienten hergestellt würde.

In einer Situation, in der Aufmerksamkeit eine knappe Ressource ist, müssen wir als politisch Handelnde uns aber auch mehr Zeit zum Zuhören nehmen. Wissenschaftliche Politikberatung kann nur funktionieren, wenn wir Bereitschaft aufbringen, jenseits der Bewältigung des drängenden operativen Tagesgeschäfts Orientierungen und Optionen für mittel- und langfristige Politik zu diskutieren.

Klar ist, dass wir dabei nicht fertige Antworten und Konzepte erwarten können. Umgekehrt muss auf der Seite der Wissenschaft das Verständnis wachsen, dass wissenschaftlicher Rat die Entscheidung nicht zu ersetzen vermag. Wiederum in den Worten Max Webers: "... die letzten Stellungnahmen des Wollens können mit den Mitteln der Wissenschaft nicht entschieden werden..."

Die Stiftung kann in diesem Jahr auf 40 erfolgreiche und außen- und sicherheitspolitisch bewegte Jahre zurückschauen.

Die SWP hat sich als konstruktiv-kritischer Wegbegleiter der außenpolitischen Entscheidungsträger in Bundesregierung und Bundestag ein hervorragendes Renommee erworben und wird im Kreis der internationalen wissenschaftlichen Institute sehr geschätzt.

Im Jahre 1965, als im Deutschen Bundestag der Beschluss gefasst wurde, der 1962 privat gegründeten Stiftung beizutreten, startete man mit einer Zuwendung in Höhe von 250.000 DM. Ein Betrag, der heute nahezu die achtzigfache Höhe hat!

Gerade in einer Zeit knapper öffentlicher Kassen ist das ein untrüglicher Indikator für die Wertschätzung, die Bundesregierung und Bundestag der Notwendigkeit wissenschaftlich fundierter Politikberatung beimessen.

Ich freue mich besonders darüber, dass die Stiftung Ihr Jubiläum heute in Berlin begeht. Mit dem Umzug der SWP von Ebenhausen nach Berlin im letzten Jahr wurde die räumliche Trennung vom Regierungssitz beendet, die seit ihrer Gründung im Jahre 1962 bestand.

Es mag seinerzeit gute Gründe für die räumliche Trennung von SWP und Bundesregierung gegeben haben. Aber die Nähe zu den außenpolitischen Akteuren macht Politikberatung präsenter, und damit relevanter. Deshalb habe ich mich von Anfang an für den Umzug eingesetzt.

Der ging einher mit einer Neustrukturierung der politikberatenden Forschung -insbesondere der Forschung für die Außen- und Sicherheitspolitik.

Ergebnis der Neustrukturierung ist das neue Forschungsinstitut der SWP mit dem Namen "Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit". Dieses wird künftig mit 150 Mitarbeitern und einem Jahresetat von rund 10 Mio. Euro das größte Forschungszentrum dieser Art in Europa sein.

Mit der gelungenen Integration von Aufgaben und Mitarbeitern des Kölner "Bundesinstituts für internationale und ostwissenschaftliche Studien" sowie der "Abteilung Gegenwartskunde" des Münchener "Südost-Instituts" konnten in den vergangenen Jahren erhebliche Synergieeffekte und ein ansehnlicher Konsolidierungserfolg erzielt werden.

Und zwar ohne den, von Kritikern dieser Reform befürchteten, Stellenabbau im Wissenschaftsbereich. Die Neustrukturierung findet daher auch in Fachkreisen große Anerkennung.

Ich weiß, dass es manchen nicht leichtgefallen ist, den Schritt nach Berlin zu machen. Ich hoffe aber, dass sie ihn nicht bereut haben. Ich jedenfalls freue mich, dass ich auf diese Art über einen kurzen Draht zur SWP verfüge und verspreche Ihnen, ihn auch in den nächsten Jahren intensiv zu nutzen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, sage herzlichen Glückwunsch, auf weiterhin gute Zusammenarbeit.