Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 16.08.2002
Untertitel: Staatsminister Nida-Rümelin stellt die These auf, dass der kulturpolitische Aufbruch der 70er Jahre in einer Hinsicht auf halbem Wege steckengeblieben sei: Eine genuine inhaltliche Öffnung der etablierten Kulturinstitutionen für die spezifischen ästhetischen Qualitäten der Popkultur sei in Deutschland nicht gelungen.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/68/432068/multi.htm
Die von Leslie Fiedler 1969 mit dem Titel eines Aufsatzes geprägte Forderung "Cross the Border. Close the Gap" steht für den Beginn einer bis heute andauernden Debatte über den Stellenwert der Popkultur. Fiedler attackiert in seinem Beitrag tradierte Dichotomien, die im Grunde auch in der Moderne nicht in Frage gestellt wurden. Ins Zentrum der Diskussion rückte insbesondere der Gegensatz zwischen "E" und "U", zwischen Hoch- und Subkultur. Den Hintergrund von Fiedlers Forderung bilden die für die 60er Jahre charakteristischen kulturellen Entwicklungen: in der bildenden Kunst die Hinwendung der Pop Art zu Alltagsphänomenen, in der Literatur der anti-elitäre Graswurzel-Empirismus der Beatniks, vor allem aber auch der Durchbruch der Popmusik zur Jugend- und Massenbewegung. Diese Entwicklungen flossen nach Ž68 - zusammen mit dem emanzipatorisch ausgerichteten politischen Mainstream - in das Projekt einer neuen Kulturpolitik ein. Öffnung und Partizipation waren die Leitideen dieser Politik, die "Kultur für alle" postulierte.
Die kulturpolitische Offensive der 70er Jahre war außerordentlich erfolgreich. Die Öffnung von etablierten Kulturinstitutionen für breite Schichten der Bevölkerung gelang in beeindruckendem Maße. Und im Zuge der Etablierung von Einrichtungen der Soziokultur wurde Kunst "entsakralisiert" und stärker in gesellschaftliche Bezüge eingebunden. Dies hat Räume eröffnet: Die freien Szenen sind seitdem in die Strukturen der öffentlichen Förderung einbezogen; Popkultur und Popmusik werden nicht mehr als moralzersetzende Schmuddelkinder gebrandmarkt.
Dennoch, so meine These, ist der kulturpolitische Aufbruch der 70er Jahre in einer Hinsicht auf halbem Wege steckengeblieben: Eine genuine inhaltliche Öffnung der etablierten Kulturinstitutionen für die spezifischen ästhetischen Qualitäten der Popkultur ist in Deutschland nicht gelungen - Gérard Mortier etwa hat dies einmal am Beispiel der Theaterlandschaft überzeugend dargelegt. Diese Einschätzung gilt auch für die Zeit nach dem Paradigmenwechsel der 70er Jahre. Die 80er Jahren waren charakterisiert von einer Ökonomisierung des kulturellen Diskurses - ich erinnere hier nur an die flächendeckende Verbreitung des Standortarguments. Im Musikbereich hat dies z. B. dazu geführt, dass klassische Musik zunehmend als popkulturelles Event inszeniert wird, Stichwort Festivalisierung. Ich will diese Entwicklung hier gar nicht bewerten. Mein Punkt ist nur: Eine inhaltliche Schließung des Grabens - um die Formulierung Fiedlers aufzugreifen - hat es nicht gegeben. Die Impulse der Popkultur wurden nicht wirklich in das bestehende Geflecht der Kultureinrichtungen integriert.
In den 90er Jahren trat ein neuer Elitarismus in Politik und Kulturszene hinzu - es ist übrigens bemerkenswert, dass sich dieser Chor zu einem Gutteil aus Protagonisten der 68er Bewegung zusammensetzt, flankiert von einem konservativen Ostinato. Geäußert wurde insbesondere ein Unbehagen an der Ausweitung des Kulturbegriffs. Kunst könne nicht anders als elitär sein, konstatierte beispielsweise 1997 der damalige Bundesminister Jürgen Rüttgers, und: der "erweiterte Kulturbegriff" sei "ein großes Übel unserer Zeit". Äußerungen wie diese legen zumindest implizit nahe, dass Popkultur einer kulturpolitischen Berücksichtigung nicht würdig sei.
Man kann die vorgebrachten Bedenken gegen die inflationäre Verwendung des Kulturbegriffs in Teilen durchaus nachvollziehen - nicht jede Ausrufung einer neuen Bier- , Beauty- oder Betriebskultur stellt eine gewichtige Innovation dar. Aber die Behauptung, für diese Phänomene sei die Kulturpolitik der 70er Jahre verantwortlich, scheint mir doch in die Geschichtsklitterung zu führen. Und was die Kritik an der Popkultur betrifft, verfehlt das Argument insofern den Punkt, als niemand bestreiten würde, dass es im Bereich der Popularkultur Banales gibt. Nicht alles, war wir etwa zur Popmusik zählen, ist Kunst von hoher ästhetischer Qualität. Aber ebenso ist nicht alles, was nach herkömmlichen Kategorien zur E-Musik zählt, hohe Kunst. Es gibt eben innerhalb beider Bereiche ein Qualitätsgefälle, ebenso wie die kulturelle Produktion in beiden Bereichen von kommerziellen Gesichtspunkten mitbestimmt wird.
Vor diesem Hintergrund - und angesichts der Schwierigkeiten, begründet zwischen "U" und "E" zu unterscheiden - plädiere ich dafür, die spezifischen ästhetischen Qualitäten der Popkultur im weitesten Sinne sehr ernst zu nehmen. Pop und Popmusik können irritieren, neue Formen der Kommunikation initiieren, Mythen bilden. Popmusik kann ein Lebensgefühl auf den Punkt bringen - in zwei Zeilen und einem Riff. Und Popmusik macht heute einen nicht geringen Teil unseres kulturellen Gedächtnisses aus - sie prägt Generationen. Es sind nicht zuletzt diese Aspekte, die in der elitaristischen Wendung gegen die Popkultur außen vor bleiben.
Die skizzierten Entwicklungen haben nichts daran geändert, dass die öffentlichen Förderstrukturen einem Schubladendenken verhaftet sind - es gilt sozusagen immer noch die Aufforderung "Mind the gap!". Und es ist auch zu konstatieren, dass innerhalb der Förderungen nach wie vor eine deutliche finanzielle Asymmetrie zwischen "E" und "U" besteht. Es gibt für diese Situation gute Gründe - die Zahl der tätigen Künstler spielt hier eine Rolle, ebenso die Dauer der Ausbildung. Dennoch sollten wir das Verhältnis von "E" und "U" immer wiederhinterfragen, auch wenn man sehen muss, dass sich der kulturpolitische Stellenwert einer Sparte der Kunst nicht allein an der Förderhöhe ablesen lässt. Der Staat hält sich z. B. in der Förderung von Literatur zurück und konzentriert sich auf die Schaffung intakter Rahmenbedingungen für die Verlagsbranche. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass er der Literatur gegenüber anderen Sparten einen geringeren Stellenwert beimisst.
Eine Anmerkung zur musikalischen Bildung: An unseren Schulen ist es nicht mehr selbstverständlich, dass die für den Musikunterricht eingesetzen Lehrer überhaupt über eine Fachausbildung verfügen. Und die qualifizierten Lehrkräfte entstammen überwiegend einer von "klassischer" Musik geprägten Ausbildung und treffen damit auf Schüler, die ihre musikalische Sozialisation weitgehend der Popkultur verdanken. Hier liegt zugleich ein Problem und ein noch weitgehend ungenutztes Potenzial: Wenn es gelänge, näher an den musikalischen Erfahrungen der Jugendlichen anzusetzen, könnte der Musikunterricht lebendiger und in einem substanziellen Sinne bereichernder werden. Ich glaube, es würde sich lohnen, Lehrpläne und Lehrerausbildung auf einen stärker integrativen Ansatz hin durchzusehen.
Zu den Defiziten der kulturellen Bildung tritt in den etablierten Kulturinstitutionen wie den Theatern, Opern- und Konzerthäusern eine Alterslücke hinzu. Die öffentlich geförderten Angebote erreichen Menschen zwischen 15 und 30 nur eingeschränkt. Ich halte dies für bedenklich, denn Popmusik und Popkultur prägen heute unsere kulturell verfassten Lebensformen in signifikantem Umfang mit. Problematisch scheint mir die Alterslücke u. a. unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Integration von Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund. Trotz erheblicher Zuwanderung - die auch künftig noch notwendig sein wird - haben sich in Deutschland bislang Parallelgesellschaften in bedrohlichem Ausmaß nicht entwickelt. Aber die Gefahr eines Auseinanderdriftens der Gesellschaft in kulturell geschlossene communities ist durchaus real. Und gerade in diesem Zusammenhang - der Prägung kultureller Identitäten - spielt Popkultur eine eminente Rolle.
Popkultur ist heute in einem allgemeinen Sinn akzeptiert - Pop ist gesellschaftsfähig geworden, und, von einigen Kassandra-Rufen abgesehen, auch "kulturpolitikfähig". Der Befund darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass wir von einer genuinen Integration der Popkultur in unsere Kultur- und Bildungseinrichtungen noch ein gutes Stück entfernt sind. Insofern sind die von Fiedler benannten Grenzen und Gräben nicht vollständig überwunden. Und so gesehen ist auch der kulturpolitische Aufbruch der 70er Jahre keineswegs ein abgeschlossenes Projekt.
Die beschriebenen Defizite werfen die Frage nach popn Handlungsfeldern auf. Ich möchte an die Gewichtungen erinnern: Im Rahmen der föderalen Verfasstheit Deutschlands tragen Länder und Kommunen rund 90 % der Ausgaben für Kunst und Kultur, 10 % entfallen auf den Bund. Daran soll sich nichts ändern, ebenso wenig wie an der Zuständigkeit der Bundesländer u. a. für die Förderung der Kulturwirtschaft und die der Städte und Gemeinden für Probleme, die den kommunalen Nahbereich betreffen - Stichwort Probenräume oder die Ermöglichung einer lebendigen Clubszene.
D. h. nun keineswegs, dass der Bund einer Verantwortung für den Bereich der Popkultur enthoben wäre. Zu den Aufgaben des Bundes gehört vor allem die Ordnungspolitik. Das klingt trocken und ist es oft auch. Man darf aber nicht übersehen, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen das kreative Klima in unserem Land erheblich beeinflussen. Eines der drängendsten Probleme der Musikbranche besteht in den weitreichenden Möglichkeiten der Erstellung digitaler Kopien, Stichworte CD-Brennerei und Internet-Piraterie. Diese Möglichkeiten bedrohen die künstlerische Kreativität und ihre wirtschaftliche Basis ganz erheblich. Angesichts dessen sieht die Bundesregierung in der Umsetzung der EU-Richtlinie zum Urheberrecht im Informationszeitalter eine zentrale Voraussetzung für die Stärkung der Branche. Den Gesetzentwurf, der am 31. Juli vom Bundeskabinett beschlossen wurde, haben wir in zahlreichen Gesprächen mit der Musikwirtschaft beraten, und ich bin froh, dass dabei ein weitgehender Konsens erzielt werden konnte. Damit ist ein wichtiger erster Schritt zur Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen im digitalen Umfeld getan, weitere werden folgen.
Ein weiterer Punkt der Diskussion betrifft Fördermaßnahmen des Bundes. Ich führe derzeit Gespräche mit den Ministerpräsidenten der Länder über eine Systematisierung der kulturpolitischen Zuständigkeiten. Neben einer Reihe von Punkten, über die wir bereits Einigung erzielt haben, besteht bislang ein Dissens: Einige Chefs der Staatskanzleien der Länder bestreiten eine Kompetenz des Bundes für die bundesweite Förderung von Künstlern, und dies betrifft auch die Bundesförderung im Musikbereich. Ich vertrete eine andere Auffassung. Dennoch habe ich zugesichert, bis zum Abschluss der Gespräche am Jahresende keine neuen Förderungen des Bundes in den strittigen Bereichen zu beschließen, auch wenn es durchaus Überlegungen gibt - übrigens in enger Abstimmung mit den Fachministerien der Länder - die bisherige Förderung auf dem Gebiet der Popmusik neu zu akzentuieren.
Unstreitig sind die Kompetenzen des Bundes in der Vertretung Deutschlands nach außen. Dazu gehört aus meiner Sicht auch ein Deutsches Musikbüro, das nicht zuletzt den Export deutscher Produktionen stärken könnte. Mit Blick auf die Konzeption eines solchen Büros hat der Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft unter finanzieller Beteiligung auch meiner Behörde eine Studie in Auftrag gegeben, die im Herbst vorliegen wird. Im Dialog zwischen Branche und den beteiligten Ressorts wird dann konkret über den Aufbau des Büros entschieden werden. Auch weitergehende Förderungen sind aus meiner Sicht denkbar. Ich habe meine Rolle in diesem Zusammenhang mit dem Begriff der "ausgestreckten Hand" charakterisiert. Dies gilt nach wie vor. Voraussetzung für eine Beteiligung meiner Behörde ist - in einer gewissen Analogie zur Filmförderung - die Bereitschaft der Branche zu einem eigenen finanziellen Engagement.
Ich möchte abschließend das Thema kulturelle Vielfalt und Markt ansprechen. Die Rolle des Marktes in diesem Zusammenhang ist keineswegs immer negativ. Marktwirtschaft kann durchaus Vielfalt befördern und damit zur kulturellen Öffnung beitragen. Ich denke hier an die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die nicht zuletzt durch die Einbindung in internationale Wirtschaftsbeziehungen in bemerkenswertem Umfang kulturell lebendiger geworden ist. Auch Comics, Kaugummis und Elvis Presley haben zur Entstehung einer offenen Gesellschaft beigetragen. Dennoch kann der Markt aus seiner Logik heraus Nivellierung und Standardisierung bewirken - das Kartellrecht z. B. wurde ja geschaffen, um ein Mininum an Vielfalt als Voraussetzung für Konkurrenz zu erzwingen.
Musikalische Vielfalt ist eine zentrale Dimension kultureller Vielfalt. Popmusikalische Vielfalt aber scheint durch die gegenwärtige Ausrichtung der deutschen Medien, insbesondere des Radios, gefährdet. Ich habe eine Studie über die Einsätze deutscher und deutschsprachiger Produktionen in den Rundfunkprogrammen in Auftrag gegeben. Sprachanteile und Herkunft der Musik im Hörfunk sind nicht das einzige Kriterium für Vielfalt, aber doch ein gewichtiger Indikator. Die von Media Control erhobenen Daten liegen vor, und obwohl die Auswertung noch nicht abgeschlossen ist, lassen sich bereits einige bemerkenswerte Aussagen treffen. Von Anfang Mai 2001 bis Ende April 2002 wurden 94 öffentlich-rechtliche und private Rundfunkprogramme in Deutschland beobachtet. Die Sendeprofile zerfallen dabei in zwei relativ klar abgrenzbare Gruppen: das Profil "deutsche Schlager, Oldies, Volksmusik" einerseits und "Rock und Pop-Mainstreamformate" andererseits.
In der ersten Gruppe ist der Anteil deutschsprachiger Titel hoch, in der Regel bewegt er sich zwischen 85 und 95 % . In der zweiten, auch in der Reichweite der angesprochenen Hörer deutlich größeren Gruppe dagegen ist der Anteil sowohl der deutschen als auch der deutschsprachigen Produktionen geradezu dramatisch gering. Die Einsätze deutscher Produktionen liegen zwischen 20 und 10 % und der Anteil deutschsprachiger Titel in der Regel deutlich unter 10 % . Von den 94 untersuchten Programmen weisen 51 einen Anteil von weniger als 5 % deutschsprachiger Titel auf. Diese Sender erreichen immerhin 39 Mio. Hörer, d. h. jeder zweite Hörer bekommt von 20 Titeln höchstens einen in deutscher Sprache zu hören. Und die 30 größten Radiosender in der Pop-Mainstream-Gruppe spielten im Schnitt pro Tag ( d. h. in 24 Stunden ) nur drei deutschsprachige Titel. Eines der größten öffentlich-rechtlichen Mainstream-Programme setzte sogar in einem Jahr insgesamt nur 141mal einen deutschsprachigen Song ein - dies bedeutet einen Anteil von 1,1 % , liegt aber immer noch über einem der größten Privatsender, der es in 365 Tagen auf ganze drei Einsätze deutschsprachiger Titel brachte.
Nun möchte ich hier keine Einzelkritik betreiben und nenne deshalb auch keine Sendernamen. Der Gesamtbefund wird differenziert zu betrachten sein - ich denke an die "jungen" Programme der öffentlich-rechtlichen Sender, von denen sich einige z. B. engagiert um Newcomer kümmern. Und es kann auch nicht unterschlagen werden, dass im Bereich des deutschen Schlagers bundesweit Programme existieren, die ältere und neuere Produktionen regelmäßig und mit einem hohen Anteil am Gesamtprogramm senden. Ich werde die Daten nach Abschluss der Auswertung zunächst denjenigen zur Verfügung stellen, die für die Medienaufsicht auch zuständig sind.
Mir geht es hier darum, ein Problem ins Bewusstsein zu rücken und einen öffentlichen Diskurs zu initiieren, denn aus meiner Sicht prägt der Grad der musikalischen Vielfalt im Radio die kulturelle Verfasstheit unseres Landes entscheidend mit. Programmfreiheit ist ein hohes Gut. Aber in dem Wort steckt auch "programmatisch", d. h. zielsetzend, richtungsweisend, vorbildlich. Und das Argument, es werde doch das gespielt, was die Hörer hören wollen, scheint mir zweifelhaft, denn durch die Ausrichtung der Programme wird die Wahrnehmung auf ein immer kleineres Repertoire verengt. Nach Angaben der deutschen Landesgruppe der IFPI ( International Federation of Phonographic Industries ) ist die Zahl der Titel, die in der Rotation zum Einsatz kommen, von ursprünglich 1,5 Millionen bei den großen Sendern inzwischen auf rund 1.000 ( und teilweise bereits darunter ) eingeschmolzen. Während einige Titel permanent wiederholt werden, verengt sich der Zugang für junge und auch etablierte Künstler auf ein Rinnsal. Darin sehe ich eines der größten Probleme für die Entwicklung der Rock- und Popmusik in Deutschland.
Einige Musikredakteure werden jetzt sicherlich auf die Verantwortung der Musikwirtschaft verweisen, die sich vom kurzfristig erzielbaren Erfolg wieder auf den langfristigen Aufbau von Künstlern besinnen müsse. Auch das ist richtig. Wer die Diskussion in den letzten Monaten verfolgt hat, wird bemerkt haben, wie dieses Thema ins Bewusstsein dringt. Die Zeit ist reif, dass Medien und Branche wieder aufeinander zugehen. Dort, wo ich dabei helfen kann, werde ich es gerne tun.
Ich selbst habe mit meiner Bemerkung im Bundestag für Erstaunen gesorgt, dass ich offen sei, das Thema Quote zu diskutieren. Dieses Thema ist natürlich in erster Linie eines, das die Länder angeht, die ja die Medienaufsicht haben. Doch wie nicht nur die Hörfunkanalyse zeigt, betrifft das Thema die Arbeitsbedingungen der Künstler elementar. Und es betrifft auch die Interessen eines wichtigen Wirtschaftszweiges, der nach schon schlechten Daten in den Vorjahren 2001 mit einem Umsatzrückgang von 10,2 % ein bedenkliches Ergebnis eingefahren hat. Wenn Frankreich im gleichen Jahr seine Umsätze um fast 10 % steigern konnte, wenn der CD-Absatz von 1997 bis 2001 vor allem dank des Zuwachses bei nationalen Produktionen von 105 Mio. auf 125 Mio. Einheiten gestiegen ist, dann ist es zumindest nicht abwegig zu fragen: Wie machen das die Franzosen?
Frankreichs Quotenregelung hat zwei Komponenten - eine Quote, die auf den Anteil der französischen Sprache abzielt und davon wiederum eine Teilquote, die den Anteil von Neuheiten vorschreibt. Durch den Bezug auf die Sprache, die ja auch in Kanada, der Schweiz und in den ehemaligen Kolonien gesprochen wird, ist das Modell vor dem Vorwurf des Protektionismus geschützt und hatte so auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand. Dank der seit 1996 geltenden Regelung haben Wechselwirkungen eingesetzt: Mehr französisch sprechende Künstler erhalten in den Medien Sendeplätze, und die Branche wiederum steigert ihre Umsätze. Die Produktions- und Promotion-Investitionen für französischsprachige Künstler haben sich von 1994 bis 1999 vervierfacht und für Nachwuchskünstler sogar gut verfünffacht.
Auch wenn ich Elemente der französischen Quotenregelung für interessant halte, scheint sie mir aus mehreren Gründen nicht auf Deutschland übertragbar. Wir haben eine föderale Rundfunkordnung mit einem dualen System aus öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlich organisierten Sendern, und der Eingriff in die Programmfreiheit ist problematisch. Wenn ich aber die Parallele ziehe zur Diskussion um Gewalt in den Medien, zur Debatte über die Durchsetzung des Jugendschutzes, kann ich mir durchaus vorstellen, dass auch in der Quotenfrage das Prinzip der regulierten Selbstregulierung greifen kann. Dies ist in einer zivilen Gesellschaft, für die Eigenverantwortung einen hohen Stellenwert hat, der bessere Weg.
Bevor man über eine Quote redet, muss man sich über die Ziele verständigen. Hier gibt es für mich zwei wesentliche Punkte: Zum einen sprechen wir innerhalb der EU über die Bewahrung kultureller Vielfalt. Dazu gehört für mich nicht zuletzt, dass keine Sprache eine übermächtige Dominanz über andere erlangt, und dass neben der heimischen auch andere europäische Sprachen eine Chance erhalten. Dies muss auch für die Medien gelten. Zum anderen: Es müssen wieder deutlich mehr Titel in die Senderotation aufgenommen werden, mit dem Ziel, sowohl Newcomern als auch etablierten Künstlern mit neuen Werken größere Chancen zu geben. Die langfristigen wirtschaftlichen Interessen der Popmusikbranche scheinen mir mit dem gesellschaftlichen Interesse, kulturelle Vielfalt zu fördern, weitgehend zu konvergieren. Dies ist Ansatzpunkt und Chance einer Kulturpolitik der "ausgestreckten Hand".