Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 04.07.2002

Untertitel: In der Bundestagsdebatte bilanziert Staatsminister Nida-Rümelin die Kulturpolitik der Bundesregierung und gibt einen Ausblick auf die in der nächsten Legislaturperiode fortzuführenden Projekte. Er würdigt dabei auch die Leistungen der Länder und insbesondere der Kommunen für die Kulturföderung.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/97/88797/multi.htm


Wir behandeln heute, am Ende dieser Legislaturperiode, einen Antrag, der mit "Nationale Verantwortung des Bundes für Kunst und Kultur stärken" überschrieben ist. Ich denke, dass die Aufforderung, die in diesem Antrag enthalten ist, unsere Arbeit in den letzten Jahren durchaus bestimmt hat. Ich denke, dass das, was in dem Antrag enthalten ist, zugleich auch Leitschnur dessen war, was wir in den letzten Monaten und Jahren gemeinsam geleistet haben. Gute Politik beginnt allerdings - um einen bedeutenden Soziologen zu zitieren - bei einem Anerkenntnis dessen, was ist. Gerade als Vertreter der Kulturpolitik des Bundes sollten wir deswegen immer darauf hinweisen, dass die kulturpolitische Gestaltungskraft in Deutschland nach unserer Auffassung bei den Kommunen und den Ländern angesiedelt sein sollte. So ist es ja auch: Wenn man die Stadtstaaten hinzuzählt, werden 60 Prozent der Kulturfördermaßnahmen von den Kommunen durchgeführt.

Meiner persönlichen Auffassung nach müssen wir in der nächsten Legislaturperiode eine Kraftanstrengung unternehmen, um sicherzustellen, dass sich die Einnahmesituation der Kommunen stabilisiert und dass sie in Zukunft nicht mit solch starken Schwankungen rechnen müssen, wie es gegenwärtig der Fall ist, damit sie dieser Verantwortung gerecht werden können. Dieses Ziel wurde ja auch in der Finanzpolitik formuliert.

Ich glaube, die zentrale Aufgabe des Bundes im Bereich der Kultur ist es, den Ordnungsrahmen, in dem sich die kulturelle Entwicklung dieses Landes gestaltet, zu bestimmen, Rahmendaten zu setzen, die kunst- und kulturfreundlich sind. Von daher war es ein wichtiges Signal, dass der Bund diese Aufgaben, die übrigens auch von der Verfassung her Aufgaben des Bundes sind, übernommen hat. Darunter fallen die Künstlersozialversicherung und Fragen der Besteuerung, die kunstfeindlich oder kunstfreundlich sein kann. Wir haben in diesem Zusammenhang im Dezember des vergangenen Jahres ein Problem gut gelöst, nämlich die für den Kulturaustausch verheerende hohe Besteuerung ausländischer Künstler.

Sie war in der Folge kulturfeindlich, auch wenn das nicht beabsichtigt war. Dieses Problem haben wir gelöst. Das ist in ganz Deutschland anerkannt worden.

Wir haben als letzten größeren Akt der ordnungspolitischen Maßnahmen des Bundes etwas geleistet, was in der Zukunft von ganz großer Bedeutung sein wird. Entgegen dem, was in den Feuilletons über Monate, ja Jahre zu lesen war, nämlich dass sich das über hundert Jahre alte Instrument der Buchpreisbindung angesichts der Freihandelspolitik der Europäischen Union, insbesondere des Wettbewerbskommissars auf Dauer nicht halten lassen wird, haben wir daran festgehalten. Es hat Prozesse gegeben. Die Verlage waren in Schwierigkeiten. Angesichts dessen haben wir uns entschlossen, ein nationales Buchpreisbindungsgesetz zu verabschieden. Manchem sträuben sich dabei die Haare; das ist mir klar. Wozu ein Preisbindungsgesetz, obwohl wir doch den Markt stärken wollen?

Es ist sinnvoll, bei dem Beispiel kurz innezuhalten. Ich habe mir die internationalen Vergleichsdaten sehr genau angesehen. Es ist frappierend, was an einer solchen Maßnahme alles hängt. Wenn man Länder mit Buchpreisbindung mit Ländern ohne Buchpreisbindung vergleicht, dann ergeben sich Unterschiede, die man kaum für möglich hält.

In Ländern mit Buchpreisbindung gibt es fünf- bis siebenmal so viele Buchhandlungen pro Einwohnergesamtheit, als in Ländern ohne Buchpreisbindung. Die Einnahmen aus wenigen Bestsellern sind in Ländern ohne Buchpreisbindung höher. Auch die Auflagen sind wesentlich höher. Aber das Angebot an Büchern, die die Verlage jedes Jahr auf den Markt bringen, ist wesentlich geringer. Die Konzentrationsprozesse sind in Ländern ohne Buchpreisbindung sehr viel dramatischer als in Ländern mit Buchpreisbindung.

Versetzen wir uns einmal - als Gedankenexperiment - in die Situation, dass Kommunen, Länder und Bund versuchen würden, den Kahlschlag, den wir ohne Buchpreisbindung hätten, mit Subventionsmaßnahmen für das Kulturgut Buch zu verhindern, zum Beispiel für besonders innovative Buchhandlungen oder Buchhandlungen, die eine wichtige Rolle in den jeweiligen Stadtvierteln oder Kommunen spielen und die sich ohne Subventionen auf dem Markt nicht mehr halten könnten. Wir würden Verlage unterstützen, die ein breites Buchangebot bereitstellen, was sie sich aber angesichts der Marktgesetze nicht mehr leisten können. Man stelle sich das einmal vor. Wir wären dann rasch pleite. Die Kommunen, die Länder und der Bund könnten sich das nicht leisten.

Das heißt, wir haben mit dem Buchpreisbindungsgesetz eine Kulturfördermaßnahme beschlossen, die keinen der drei Ebenen etwas kostet, wenn man einmal von den Arbeitsstunden unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Ausschuss absieht.

Ich will die anderen Beispiele aus der Bilanz dieser Legislaturperiode gar nicht auflisten. Ich will dazu nur sagen: Wir, Bund, Länder und Gemeinden, haben eine gemeinsame Verantwortung für die kulturelle Entwicklung dieses Landes. Wir gestalten sie nicht inhaltlich, aber wir gestalten die Rahmenbedingungen, innerhalb deren sich diese Entwicklung darstellt. Wir wären sehr schlecht beraten, wenn wir aus der gemeinsamen kooperativen Verantwortung bei aller Notwendigkeit von Systematisierung und Entflechtung aussteigen und in einen puren Konkurrenzkulturföderalismus überwechseln würden, der es am Ende sehr viel schwerer machen würde, dieser kulturellen Verantwortung des Staates wirklich gerecht zu werden.

Ich möchte zum Schluss auf etwas verweisen, das von mir bewusst provokativ zugespitzt wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland insgesamt dringend aus dieser Haltung des Beklagens und Bejammerns in manchen Feldern herauskommen muss. Dort, wo unsere Stärken liegen, sollten wir diese auch betonen.

Ich will nur eine einzige Zahl nennen. Die Hälfte aller Theater und Opernbühnen der Welt befindet sich - man glaubt es kaum - in den drei deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas. Wenn das keine Leistungsbilanz ist!

Umso wichtiger ist es, dass wir dieses Kulturgut Theater bewahren. Was wir aber insgesamt als Bundesrepublik Deutschland für die Kultur leisten, ist immens und hat internationale Auswirkungen. Theaterleute an der Ostküste der USA haben Bedenken, wenn bei uns entsprechende Spielräume nicht mehr bestehen, weil das sofort auf das innovative Potenzial von Regisseuren und anderen in anderen Ländern der Welt zurückschlägt.

Wir haben eine Musiklandschaft, die sich international sehen lassen kann. Es gibt nur wenige Länder, in denen Ähnliches geleistet wird.

Mein Eindruck ist, dass die Offenheit in der deutschen Bevölkerung für zeitgenössische Kunstentwicklungen aller Sparten, die Neugier und das Interesse, sich auch auf Unbequemes und Sperriges einzulassen, noch nie so groß waren wie heute. Dass dies in der Nachkriegszeit so schwierig war, hängt auch mit einer kulturellen Folge des Nationalsozialismus mit allen seinen Geschmacksverirrungen, den Schwierigkeiten mit der Moderne und der Abwehr dessen, was als importierte Kultur, insbesondere aus den USA und anderen westlichen Ländern, empfunden wurde, zusammen. Das ist nach meinem Eindruck in Deutschland überwunden. Die Sensibilität und Offenheit der Bürgerschaft ist nach meiner Einschätzung so groß wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.

Interessanterweise korrespondiert das mit der Bereitschaft von Künstlerinnen und Künstlern, sich nicht nur auf das kleine Feld der Kunstexperten, der Art World, der Welt der Kunstzeitschriften, der Feuilletons, der Museen, Galerien und Konzertsäle einzulassen, sondern die Brücke zu den Bürgerinnen und Bürgern zu schlagen. Wer sich die Documenta in Kassel ansieht, wird genau dies bestätigt finden: den Versuch, den Dialog zu führen, und zwar über die engen Grenzen der Art World hinaus. Das ist eine faszinierende Situation.

Wir haben beste Chancen, dass die Kultur und damit auch die Kulturpolitik von der Bürgerschaft als zentrales Feld zukünftiger politischer Gestaltung gesehen wird. Es wird auch erwartet, dass wir das tun. In Zürich hat es vor kurzem eine Debatte über die Frage gegeben, ob das Züricher Theater mehr Haushaltsmittel erhalten soll. Daraufhin wurden, wenn ich mich richtig erinnere, per Abstimmung - wahrscheinlich war die Mehrheit selten im Theater - entschieden, 4 Millionen Franken zusätzlich in den Haushalt einzustellen. Das ist ein gutes Signal. Ich meine, wir müssen das kulturpolitisch nutzen.

Wir haben mit den Ländern die eine oder andere Differenz auszuräumen. Das haben wir uns bis Dezember vorgenommen. Ich will aber doch anmerken, dass wir uns aufeinander zu bewegt haben. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir die Kompetenz des Bundes für Einrichtungen und Projekte von nationaler Bedeutung nicht aufgeben sollten, auch wenn das gegenwärtig noch von den Ländern bestritten wird. Darüber werden wir streiten müssen und vielleicht finden wir bei Fortbestehen dieses Dissenses eine pragmatische Lösung bzw. ein geeignetes Verfahren. Es kann nicht sein, dass wir im Bereich der Kultur kein kulturell orientierter Bundesstaat, sondern lediglich ein Staatenbund sind. Es gibt eine Verantwortung, die nicht allein regional wahrgenommen werden kann. In dieser Frage muss der Bund sehr deutlich Position beziehen. Ich meine, dass wir eine Lösung finden können.

Meine Hoffnung ist, dass diese kooperative Grundhaltung, die ich auch gegenüber den Ländern und den Kommunen in den vergangenen Monaten festgestellt habe und die unsere Beratungen hier im Hause - vor allem im Kulturausschuss und zwischen Exekutive und Parlament insgesamt, aber auch im Haushaltsausschuss und den anderen in Kulturangelegenheiten mitberatenden Ausschüssen - geprägt hat, fortbesteht. Ich meine, dass das ein gutes Signal ist. Ich bin zuversichtlich, dass wir in der nächsten Legislaturperiode in diesem Geiste fortfahren, für die Kultur zu wirken.