Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 13.07.2002

Untertitel: Bury: "Dem Arbeiter-Samariter-Bund sage ich Dank für seine Leistungen in der Vergangenheit und wünsche Ihnen persönlich und dem Verband alles Gute für die Zukunft".
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/53/88453/multi.htm


Liebe Marianne, sehr geehrter Herr Tepperwien, sehr geehrter Herr Oppenländer, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine sehr geehrten Damen und Herren,

als sechs Berliner Zimmerleute 1888 den Arbeiter-Samariter-Bund gründeten, wollten sie konkret etwas gegen die katastrophale medizinische Versorgung bei Arbeitsunfällen tun. Damals gab es weder Arbeitsschutz noch Erste Hilfe. Unfälle an den schweren, völlig ungesicherten Maschinen waren an der Tagesordnung. Und wenn etwas passierte, mussten die Verletzten oft stundenlang auf einen Arzt warten. Die sechs Zimmerleute wollten dabei nicht länger zusehen. Sie wurden aktiv, organisierten medizinische Hilfe. Und fanden rasch neue Mitstreiter. Ihr Engagement fällt in eine Zeit, in der viele Menschen begannen, etwas gegen die oft menschenunwürdigen Zustände am Ende des 19. Jahrhunderts zu unternehmen. Sie schlossen sich zusammen, in Genossenschaften, in Gewerkschaften, in Sport- und Kulturvereinen, in der Sozialdemokratie oder in Verbänden wie dem ASB - mit dem einen, gemeinsamen Ziel: Den mit der Industrialisierung einsetzenden Modernisierungsprozeß so zu gestalten, dass niemand unter die Räder kommt, sondern alle am Fortschritt teilhaben können. Die Männer und Frauen, die damals für soziale Gerechtigkeit gekämpft haben, waren erfolgreich. Sie haben sich nicht gegen die "neue Zeit" gestellt, sondern sie gestaltet. Viele Missstände von der Kinderarbeit bis zu den katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Arbeiterquartieren konnten beseitigt werden. Trotz tiefgreifender Veränderungen im Zuge der Industrialisierung blieb so der soziale Zusammenhalt der Gesellschaft gewahrt. Heute - mehr als 100 Jahre später - stehen wir wieder vor der Aufgabe, Erneuerung und sozialen Zusammenhalt miteinander zu verbinden. Deutschland befindet sich im Wandel. Die Globalisierung hat Auswirkungen auf fast alle Bereiche unseres Lebens. Flexibilität und Mobilität sind heute zu bestimmenden Faktoren im Alltag geworden. Früher haben viele Jugendliche drei Jahre eine Ausbildung durchlaufen und anschließend ein Leben lang in ihrem Beruf gearbeitet. Im gleichen Betrieb. Am gleichen Ort. Dort, wo auch Eltern, Großeltern und Freunde lebten. Wer heute im Beruf bestehen will, muß sich kontinuierlich fortbilden. Viele Menschen wechseln den Arbeitgeber oder den Beruf. Weil sie neue Herausforderungen suchen oder weil sie umsatteln müssen. Und kaum jemand bleibt sein ganzes Leben an einem Ort. Viele Gewissheiten, die noch das Leben der Älteren bestimmt haben, gelten nicht mehr. Das alles muß nicht negativ sein. Für den Einzelnen können sich mit der neuen Flexibiltät Chancen eröffnen, die er früher nie gehabt hätte. Aber viele Menschen fühlen sich von diesen Entwicklungen überfordert. Sie haben Angst, einfach nicht mehr mitzukommen. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen einen Ort haben, wo sie eingebunden sind. Wo sie das Gefühl haben, dazu zu gehören. Wo sie gebraucht werden. Gerade im Zeitalter der Globalisierung müssen wir den Menschen eine Heimat geben. Das ist kein Gegensatz, das sind zwei Seiten derselben Medaille. Denn je stärker der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft ist, umso besser ist sie für die Veränderungen durch die Globalisierung gerüstet.

Den Menschen eine Heimat geben - das ist in Deutschland insbesondere eine Sache der vielen Vereine und Verbände. Einrichtungen wie dem ASB, wo Menschen zusammenkommen, um anderen zu helfen. Aus dem ASB ist im Laufe des Jahrzehnte eine große, leistungsstarke Organisation geworden. Mehr als eine Million Menschen unterstützen in ganz Deutschland den Arbeiter-Samariterbund durch ihre Mitgliedschaft. Allein hier bei uns in Baden-Württemberg sind es mehr als 150.000. Sie vom ASB sind in unserem Land überall da präsent, wo Menschen Hilfe brauchen. Sie bilden in Erster Hilfe aus und leisten Sanitäts- und Rettungsdienste. Sie engagieren sich für Behinderte und Seniorinnen und Senioren. Sie beraten und betreuen Kinder, Jugendliche und Familien. Sie kümmern sich um Asylsuchende, Aussiedler und Obdachlose. Und Sie sind in der Katastrophenhilfe und in der langfristigen Entwicklungszusammenarbeit aktiv. Wenn ich mir anschaue, was Sie alles leisten, kann ich Ihnen nur meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen.

Sie können stolz auf Ihre Arbeit sein!

Das gilt für die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer und das gilt gleichermaßen für die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ASB. Denn die Zeit, in der eine Hilfs- und Wohlfahrtsorganisation ihre Arbeit allein mit engagierten Freiwilligen tun konnte, ist lange vorbei. Inzwischen gehören die Wohlfahrtsverbände ja schon zu den größeren Arbeitgebern in unserem Land. In Ihrem Landesverband ist die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den letzten Jahren auf über 1.000 angestiegen.

Auch das unterstreicht die weiter wachsende Bedeutung des ASB.

Qualitativ und fachlich anspruchsvolle Arbeit, wie Sie sie in der Vielzahl unterschiedlicher Einrichtungen, die von Ihnen getragen werden, anbieten, braucht die Professionalität der Hauptamtlichen. Lassen Sie mich an dieser Stelle auf ein Thema zu sprechen kommen, das derzeit auch bei Ihnen im Landesverband intensiv diskutiert wird. Ich meine die Qualitätssicherung in der Pflege. Ich weiß, dass der ASB in Baden-Württemberg sich für eine verbesserte Qualität in der Altenpflege einsetzt. Sie haben sich in diesem Zusammenhang für verbindliche Qualitätsstandards ausgesprochen. Die Bundesregierung teilt dieses Ziel.

Um die Qualität in der Altenpflegeausbildung zu steigern, haben wir im Bundestag ein bundeseinheitliches Altenpflegegesetz verabschiedet. Wir wollen die Ausbildung auf ein einheitliches Niveau bringen, damit überall ein vergleichbar hoher Pflege-Standard in den Heimen gewährleistet wird. Und wir wollen die Ausbildungsinhalte erweitern, weil es heute in Heimen nicht allein darum geht, alten Menschen bei der Bewältigung ihres täglichen Lebens zu helfen, sondern mit kranken, behinderten und demenzkranken Menschen umzugehen. Das muss gelernt werden, dazu braucht man Sensibilität, Menschenliebe, Erfahrung aber auch ein breites Wissen. Beispielsweise über die Alzheimerkrankheit und darüber, wie sie Menschen verändert. Wer alte Menschen pflegt, muss auch krankenpflegerische Aufgaben übernehmen können. Leider blockiert Bayern dieses dringend erforderliche und überfällige Gesetz.

wir brauchen mehr und besser qualifizierte Kräfte. Aber wir brauchen genauso das freiwillige Engagement der vielen Mitglieder. Z. B. für zusätzliche Hilfen, für die den Hauptamtlichen im Berufsalltag oft zu wenig Zeit bleibt. Denken sie nur an die vielfältigen Besuchsdienste für Kranke und Senioren oder an die Hospizarbeit. Hier leisten ehrenamtliche Helferinnen und Helfer unverzichtbare Arbeit. Und ich bin sicher, der Bedarf an ehrenamtlichen Helfern wird in Zukunft noch steigen.

Umso mehr freue ich mich deshalb, dass auch so viele junge Menschen in Deutschland bereit sind, sich zu engagieren. Ich finde, das ist ein Zeichen für die Stärke unserer Gesellschaft. Wir wollen noch mehr Jugendlichen die Möglichkeit zum Engagement geben. Zum Beispiel durch die Ausweitung des Freiwilligen Sozialen Jahres. Seit Jahresbeginn hat die Bundesregierung die Mittel für das FSJ deutlich angehoben, so dass die Zahl der Plätze für die Freiwilligendienste um 50 % erhöht werden konnte. Und wir haben das Freiwillige Soziale Jahr aufgewertet. Junge Menschen, die eine Ausbildung im Krankenhaus oder im Pflegeheim beginnen wollen, bekommen künftig ein Zertifikat, mit dem sie ihre im FSJ erworbenen Qualifikationen nachweisen können.

Aber auch junge Menschen, die sich beruflich in eine andere Richtung orientieren, profitieren vom FSJ oder vom Ehrenamt: Sie erwerben soziale Kompetenzen, die heute in allen Bereichen sehr gefragt sind. Hilfsbereitschaft, Duchsetzungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Teamfähigkeit - das alles sind Eigenschaften die auch im Blick auf berufliche Herausforderungen von zentraler Bedeutung sind. Wer einmal eine komplette Jugendfreizeit geplant und organisiert hat, sammelt praktische Erfahrungen, die auch später in jedem Manangementbereich gut zu gebrauchen sind. Auch hier, im Jugendbereich, ist Ihr Landesverband sehr engagiert: Die Arbeiter-Samariter-Jugend in Baden-Württemberg hat 6.400 Mitglieder. Von Sportfreizeiten über Bildungsseminare bis zu Zeltlagern bieten Sie den Kindern und Jugendlichen ein sehr vielfältiges, abwechslungsreiches Programm und führen sie so an das freiwillige Engagement im ASB heran. Diese gezielte Nachwuchsarbeit ist eine Investition des ASB in die eigene Zukunft. Und sie ist eine Investition in die Zukunft der gesamten Gesellschaft.

Anrede,

unser Land braucht die ehrenamtliche Arbeit der Bürgerinnen und Bürger. Ihr Engagement ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Der Staat wird sich auch in Zukunft nicht aus seiner sozialen Verantwortung verabschieden. Aber er kann nicht alle Bedürfnisse befriedigen, er muß nicht alles an sich reißen und auch nicht alles entscheiden. Jedenfalls entspricht dies unserem modernen Staatsverständnis von einem partnerschaftlichen und aktivierenden Staat. Mehr Zivilgesellschaft heißt nicht weniger Staat, sondern weniger etatistisches Denken und Handeln. Das Verhältnis von Staat und Bürgergesellschaft ist kein Nullsummenspiel, es ist eine Zugewinngemeinschaft. Erst recht dann, wenn Aufgaben und Verantwortung von Staat und Gesellschaft neu bestimmt werden. Politik muß und wird die Menschen weiterhin gegen die großen Risiken absichern, aber viele Probleme im Alltag können besser durch bürgerschaftliches Engagement als durch staatliche Intervention geregelt werden. Entscheidend ist, dass der Staat in seinen Kernaufgaben stark ist. Mit einer kurzfristigen Senkung der Staatsquote auf 40 oder gar 35 % , wie sie jetzt von einigen gefordert wird, könnten diese Aufgaben nicht mehr wahrgenommen werden. Selbst wenn wir sämtliche Leistungen für Familien und Kinder streichen, - die Investitionen für die gesamte Verkehrsinfrastruktur auf Null fahren - und den Bildungs- und Forschungsetat komplett abschaffen würden, hätten wir noch nicht einmal die Hälfte dessen erwirtschaftet, was da gekürzt werden soll.

Nur sehr Reiche können sich einen armen Staat leisten. Alle anderen sind darauf angewiesen, - dass es auch in Zukunft gut ausgestattete öffentliche Schulen und Universitäten gibt, - dass genügend Polizeibeamte vor Ort sind, um für die Sicherheit auch der Menschen sorgen, die sich keinen privaten Wachdienst leisten können, - dass unsere Krankenhäuser auch weiterhin medizinisch notwendige Hilfe für alle erbringen können.

Wer all das in Frage stellte, gefährdete den Zusammenhalt der Gesellschaft. Das wäre Egoismus statt Solidarität - nach dem Motto: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Gegen eine solche Ellenbogen-Mentalität haben schon die sechs Berliner Zimmerleute Ende des 19. Jahrhunderts gekämpft und eine solche Gesellschaft wollen wir auch heute nicht. Heute wie damals setzen wir auf eine offene, solidarische Gesellschaft, in die alle ihre Fähigkeiten einbringen und an der alle teilhaben können.

Das ist heute wie damals keine Selbstverständlichkeit, sondern Ergebnis des Einsatzes vieler zum Wohle aller.

Willy Brandt wusste: "Nichts kommt von selbst. Und nur Weniges ist von Dauer. Darum besinnt Euch auf Eure Kraft. Und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und das man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll."

Dem Arbeiter-Samariter-Bund sage ich Dank für seine Leistungen in der Vergangenheit und wünsche Ihnen persönlich und dem Verband alles Gute für die Zukunft.