Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 04.07.2002

Untertitel: In seinem Redebeitrag vor dem Deutschen Bundestag zur Änderung des Stasiunterlagen-Gesetzes bezeichnete Staatsminister Rolf Schwanitz die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit als bleibenden Auftrag im wiedervereinigten Deutschland.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/73/87573/multi.htm


zum TOP: Änderung des Stasiunterlagen-Gesetzes Der Abgeordnete Büttner von der CDU / CSU-Fraktion kritisierte in seinem Redebeitrag zur zweiten Lesung des Änderungsgesetzes zu den Stasi-Unterlagen in der vergangenen Woche den vielstimmigen Chor, der nunmehr seit eineinhalb Jahren die Diskussion um die Nutzung der Stasi-Akten begleitet.

Nicht hingewiesen hat er dabei auf die interessanten Ausführungen des Kanzlerkandidaten der Union, der sich zu Beginn diesen Jahres in der Super Illu ( Nr. 13/2002 ) zu seinen Vorstellungen über den weiteren Umgang mit den Stasi-Unterlagen geäußert hat. Auf die Frage danach, ob man die Stasi-Verbrechen weiter aufarbeiten solle oder eher ein Schlussstrisch gezogen werden müsste, antwortete Herr Stoiber: Ich glaube, wir sind heute noch nicht soweit. Aber der Zeitpunkt wird sicherlich kommen, wo man sich einigt, die Stasi-Akten zu schließen. Wenn ich Verantwortung trage, bin ich gern bereit, gegen Mitte der nächsten Legislaturperiode darüber eine Generaldebatte anzustoßen."

Da wundert es nicht, wenn Kollege Büttner selbst letzte Woche dafür wirbt, etwa Mitte der nächsten Legislaturperiode "endgültige Regelungen für die Endlagerung des Stasiaktenbestandes zu treffen".

Diese Ankündigungen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und gerade die Menschen in Ostdeutschland, die sich vor allem durch friedliche Revolution die Öffnung der Stasiakten erkämpften, müssen wissen, wohin die Reise gehen soll. Auch darüber wird übrigens am 22. September 2002 abgestimmt und die Sozialdemokraten werden gemeinsam mit Bündnis 90 / Die Grünen alles unternehmen, dass ein solcher Schlussstrich unterbleibt.

Dieses fünfte Änderungsgesetz zu den Stasiunterlagen ist notwendig geworden, weil das Bundesverwaltungsgericht im Ergebnis der Klage von Helmut Kohl eine restriktive Auslegung des Paragraphen 32 vorgenommen hat. Anders als in den vergangenen zehn Jahren würden ohne Gesetzesänderung Unterlagen von Personen der Zeitgeschichte und Amtsinhabern in Ausübung ihres Amtes zu Aufarbeitungszwecken faktisch nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie könnten nur noch mit deren ausdrücklicher Einwilligung für die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes verwendet werden. Damit stünde eine der zentralen Aufgabenbereiche des Stasiunterlagen-Gesetzes faktisch vor dem Aus. Die Fraktionen von SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP haben sich nach schwierigen Gesprächen und Verhandlungen darauf verständigt, durch eine gemeinsame Änderung des Stasiunterlagen-Gesetzes für Klarheit zu sorgen und die weitere Aufarbeitung möglich zu machen.

Diese Aufarbeitung ist nicht nur ein Anliegen einzelner "wilder Bürgerrechtler", geschichtsbewusster Menschen oder betroffener Personen. Anlässlich der zehnjährigen Wiederkehr des Inkrafttretens des Stasiunterlagen-Gesetzes im vergangenen Jahr äußerte sich die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts zum Stellenwert der Aktennutzung für Aufarbeitungszwecke folgendermaßen: ... dieses Wissen ist ein Garant für den Fortbestand einer zivilisierten Gesellschaft. Die weiterhin zu entschlüsselnde Wirkungsweise des Staatssicherheitsdienstes als ein Instrument der Diktatur ist ein notwendiger Kontrastbezug für die freiheitliche Demokratie."

Wir brauchen diese Aufarbeitung also nicht nur zum Zwecke der Strafverfolgung, um Schicksale aufzuklären, um Opfer zu rehabilitieren und die Vergangenheit zu erhellen. Wir brauchen diese Aufarbeitung vor allem deshalb, weil sie uns und unseren Nachkommen wichtige Anhaltspunkte für Wertorientierungen in unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung schafft. Deshalb ist die Notwendigkeit der Aufarbeitung auch keine Frage von aktueller Stimmung, Mode oder Zeitgeist. Sie ist in diesem Sinne bleibender Auftrag im wiedervereinigten Deutschland aus unserer gemeinsamen Geschichte von Teilung und Diktatur. Hierzu haben sich die Bundesrepublik Deutschland und die DDR mit der gemeinsamen Vereinbarung vom 18. September 1990 unmittelbar vor der staatlichen Einheit verpflichtet und dies wird vom gesamtdeutschen Gesetzgeber durch das Stasiunterlagen-Gesetz und seine heutige Novellierung erfüllt. Darum geht es, um nicht mehr und nicht weniger.

Mit Verabschiedung des heutigen Änderungsgesetzes werden künftig wieder personenbezogene Informationen über Personen der Zeitgeschichte und Inhaber politischer Funktionen oder Amtsträger zur Aufarbeitung der Tätigkeiten des Staatssicherheitsdienstes nutzbar gemacht. Dabei wird in Zukunft ein im Gesetz geregeltes Verfahren dafür Sorge tragen, dass die betroffenen Personen zuvor rechtzeitig benachrichtigt werden und ihre Einwände gegen eine Nutzung der Informationen vorbringen können. Die Bundesbeauftragte hat letztlich eine umfassende Prüfung und Abwägung zwischen den allgemeinen Persönlichkeitsrechten der betroffenen Personen und der Informations- und Wissenschaftsfreiheit, also dem Aufarbeitungsinteresse, vorzunehmen. Wie bisher auch sollen durch die Nutzung und Veröffentlichung der Informationen keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen der Person beeinträchtigt werden. Berücksichtigt wird dabei insbesondere auch, ob die Informationserhebung erkennbar auf einer Menschenrechtsverletzung beruht. Die Menschenrechtsverletzung bezieht sich dabei immer auf die Rechte der Person, zu der die Informationen vom Staatssicherheitsdienst erhoben worden sind.

Das vorhandene Ermessen der Bundesbeauftragten im Abwägungsprozess reduziert sich in Abhängigkeit von der Schwere der Menschenrechtsverletzung. So sind beispielsweise Eingriffe in das Brief- , Post- und Fernmeldegeheimnis von besonderer Bedeutung, führen jedoch nicht automatisch zum Versagen der Herausgabe oder Veröffentlichung. Dem gegenüber geht das Ermessen der Bundesbeauftragten gegen Null, wenn die Informationen durch schwere Menschenrechtsverletzungen, wie etwa durch Folter, erlangt wurden. So kann ein späterer Amtsinhaber oder eine Person der Zeitgeschichte zum Beispiel während einer früheren Stasi-Haft beispielweise gefoltert worden oder zu Selbstbezichtigungen gezwungen worden sein. Diese Menschenrechtsverletzung, welche die Voraussetzung für das Erlangen der Information war, hatte eine solche Schwere, dass im Abwägungsprozess das heutige Aufarbeitungsinteresse zurück stehen muss.

Andererseits ist der einengende Maßstab der Menschenrechtsverletzung bei der Informationserhebung auch nicht unbegrenzt. Anliegen der Regelung ist es nicht, die Informationserhebung durch den Staatssicherheitsdienst nachträglich generell am Maßstab der Menschenrechte oder eines grundrechtskonformen Handelns zu messen. Solche Maßstäbe haben in der DDR faktisch nicht existiert. Deshalb ist beispielsweise die Informationserhebung mittels inoffizieller Mitarbeiter in diesem Sinne nachträglich nicht automatisch als Menschenrechtsverletzung zu werten. Die Regelung folgt statt dessen dem Modell, das bereits jetzt im Paragraph 19, Absatz 1 StUG, im Zusammenhang mit der Stichtags-Regelung bei Auskünften über IM-Tätigkeit vorhanden ist. Auch in diesen Fällen wird über eine vor 1975 liegende inoffizielle Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst nur dann informiert, wenn "ein Mitarbeiter im Zusammenhang mit seiner inoffiziellen Tätigkeit ein Verbrechen begangen oder gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat". Die Menschenrechtsverletzung hat also eine besondere Qualität.

Die Zuordnung des Abwägungsprozesses zur Bundesbeauftragten ist angemessen und zweckmäßig. Die Bundesbeauftragte verfügt hierfür über eine besondere Rechtsstellung und erhält nun gesetzliche Regelungen für das notwendige Verfahren. Diese Regelungen ermöglichen den angemessenen Ausgleich zwischen dem Interesse an einer politischen und historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes einerseits und der Sicherung der individuellen Rechte der Betroffenen andererseits.

Dieser Abwägungsprozess muss wieder ermöglicht und geleistet werden, auch im zweiten Jahrzehnt der staatlichen Einheit. Denn die Wiedervereinigung unseres Landes, das Hinzukommen der Ostdeutschen mit besonderen Interessen und Ansprüchen, ist mehr als ein befristeter Störfall des Westens, der nach einer bestimmten Zeit durch die Rückkehr zur Normalität beendbar wäre. Hieran muss gelegentlich erinnert werden.