Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.07.2002

Untertitel: Schröder: "Viele Unternehmen würden besser damit fahren, wenn sie auf die Betriebsräte hörten und nicht auf Manager, die nur an ihrem Geld interessiert sind."
Anrede: Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/26/87626/multi.htm


Es war gut, dass Berthold Huber mit dem Hinweis darauf begonnen hat, was sich in Europa tut; denn das betrifft uns und kann uns mehr, als wir gegenwärtig glauben, betreffen; denn ganz viele Entscheidungen - auch auf dem Gebiet, das euch besonders interessiert, nämlich dem der Wirtschafts- , Finanz- und Arbeitsmarktpolitik - sind nicht zuletzt von Europa initiiert oder jedenfalls entscheidend beeinflusst. Das wird im Zuge der Vertiefung und Erweiterung Europas nicht weniger werden, sondern eher mehr.

Deswegen ist es richtig und konsequent, wenn man nicht nur Nabelschau im eigenen Land betreibt, sondern schaut, was jenseits der eigenen Grenzen in Europa insgesamt passiert, und das sieht zum Teil nicht gut aus. Früher hätten wir zitiert: Ein Gespenst geht um in Europa. Der eine oder andere weiß, woher das kommt. Aber diesmal ist es nicht das Gespenst, das Karl Marx beschrieben hat, sondern diesmal ist es das Gespenst des Rechtspopulismus in unterschiedlichen Ausprägungen, aber jeweils mit dem gleichen Ergebnis.

Worum geht es? Wir werden Europa erweitern, wir werden die großartige Chance nutzen, das alte Europa - weil es zusammengehört und zusammenwächst - zu einem Ort dauerhaften Friedens und Wohlergehens seiner Menschen zu machen. Dieser Integrations- und Erweiterungsprozess ist nicht aufzuhalten. Den kann man verzögern - das wollen die Rechtspopulisten auch - , aber aufhalten wird man ihn nicht können. Die Menschen werden das verhindern.

Aber wenn man sich das anschaut, geht es um die inhaltliche Frage: Welches Gesicht soll dieses zusammenwachsende Europa haben? Hier beginnt unsere gemeinsame Aufgabe. Eine Folge von rechtspopulistischen und konservativen Regierungen ist der Verlust sozialer Gerechtigkeit in Europa. Wir streiten um die Frage, welches Gesicht dieses größer gewordene Europa haben und was seinen Inhalt ausmachen soll. Soll es ein Kontinent werden, der sich von dem unterscheidet, was in Südostasien oder auch in den Vereinigten Staaten passiert, wo Mitbestimmungsrechte und Teilhabe am Haben und Sagen, an den Entscheidungen in der Gesellschaft eben nicht gesichert sind, oder soll es ein Europa bleiben, besser vielleicht: werden, in dem es eine Selbstverständlichkeit ist, dass die breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung sowohl am - schließlich von ihnen - erarbeiteten Reichtum Anteil haben als auch an den Entscheidungen in der Gesellschaft?

Wenn ich "Entscheidungen in der Gesellschaft" sage, meine ich, dass Demokratie nach unserem Verständnis keinen formalen Prozess darstellt, und keinen, der auf die staatlichen Ebenen beschränkt ist, sondern Demokratie ein Prozess ist, der auch in der Wirtschaft zu gelten hat, ausgeübt von Betriebsräten durch Mitbestimmung auf betrieblicher und unternehmerischer Ebene. Das ist unsere Vorstellung.

Die große und bedeutende Aufgabe, die wir als Deutsche in Europa haben, ist, dass wir mit den Wahlen am 22. September darüber entscheiden, und zwar positiv entscheiden, dass dieses Europa - und Deutschland mitten darin - ein Bollwerk der sozialen Gerechtigkeit und im Übrigen ein Bollwerk gegen jede Form von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus bleibt beziehungsweise bleiben wird. Beides sind Aufgaben, die wir in Deutschland haben und am 22. September erfüllen können, aber auch erfüllen müssen.

Unsere Aufgabe war 1998, Deutschlands Position in der Welt durch unsere Außen- und Sicherheitspolitik neu zu formulieren, aber auch, Deutschlands Position im Inneren neu zu begründen, dafür zu sorgen, dass dies eine Gesellschaft ist, die zur Erneuerung fähig ist, dabei aber soziale Gerechtigkeit nicht außer Acht lassen will. Das waren die beiden Kernaufgaben, die uns nach 16 Jahren Stillstand gestellt worden sind, verursacht durch diejenigen, die sich jetzt aufmachen, zurückzumarschieren in das, was wir 16 Jahre lang hatten.

Wer glaubt ernsthaft, dass dieses Land gut dabei fahren würde, wenn sich diejenigen, die den Karren in den Dreck gefahren haben, jetzt anheischig machen, ihn herauszuziehen? Wer glaubt ernsthaft, dass man mit den Rezepten von vorgestern und dem Personal von gestern - es sind doch erkennbar die gleichen Leute, die bis 1998 insgesamt 16 Jahre lang versagt hatten, die jetzt im Kompetenzteam des Kandidaten sind - die Aufgaben von heute und erst recht von morgen lösen könnte? Niemand kann das glauben.

Wir hatten Deutschlands internationale Rolle neu zu bestimmen, und dabei gab es verdammt schwierige Entscheidungen zu treffen: im Kosovo und auf dem Balkan insgesamt, aber auch zur Abwehr ganz neuer, bisher nicht gekannter Bedrohungen. Wir haben das getan, und niemandem von uns ist es leichtgefallen. Als ich begann, politisch zu arbeiten, hätte ich mir nicht denken können, dass es einmal meine Aufgabe sein würde, militärische Gewalt gegen Unterdrückung und die Verletzung von Menschenrechten anwenden zu lassen. Aber mit liegt daran, zu verdeutlichen, dass es einen Unterschied gibt, der bewahrt bleibt: Parallel zu dem, was wir tun mussten, haben wir dafür gesorgt, dass die Frage der Sicherheit nicht allein militärisch definiert wird. Mit einer Entschuldungsinitiative für die ärmsten Länder der Welt haben wir deutlich gemacht, dass in unserer Außenpolitik Diplomatie, Politik und Entwicklungshilfe allemal Vorrang haben vor dem, was man ansonsten auch zu tun hatte. Das wird so bleiben.

Das ist der Grund, warum wir - auch im Unterschied zu dem einen oder anderen großen Partner - dafür kämpfen, dass im Internationalen Strafgerichtshof internationales Recht angewandt wird, um Unterdrücker überall in der Welt bekämpfen zu können.

Das ist der Grund, warum wir - übrigens gleich zu Beginn unserer Regierungszeit von anderen, auch von den Freunden in den Bündnissen, skeptisch beäugt - gesagt haben: Dieses Deutschland und dieses Europa brauchen eine strategische Partnerschaft zu einem sich demokratisierenden Russland. Überlegt einmal, liebe Freundinnen und Freunde, was im letzten Jahrhundert von Deutschland ausgehend - das dürfen wir als geschichtliche Wahrheit nie aus dem Auge verlieren - für blutige Auseinandersetzungen mit vielen Millionen Toten auf beiden Seiten geschehen sind. Holt euch ins Gedächtnis zurück, wie schwer auf uns allen die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges gelastet haben und wie sehr wir Sorgen hatten, dass atomare Waffen eben nicht nur zur Abschreckung dienen könnten, sondern unter Umständen auch eingesetzt würden.

Jetzt stellen wir fest, dass Russland - nicht zuletzt durch unsere Bemühungen - seine Beziehungen zum Westen völlig neu geordnet hat und eine strategische Partnerschaft mit der Europäischen Union ebenso wie mit Deutschland eingegangen ist. Wenn euch vor 15 Jahren von einem solchen Podium aus auf einer solchen Konferenz jemand gesagt hätte "In gut zehn bis zwölf Jahren wird Russland faktisch Teil der NATO sein", dann, glaube ich, hättet ihr wohl nichts getan, außer zu spotten. Jedenfalls hätten wir alle miteinander das wohl nicht für möglich gehalten, aber jetzt ist es Realität.

Das ist ein ungeheuerer Sicherheitszugewinn, und ich freue mich darüber, nicht allein zu sein bei dem Reklamieren einer solchen strategischen Partnerschaft, sondern ich habe mich darüber sehr gefreut, dass nach und nach die europäischen Partner und schließlich auch die Amerikaner so wie wir gesehen haben, wie strategisch wichtig für Frieden und Wohlergehen auf unserem Kontinent - und zwar für die breiten Schichten der Menschen - eine solche Partnerschaft ist. Wir hatten damit begonnen - am Anfang allein - , und wir freuen uns darüber, dass es jetzt - nicht zuletzt durch unsere Anstrengungen - einen solchen Sicherheitszugewinn gibt, der etwas mit deutscher Außenpolitik zu tun hat, die gut in die Traditionen passt, die Willy Brandt und Helmut Schmidt begründet haben. Deswegen will ich auch, dass der Außenminister, mit dem ich das zusammen konzipieren konnte, nämlich Joschka Fischer, Außenminister in diesem Land bleibt und wir gemeinsam weiter an dieser Politik arbeiten können. Ich denke, nicht zuletzt auch für diesen Bereich lohnt es, sich anzustrengen, das Mandat zu erneuern und zu helfen, worum ich euch bitte.

Aber das ist ja nicht alles. Ihr hattet 1998 - vielen ist das schon nicht mehr im Gedächtnis - gesagt: Die anderen haben die Balance zwischen Kapital und Arbeit in unserer Gesellschaft, mit der wir gut gefahren sind, verändert zulasten der arbeitenden Menschen und zugunsten des Faktors Kapital. Euer Auftrag an uns war: Achtet darauf, dass diese Balance wieder hergestellt wird. Ich möchte gerne darlegen, was wir und warum wir es getan haben. Warum, ist schnell erklärt: Wir sind davon überzeugt, dass es dieser Gesellschaft gut tut, wenn es starke Gewerkschaften gibt, und dass es dieser Gesellschaft gut tut und es zur Kraft unserer Volkswirtschaft gehört, dass es Mitbestimmung in den Betrieben und über die Betriebe hinaus gibt.

Viele Unternehmen würden besser damit fahren, wenn sie auf die Betriebsräte hörten und nicht auf Manager, die nur an ihrem Geld interessiert sind. Das muss doch einmal gesagt werden. Was in einigen Bereichen passiert, wird doch von den gleichen Leuten gemacht, die ansonsten gegen die Mitbestimmung - ob auf betrieblicher oder auf überbetrieblicher Ebene - zu Felde ziehen. Aus früherer Tätigkeit in einem Aufsichtsrat eines Automobilherstellers - ich sage jetzt nicht, bei welchem; das wäre hier in Stuttgart nicht fair - weiß ich, wie langwierig, aber wie wichtig und wie richtig häufig die Hinweise aus den Betrieben selbst waren, um zu mehr Effizienz zu kommen und um die Produkte und auch die Arbeitsorganisation zu verbessern. Die Wahrscheinlichkeit - ich sage das sehr vorsichtig - ist sehr groß, dass, wenn man in jenem Unternehmen auf die Betriebsräte gehört hätte, das Unternehmen heute besser da stünde.

Ich bin sehr für Leistung und dafür, dass gute Leistung auch bezahlt wird, und ich bin zum Neid völlig unfähig. Aber eine Unternehmenskultur in Deutschland, bei der die Betriebe kaputt gehen, die Gehälter der Bosse aber steigen, ist keine Unternehmenskultur, die ich für richtig halte und die ich haben will.

Aber eines ist auch klar: Wenn ich jetzt von denen, die um den Kandidaten herum sind - er selber macht das ja nicht - Kritik höre - ausgerechnet aus Bayern - , dass in Nordrhein-Westfalen Wolfgang Clement und wir als Bundesregierung schauen, wenn 20.000 Arbeitsplätze gefährdet sind, ob wir helfen können, dann muss ich doch wohl einmal daran erinnern, dass es nicht Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewesen sind, die man mit Milliarden aus der Bayerischen Landesbank geschützt hat, als es um Kirch ging, sondern ein paar Leute, die sich daran reich gemacht haben.

Uns geht es bei dem, was wir tun, darum, dass nicht über Nacht in einer Stadt wie Oberhausen - das ist die Realität - 10.000 Menschen arbeitslos werden; denn wir wissen und haben ein Gespür dafür, was das für sie selber und für ihre Familien bedeutet, wenn sie arbeitslos sind. Das ist der Grund - kein anderer - , warum wir Missmanagement auch mit Hilfe des Staates außer Kraft zu setzen versuchen und warum wir Arbeitsplätze zu erhalten versuchen, nämlich weil es uns um die Beschäftigten, um ihre Familien und um die Zukunft ganzer Regionen geht. Das vergessen die anderen.

Ich betrachte es als eine selbstverständliche Pflicht und Aufgabe - ja, als eine Ehre - , mich mit allen rechtlichen Möglichkeiten, die wir haben, dafür einzusetzen, dass Menschen nicht auf die Straße gesetzt werden, sie in Sicherheit leben können und Planbarkeit für sie und ihre Familien auch Mittelpunkt deutscher Politik ist. Uns geht es um die Beschäftigten, und das wird nicht aufhören.

Ich habe von der Balance gesprochen, die zerstört worden ist, was das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit angeht, und mir wird nicht gerade unterstellt, dass ich besonders feindlich mit der anderen Seite umgehe. Das soll man auch gar nicht.

Aber ein Gespür für Gerechtigkeit und Ausgleich muss man sich bewahren. Das ist der Grund, warum wir euren Auftrag verstanden hatten, die Einschränkungen beim Kündigungsschutz zurückzunehmen, und wir haben das gemacht. Das ist der Grund, warum wir für diejenigen, denen starke Gewerkschaften das nicht sichern konnten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wieder eingeführt haben. Das ist der Grund, warum wir Änderungen beim Kündigungsschutz auch in Zukunft nicht dulden werden. Jetzt geht es nicht mehr um die jüngeren, jetzt geht es um die älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen man ihre Schutzrechte nehmen will. Nicht mit uns!

Wir haben doch das Betriebsverfassungsgesetz gemacht, weil wir um die Kenntnisse und Fähigkeiten von Betriebsräten wissen, zugunsten ihrer Unternehmen und der Arbeitsplätze derjenigen, die sie gewählt haben, zu arbeiten. Deutschland ist doch mit einer Mitbestimmung stark geworden, wie wir sie geschaffen haben, wie ihr sie erkämpft habt und wie wir sie verteidigen werden. Ich füge hinzu: Deutschland ist wirtschaftlich stark geworden und wird auf den Märkten der Welt gerade jetzt in der Krise wieder stärker - nicht trotz der Tarifautonomie, sondern wegen der Tarifautonomie.

Wer - in welch verklausulierter Form auch immer - einen Angriff auf das, was man Günstigkeitsprinzip nennt, fährt, verfolgt ein ganz konkretes Ziel. Worum es dabei geht, ist ganz schlicht: Die zentrale Verhandlungs- und damit Schutzmacht der deutschen Gewerkschaften soll entscheidend getroffen werden. Das ist der Punkt. Das verbirgt sich hinter der Abschaffung des sogenannten Günstigkeitsprinzips. Die entscheidende Verhandlungs- und Schutzmacht der deutschen Gewerkschaften soll geschwächt werden.

Wer profitiert denn von der Schwächung? Von der Schwächung profitiert doch nur eine einzige Seite, nämlich die andere Seite, und das wäre wiederum Zerstörung einer Balance, die wir mit dem Betriebsverfassungsrecht und mit dem, was wir gemacht haben, erst wieder hergestellt haben. Deswegen gilt: Wer in dieser Frage - nicht nur aus Überzeugung, sondern aus wirtschaftlicher Vernunft - nicht an der Seite der deutschen Gewerkschaften steht, der nutzt Deutschland nicht, der schadet Deutschland. Das muss man klar sagen.

Wir haben nach schwierigen Auseinandersetzungen - auch innerhalb unserer eigenen Partei und innerhalb der Gewerkschaften - eine ganz wesentliche Entscheidung auf den Weg gebracht, deren Bedeutung viele noch gar nicht erkannt haben. Das ist das, was wir mit der Sicherung der Lebensbedingungen im Alter gemacht haben. Liebe Freundinnen und Freunde, auch an diejenigen gewandt, die kritisch damit umgegangen sind: Unterschätzt das nicht! Wir haben eine totale Veränderung des Altersaufbaus in unserer Gesellschaft. Die Menschen werden älter, und das ist gut so. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, was das bedeutet: Gleichzeitig verändern sich die Arbeitsbiographien; das wisst ihr aus eurer betrieblichen Tätigkeit. Sie sind nicht mehr so, dass man sagen kann: "Du gehst mit 15 oder 18 Jahren in den Betrieb und hast dann dort deine 35 oder 40 Jahre", sondern Arbeitsbiographien verändern sich, und damit verändert sich die Einnahmesituation der Umlageversicherung bei der Rente. Das ist eindeutig.

Wir haben deshalb - um das für die Jungen bezahlbar zu halten und für die Älteren sicher zu machen - eingeführt, was eingeführt werden musste, nämlich das, was man Kapitaldeckung nennt. Wir haben gleichsam eine zweite Säule unter das Dach der Rentenversicherung gestellt. Nach schwierigen - auch innerparteilichen und innergewerkschaftlichen - Diskussionen haben wir das umgesetzt, und wir haben es so gemacht, dass den Tarifparteien eine Möglichkeit gegeben wird, sich in den Tarifauseinandersetzungen auch um Alterssicherung zu kümmern. Ihr von der IG Metall habt das genutzt, und zwar so, dass inzwischen 20 Millionen Beschäftigte in Deutschland neben der gesetzlichen Rente eine weitere Altersvorsorge haben oder haben werden. Ich finde, das ist ein großer Erfolg, auch ein Erfolg gewerkschaftlicher Aktionen. Das ist gar keine Frage. Auch hier zeigt sich, wie wichtig es ist, die Verhandlungsmöglichkeiten von Gewerkschaften in diesem Bereich nicht zu schwächen, sondern zu stärken.

Wir haben jetzt die Notwendigkeit vor uns, eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen. Was Peter Hartz und seine Kommission bisher erarbeitet haben und Mitte August endgültig vorliegen wird, ist nicht mehr und nicht weniger, als unter veränderten Rahmenbedingungen eine neue Ordnung des Arbeitsmarktes zu schaffen. Diese neue Ordnung muss so konstituiert werden, dass im Mittelpunkt all dessen, was wir uns vornehmen, eine einzige Frage steht, nämlich die: Wie schaffen wir es, Menschen, die arbeitslos geworden sind, schneller in die frei werdenden oder die frei gewordenen Stellen zu bringen? Wie schaffen wir es, organisatorisch und politisch dafür zu sorgen, dass Vermittlung in den Mittelpunkt der Tätigkeit der Arbeitsverwaltung gestellt wird? Wie schaffen wir es, die Menschen gezielt zu fördern, von ihnen aber auch zu verlangen, daran mitzuarbeiten, wir sie also fordern und zur Selbsthilfe bewegen? Das sind die Aufgaben.

Ich habe eine herzliche Bitte, und meine Gespräche signalisieren das auch, nämlich die, dass diese neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, die eine sozial gerechte Ordnung bleiben wird, aus den Gewerkschaften heraus unterstützt wird. Das ist wichtig für uns alle: für diejenigen, die arbeitslos sind, und für diejenigen, die Arbeit haben. Ich denke, wir können das schaffen. Wir - die Sozialdemokraten - können das als einzige schaffen, weil wir sozusagen den Willen und die Fähigkeit zur sozialen Solidarität mitbringen. Was die anderen nicht können - Zusammenhalten bei der Reform so wichtiger Bereiche - , können die Sozialdemokraten, und wir können es als einzige. Deswegen brauchen wir die Erneuerung des Mandates am 22. September.

Bei der Reform, die Peter Hartz vorschlägt, wird es nicht darum gehen, Menschen zu bestrafen, sondern es wird darum gehen, ihnen zu helfen. Es geht nicht um Kürzungen, sondern um Gestaltung der Verhältnisse in diesem Sektor. Das ist wichtig; denn man muss die Menschen auf den Weg in eine grundlegende Reform mitnehmen. Es geht nicht, wenn man ihnen Angst macht. Angst ist ein schlechter Ratgeber - nicht zuletzt für die Politik - , und deswegen werden wir zu solchen Mitteln nicht greifen.

Mir liegt daran, noch etwas zu einem anderen Thema sagen zu dürfen, nämlich zu dieser berühmten Studie, die übrigens nicht nach der Stadt mit dem schiefen Turm benannt worden ist. Das Wichtigste für mich ist übrigens nicht ein kleinlicher Ländervergleich; das ist nicht der entscheidende Punkt. Das Wichtigste für mich ist die Aussage: Deutschland ist deswegen in der Bildungspolitik in Schwierigkeiten, weil wir es bisher nicht geschafft haben, allen sozialen Gruppen gleichen Zugang zu den Bildungsinstitutionen zu ermöglichen. Das ist die zentrale Aussage. Deshalb gilt für mich: Natürlich muss man über die Frage reden, ob man die Leistungsanforderungen anders zuschneiden muss. Das ist gar keine Frage. Wer hätte etwas dagegen? Aber wenn man diese Diskussion, die augenblicklich läuft, dazu missbraucht - was gegenwärtig schon wieder erkennbar ist - , das Rad der Geschichte zurückzudrehen, um wieder dafür zu sorgen, dass es Kinder aus Arbeiterfamilien schwerer haben, Deutschlands hohe Schulen zu besuchen, dann ist das mit mir nicht zu machen. Wer die Diskussion über die Frage, was Schule leisten muss - die ich gerne mit führe - , dazu missbraucht, dass wieder gilt "Den Königsweg für die Kinder der Reichen und den Trampelpfad für die Kinder aus den Arbeiterfamilien", dem sage ich, damit das ganz klar ist: Nicht mit uns!

Jenseits dessen ist jedenfalls eines klar, nämlich dass der Fleckenteppich in der deutschen Pädagogik aufhören muss. Wir brauchen national vereinbarte Bildungsstandards, die für alle gelten, egal, wo die Kinder wohnen und unterrichtet werden. Mit diesen gemeinsamen Standards muss mehr Freiheit für die Schulen korrespondieren. Dafür bin ich durchaus. Aber wer Freiheit in Anspruch nimmt - die soll auch in Anspruch genommen werden - , muss auch gestatten und hinnehmen, dass das, was in den Schulen geschieht, auch daraufhin kontrolliert wird, ob die Leistungsstandards, die wir national vereinbaren, in den Institutionen auch realisiert werden. Das ist die Aufgabe, die wir haben.

Ich denke, vor dem Hintergrund dessen, was wir an Aufträgen mitgenommen haben, dessen, was wir für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für ihre gewerkschaftlichen Vertreter in Deutschland getan haben, und vor dem Hintergrund dessen, was wir miteinander in Bezug auf Europa durchzukämpfen haben, rechtfertigt es sich, zu sagen: Lasst uns alle zusammenstehen und die nächsten zwei Monate darum kämpfen, dass Deutschland und damit Europa sein soziales Gesicht behält und Teilhabe für die Beschäftigen am Haben und Sagen in unserer Gesellschaft die zentrale Frage unserer Arbeit werden wird.