Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 17.08.2002

Anrede: Lieber Klaus, liebe Kolleginnen und Kollegen!liebe Kolleginnen und Kollegen!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/51/430651/multi.htm


Sperrfrist: 11.00 Uhr ( Redebeginn! )

Bitte Sperrfrist beachten!

Vielen Dank für Eure Einladung.

Ich will gleich zur Sache kommen:

In fünf Wochen nehmen die Bürgerinnen und Bürger bei der Bundestagswahl eine Weichenstellung vor. Dabei geht es um eine Richtungsentscheidung für unser Land. Wir wollen unseren Weg der Modernisierung und des Zusammenhalts weitergehen. Union und FDP wollen - großenteils in altbekannter Besetzung - an ihre gescheiterte Politik der Deregulierung und des Sozialabbaus anknüpfen. Unsere Bilanz der ersten Periode kann sich sehen lassen. Selbstverständlich haben wir nicht alle unsere Ziele erreicht und konnten nicht alles ausbügeln, was 16 Jahre versäumt oder falsch gemacht wurde. Gerade deshalb müssen wir unseren Weg der Erneuerung und des Zusammenhalts fortsetzen.

Am Arbeitsmarkt gibt es klare Alternativen, sowohl was Arbeitnehmerrechte angeht, als auch bei der Arbeitsmarktpolitik. Bei der politischen Gestaltung von Arbeitnehmerrechten ist die gleichberechtigte Teilhabe der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mein Maßstab:

Deshalb haben wir die Betriebsverfassung modernisiert, einen gesetzlichen Teilzeitanspruch eingeführt unddie sozialen Einschnitte der Kohl-Zeit bei Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung korrigiert. Die Tarifautonomie ist für mich ein zentraler Pfeiler unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Andere stellen sich die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen anders vor: Die Union hat angekündigt, das Günstigkeitsprinzip zu Lasten der Beschäftigten zu ändern. Die wollen, dass Tarifverträge ihre Schutz- , Ordnungs- und ihre Friedensfunktion verlieren.

Die wollen einen Lohndumping-Wettbewerb der Betriebe. Die wollen Tarifverträge zur unverbindlichen Richtschnur degradieren. Die wollen die Streikfähigkeit der Gewerkschaften aushebeln. Die wollen die Betriebsverfassung wieder auf den Stand von vor 30 Jahren zurückversetzen. Die wollen den Teilzeitanspruch kaputtmachen. Die wollen schon wieder am Kündigungsschutz herumfummeln. Diesmal geht es gegen ältere Arbeitnehmer. Sie sagen, das sei alles freiwillig. Aber das stimmt nicht. Die freie Entscheidung gibt es in Wirklichkeit gar nicht. Hier sollen Arbeitnehmer erpressbar werden. Das ist zynisch und unsozial.

Tarifautonomie, Betriebsverfassung, Teilzeitanspruch, Kündigungsschutz:

Wer das alles zusammenzählt, kann nur zu einem Schluss kommen: Die anderen wollen die Machtbalance zwischen Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften einerseits und den Arbeitgebern andererseits einseitig zum Vorteil der Arbeitgeber verändern. Das ist eine klare Kampfansage: An Euch, an mich und an die Sozialdemokratie,

Wer das nicht will, muss am 22. September die SPD und ihre Kandidatinnen und Kandidaten wählen. Die wollen das alles wirklich. Auch wenn der Kandidat sich seit einigen Wochen nur noch von Kreide ernährt - auf Rügen hatte man schon Angst um den Kreidefelsen. Deswegen sage ich: Nehmt das ernst, was die sagen und was bei denen im Programm steht. Wie wenig sich der Kandidat um die Belange der Beschäftigten am Bau schert, hat er mit seiner Blockade unseres Tariftreuegesetzes gezeigt. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten das alles bei ihrer Entscheidung am 22. September wissen. Wir sagen es ihnen. Und Ihr müsst es ihnen auch sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die anderen wollen, ist der gerade Weg zurück in die Vergangenheit. Was die wollen, führt zur sozialen Spaltung unserer Gesellschaft.

Da stellen wir uns dagegen. Das werden wir nicht zulassen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Dazu brauche ich Eure Unterstützung. Bei den Arbeitnehmerrechten könnt Ihr Euch auf mich verlassen. Ihr könnt Euch auch darauf verlassen, dass wir den Arbeitsmarkt umfassend reformieren werden, damit Arbeitslose in Arbeit kommen und bestehende Arbeit gesichert wird.

Gestern hat mir die Hartz-Kommission ihre Vorschläge überreicht. Damit liegt ein Gesamtkonzept vor, bei dem es sich um einen wirklich großen Wurf handelt.

Die Kommission hat ihre Vorschläge einstimmig beschlossen. Damit haben wir jetzt endlich die Chance, die teilweise lähmenden Auseinandersetzungen des letzten Jahrzehnts zu überwinden. Diese Chance werden wir nutzen. Und wir sind die einzigen, die das können. Schon morgen werden wir auf unserer Parteikonferenz beschließen, wie wir die Vorschläge unverzüglich umsetzen. Ich bin sicher, dass die Sozialdemokraten mit großer Geschlossenheit dafür stimmen werden, die Hartz-Vorschläge schnell umzusetzen.

Das Gesamtkonzept orientiert sich an drei Leitplanken:

der Schaffung neuer Arbeitsplätze, dem schnellen Zusammenbringen von Arbeitslosen und offenen Stellen undeinem erstklassigen Service der Arbeitsämter für Arbeitsuchende und Arbeitgeber. Lasst mich ein Element des Gesamtkonzeptes herausgreifen, von dem ich weiß, dass es für Euch von besonderem Interesse ist: Wir werden die Zeitarbeit vermittlungsorientiert ausweiten. Davon versprechen wir uns, dass dies für viele Arbeitslose die Brücke zurück in die Arbeitswelt ist. Ziel ist der Übergang in reguläre und unbefristete Beschäftigung. Ich bin sicher: Zeitarbeit kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Ich weiß, Ihr habt Vorbehalte bei der Zeitarbeit. Wir werden bei der Ausweitung sicherstellen, dass es sich dabei um tariflich abgesicherte Beschäftigung handelt. Hier sind die Tarifparteien gefordert, entsprechende Verträge abzuschließen. Ich werde sicherstellen, dass es Zeitarbeit am Bau nur mit Eurer Zustimmung geben wird. Darauf könnt Ihr Euch verlassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Lasst uns das Gesamtkonzept zusammen umsetzen. Ich bin überzeugt, dass wir Arbeitslosigkeit damit entscheidend zurückdrängen werden.

Beim Abbau der Arbeitslosigkeit sind wir trotz aller Fortschritte, die es in den letzten vier Jahren zweifelsfrei gegeben hat, nicht so weit vorangekommen, wie wir uns alle das erhofft haben. Wir müssen an die Zeit des Beschäftigungsaufbaus, den es vor dem weltwirtschaftlichen Einbruch gegeben hat - 2001 hatten wir 1,2 Millionen Erwerbstätige mehr als 1998 - , schnell wieder anknüpfen. Gemeinsam werden wir das auch schaffen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Die Sicherung der Arbeitsplätze auf dem Bau ist und bleibt für mich ein zentrales Ziel. Dreh- und Angelpunkt ist dabei der Kampf gegen illegale Beschäftigung und Schwarzarbeit. Es kann nicht angehen, dass durch einen unfairen Wettbewerb viele Betriebe in ihrem Bestand bedroht werden, da sie im Preiskampf gegen unseriöse Anbieter nicht bestehen können. Deshalb haben wir gehandelt: Beim Schlechtwettergeld, gegen illegale Beschäftigung und gegen Schwarzarbeit am Bau. Wir haben das Steuerabzugsverfahren eingeführt, das gerade Ihr lange gefordert habt. Mit unserem Entsendegesetz haben wir die Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping verbessert. Bei der Herstellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Zuge der EU-Osterweiterung haben wir angemessene Übergangsfristen durchgesetzt. Die rechtliche Stellung der Beschäftigten am Bau war noch nie so stark wie heute, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben für eine Verstetigung der Auftragslage gekämpft. Noch hat sich die Auftragslage nicht erholt, aber wir haben wichtige Weichen gestellt: Ich denke hier an das Zehn-Punkte-Programm, das wir zusammen mit Euch, der Bauindustrie und dem Bauhauptgewerbe verabschiedet haben. Die Investitionen in Straße und Schiene haben wir von 1998 bis heute um mehr als 21 Prozent erhöht. Mit den UMTS-Mitteln haben wir neue Spielräume geschaffen: Bis Ende 2003 werden allein 4,4 Milliarden Euro im Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms zusätzlich in die Verkehrswege fließen.

Hinzu kommt unser Anti-Stau-Programm mit insgesamt weiteren 3,7 Milliarden Euro aus der Lkw-Maut. Mit dem Stadtumbau Ost geben wir neue Impulse für lebenswerte und attraktive Städte in den neuen Ländern. Wir werden bis zum Ende des Jahrzehnts 90 Milliarden Euro in die Verkehrsinfrastruktur investieren. Das ist wahrlich kein Pappenstiel. Das schafft über viele Jahre Aufträge und sichert Arbeit langfristig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

auch bei den sozialen Sicherungssystemen stehen wir im September vor einer klaren Entscheidung. Ihr habt mein Wort darauf, dass wir an einem solidarischen Gesundheitssystem festhalten werden. Wir setzen auf Solidarität:

Zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Jung und Alt, zwischen Besserverdienenden und Geringverdienenden. Wo sind die Unterschiede zwischen uns und den anderen? Wir werden sicherstellen, dass alle Menschen unabhängig vom Geldbeutel die notwendige medizinische Versorgung bekommen. Die anderen setzen auf eine Zwei-Klassen-Medizin. Mit uns bleibt es bei der solidarischen und paritätischen Finanzierung des Gesundheitssystems. Eine Aufteilung in Grund- und Wahlleistungen wird es mit uns nicht geben. Wir wollen einen einheitlichen Leistungskatalog beibehalten, der alle medizinisch notwendigen Leistungen umfasst. Wir haben den Risikostrukturausgleich zwischen den Kassen neu und fair geregelt. Wir wollen, dass die Kassen im Wettbewerb um die beste Versorgung stehen, und nicht um die besten Risiken. Dabei werden vor allem auch die Kassen im Osten unterstützt, weil wir gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West wollen. Teufel, Koch und der Kandidat haben gegen diesen Ausgleich eine Verfassungsklage eingereicht. Wenn sie damit Erfolg hätten, müssten die Beiträge im Osten um 6 Prozent steigen - mit allen Folgen, die das für die Beschäftigung dort hätte. Das ist deren Vorstellung von Solidarität. Wir dagegen setzen weiter auf stabile Beiträge und Solidarität. Bei den anderen hätten Kranke, Ältere, Normalverdiener und die Beschäftigten in den neuen Ländern die Zeche zu zahlen. Auch bei der Gesundheit sind die Alternativen damit klar, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Lasst mich kurz ein Wort zur Rente sagen. Hier ist es schon interessant, mit welcher Dreistigkeit die Union versucht, die Menschen für dumm zu verkaufen. Die setzen darauf, dass die Wähler vergessen haben, dass die Union die Partei der Rentenlüge ist. Jahrelang sind Blüm und Seehofer durchs Land gezogen und haben gesagt, die Rente sei sicher. Derweil sind die Beiträge immer weiter gestiegen. Als sie nicht mehr weiter wussten, haben sie das Rentenniveau gekürzt. Der Trick hieß damals "demographischer Faktor". Wir haben diesen Unsinn gestoppt und eine faire und zukunftsweisende Reform durchgesetzt. Jetzt hat Seehofer die Wiedereinführung des demographischen Faktors angekündigt. Das war vor vier Jahren unanständig und das ist heute genauso unanständig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hier wird auf die Vergesslichkeit der Menschen gesetzt. Ich bin sicher: Das werden die Wählerinnen und Wähler der Union nicht durchgehen lassen. Und Ihr könnt dazu beitragen, indem Ihr darüber informiert, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die anderen wollen ein sogenanntes "3 mal 40" -Programm. Kernpunkte sind die Absenkung des Spitzensteuersatzes und der Staatsquote. Allein das Ziel, bei der Staatsquote auf unter 40 Prozent zu kommen, bedeutet Ausfälle für die öffentlichen Haushalte von 170 Milliarden Euro. Ein solcher Rückzug des Staates heißt: Dem Sozialstaat wird der Garaus gemacht. Es gibt keinen Spielraum für Zukunftsinvestitionen. Das geht alles zu Lasten derjenigen, die auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen sind. Was bedeuten Ausfälle in dieser Größenordnung? Selbst wenn die sämtliche Leistungen für Familien und Kinder streichen, die dringend erforderlichen Verkehrsinfrastrukturinvestitionen auf Null bringen, und den Bildungs- und Forschungsetat noch oben drauf legen, haben die nicht die Hälfte von dem eingespart, was sie ankündigen. Die Union setzt die Abrissbirne an die Grundmauern des Sozialstaates und die Zukunft unseres Landes. Darüber müsst Ihr mit Euren Kollegen reden. Das müssen alle am 22. September wissen, wenn sie in der Wahlkabine stehen.

Eine Konsequenz der Kohl-Jahre waren auch hunderttausende Jugendliche ohne Perspektive. CDU / CSU und FDP hatte diese Jugendlichen abgeschrieben. Sie wurden schlicht allein gelassen. Wir aber kümmern uns: Wir haben mit dem Ausbildungskonsens, den wir im Bündnis für Arbeit verabredet haben, und mit unserem JUMP-Programm mehr als 450.000 Jugendlichen eine neue Perspektive auf Ausbildung, Qualifizierung oder Arbeit gegeben. Damit hatten wir in den letzten beiden Jahren endlich wieder mehr Ausbildungsplätze als Bewerber. Das ist sozialdemokratische Politik. Ich weiß, die Situation ist in diesem Jahr aufgrund der konjunkturellen Lage besonders schwierig: Die betrieblichen Ausbildungsplätze sind um 7 Prozent zurückgegangen. Derzeit gibt es eine Ausbildungsplatzlücke von rund 110.000 Stellen. Deswegen erwarte ich von den Arbeitgebern, dass sie wie in den vergangenen beiden Jahren ihrer Pflicht nachkommen und die jungen Menschen ausbilden, liebe Kolleginnen und Kollegen! Denn Unternehmen, die jetzt nicht ausbilden, werden in wenigen Jahren die Fachkräfte fehlen. Eine gute Ausbildung zu haben, ist für mich - wie für Euch auch - eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Das gleiche gilt für die Bildung. Wir wollen, dass jeder junge Mensch eine gerechte Chance hat, Deutschlands beste Schulen zu besuchen. Das darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Gleiche Chancen in der Bildung sind mir ein Herzensanliegen. Auch bei den Schulen brauchen wir Reformen: Wir werden deshalb in der nächsten Legislaturperiode 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellen, damit 10.000 zusätzliche Ganztagsschulen entstehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich habe über Reformen und über die langen Linien unserer Politik gesprochen.

Aufgrund der Reformen, die wir schon umgesetzt haben, ist Deutschland heute moderner und wettbewerbsfähiger als vor vier Jahren. Wir sind wirtschaftlich so stark, dass wir die aktuellen Probleme gemeinsam meistern werden. Und zu den langen Linien gehören Investitionen in die Infrastruktur und die Förderung der Beschäftigung am Bau. Die nächsten Reformschritte stehen fest: am Arbeitsmarkt, bei der Gesundheit, in der Bildung. Die Alternativen sind klar. Aber die Entscheidung für uns fällt nicht vom Himmel. Wir müssen uns alle anstrengen. Bitte sprecht darüber mit Euren Kollegen in den Betrieben, in den Vereinen, in den Familien und im Freundeskreis. Und vergesst die Nachbarn nicht. Ich bin sicher, gemeinsam werden wir das schaffen!