Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 30.08.2002
Untertitel: Schröder: "Wenn man hierher kommt und sich das Gelände anschaut, dann stellt man zweierlei fest: Auf der einen Seite industrielle Brache mit noch sichtbaren Verwüstungen durch die Zeitenwende, auf der anderen Seite aber auch bereits ermutigende Zeichen von Hoffnung."
Anrede: Sehr geehrter Herr Lee, verehrte liebe Frau Botschafterin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete, liebe Gäste,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/436338/multi.htm
es ist schon deutlich geworden: Mit der heutigen Grundsteinlegung verbindet sich ein doppeltes Signal an die Region, aber auch an Deutschland insgesamt. Ich bin - man konnte es wahrscheinlich hören - von Berlin aus mit dem Hubschrauber hierher gekommen und habe sehen können, was die Hochwasserkatastrophe - zwar nicht vergleichbar mit den Schäden in anderen Regionen - auch hier in der Landwirtschaft und an Verbindungs- und an Wirtschaftswegen angerichtet hat. Die Deiche so sieht es aus - haben gehalten. Das wird alle freuen. Aber auch hier und vor allen Dingen im Land Sachsen-Anhalt haben viele Menschen durch die Katastrophe Hab und Gut verloren. Viele Existenzen sind bedroht.
Deswegen gibt es zwei notwendige Signale; sie haben auch mit diesem Projekt zu tun. Eines heißt: Gerade in Zeiten, in denen die Schwierigkeiten übergroß sind oder zu sein scheinen, braucht man Signale der Hoffnung. Das Projekt hier mit einem Investitionsvolumen in der Größenordnung von mehr als einer Milliarde Euro ist gleichsam eine Art Leuchtturm in schwierigen Zeiten.
Darum: Auch wenn wir über die Frage besorgt sind, wie wir die Schäden ausgleichen und alle Kraft darauf konzentrieren, ist es gerade in einer solchen Zeit wichtig, dass das Projekt hier, und zwar heute, begonnen und zügig und erfolgreich zu Ende geführt wird. Ich glaube, dafür bürgen diejenigen, die so sehr für diese Region gekämpft haben. Herr Gatzke hat das schon viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, getan.
Ich denke, Ihre Kollegen nehmen es mir nicht übel - Herr Ridder und andere auch nicht - , wenn ich das sage, der Sie das in dieser Region schon über so lange Jahre und Jahrzehnte getan haben. Auch wenn die Bedingungen andere und nach unseren Maßstäben alles andere als glücklich waren, so bleibt Ihre persönliche Leistung und die Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestehen - eine Lebensleistung, die, wie man ja sieht, noch lange nicht zu Ende ist - , auch bei allen Widrigkeiten, denke ich. Auch das gilt es, in solchen Situationen einmal auszusprechen.
Hier ist heute nicht der Ort, so lange über die Hochwasserkatastrophe und die Folgen zu reden. Nur so viel: Ganz ähnlich, wie wir um dieses Projekt gekämpft haben - das betrifft die frühere Landesregierung just wie die jetzige Landesregierung; das meint aber auch die Bundesregierung - und mancher Widerstand in Europa und anderswo überwunden werden musste, geht es jetzt darum, die Folgen der Hochwasserkatastrophe zu beseitigen.
Da gilt es dann, die alten guten deutschen Tugenden - das sage ich in besonderer Weise den ausländischen Gästen - wieder zu entdecken und fruchtbar zu machen. Diese Tugenden kann man in ganz einfachen Begriffen zusammenfassen, etwa darin, dass gerade in der Not zusammengestanden wird und sich aus der Kraft ganz vieler eine unglaubliche Kraft entwickelt, die Schäden, die die Natur angerichtet hat, und auch andere Widrigkeiten nicht künftigen Generationen aufzuerlegen, sondern sie in dieser Generation zu beseitigen.
Das haben wir uns vorgenommen. Wie wir Deutschen so sind: Das werden wir schaffen. Das sage ich besonders denen, die das zwar ahnen, es aber immer wieder bestätigt haben müssen.
Ein Zweites: Wir brauchen dann Zeichen, dass es nicht nur darum geht, das wiederaufzubauen, was jetzt in der Flut verschwunden ist, sondern dass die Entwicklung mit der gleichen Intensität und der gleichen Kraft weitergeht. Wir haben uns ja vorgenommen, die Umstände in den Lebensverhältnissen zwischen Ost und West auch innerhalb des Ostens, wo es Unterschiede gibt, Schritt für Schritt anzugleichen. Diese Region befindet sich - was die Arbeitsmöglichkeiten und ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten angeht - in einer besonders schwierigen Situation. Auf der anderen Seite ist sie auch eine Region - Mister Lee, Sie haben das deutlich gemacht - , in die es wirklich lohnt, zu investieren, weil es hier hervorragend ausgebildete Menschen gibt, die anpacken und etwas aufbauen wollen - für sich selber, aber auch für die Menschen in dieser Region und für uns alle.
Wenn Sie von Investitionsbedingungen gesprochen haben, dann haben Sie Recht, wenn Sie sagen: "Man braucht einen Markt, der muss erreichbar sein." Das können Sie aus der Mitte Europas. Man braucht Rohstoffe, wenn man in der entsprechenden Industrie tätig ist. Die haben Sie hier gefunden und werden Sie weiter finden. Man braucht zudem erstklassiges Personal. Darauf können Sie sich hier verlassen. Das gilt für das Unternehmen. Das gilt für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Wir müssen das Umfeld in der Region weiter verbessern. Wir müssen das weiterführen, was nicht mit dem Neubeginn nach der Katastrophe zusammenhängt. Das ist der Grund, warum wir - ich bedanke mich sehr für Ihre Anregung, auch andere ausländische Investitionen hierher zu bekommen - bis 2019 in den neuen Ländern über den Solidarpakt II 157 Milliarden Euro investieren werden, um sicherzustellen, dass es eine intakte und leistungsfähige Infrastruktur gibt. Ich finde, das Maß an Kooperation zwischen den unterschiedlichsten Behörden hat gezeigt, dass Bürokratien nicht unbedingt immer langsam sein müssen, dass es auch anders geht. Insofern sind hier nachahmenswerte Beispiele gesetzt worden.
Über die Ziffern hat Herr Lee schon gesprochen; es geht um mehr als eine Milliarde Investitionen. Klar: Das ist verbürgt durch Bund und Land, versehen mit direkten Zuschüssen. Wir wollen auch etwas davon haben, und wir werden etwas davon haben. Was die Zahl der direkten Arbeitsplätze angeht, sind es etwa 600. Sie haben auf Tausend und mehr im indirekten Bereich hingewiesen. Das ist richtig.
Häufig sind es übrigens Arbeitsplätze, die in kleinen und mittleren Betrieben des Handwerks und der Zulieferindustrie entstehen werden. Dessen bin ich sicher. Insofern ist es auch ein guter Tag für die Handwerker.
Nur nebenbei: Dass Sie von Anfang an auch gute Ausbildung ins Auge gefasst haben, ehrt Sie in besonderer Weise. Denn das ist wichtig: Wer nicht ausbildet, sägt heute an dem Ast, auf dem wir morgen alle zusammen sitzen wollen und müssen. Qualifizierte Leute zu haben, ist ein unschätzbarer Investitionsvorteil für einen Standort.
Wenn man hierher kommt und sich das Gelände anschaut, stellt man zweierlei fest: Auf der einen Seite industrielle Brache mit noch sichtbaren Verwüstungen durch die Zeitenwende - wenn man mit dem Hubschrauber kommt, kann man das besonders gut sehen - , auf der anderen Seite aber auch bereits ermutigende Zeichen von Hoffnung: neues Leben in alten Gebäuden, die hergerichtet worden sind, und deshalb deutlich machen, dass wir hier etwas ins Werk setzen wollen und werden.
Den Investoren, und zwar allen - Mercer insbesondere, aber auch den anderen - , ist zu danken. Das, was sie hier investieren, soll Früchte tragen und zur Nachahmung anreizen. Denjenigen, die hier arbeiten werden, kann man nur alles Gute wünschen und ein Management, das motivierend auf die Beschäftigten wirkt und Kontakte zu Kunden ebenso wie zu Zulieferern knüpft.
Es ist gesagt worden: Wir haben uns bei der Europäischen Kommission sehr intensiv einsetzen müssen - das ist noch sehr diplomatisch formuliert, gnädige Frau; das macht man so in diplomatischen Kreisen - , damit die Beihilfen rasch gewährt werden. Wir werden uns weiter einsetzen und daran arbeiten müssen - die Voraussetzungen sind geschaffen - , damit die Infrastruktur für diese und andere Investitionen noch besser wird. Deshalb haben wir uns als Bund und betroffene Länder im Juli darauf geeinigt, den Bau der A 14 von Magdeburg nach Schwerin und der A 39 von Lüneburg nach Wolfsburg sowie die Querverbindungen im Raum Salzwedel als Vorzugsvarianten zu akzeptieren und entsprechend den Baufortschritt voranzutreiben.
Übrigens, in dem Zusammenhang: Dies ist eine Stadt, in der wegen des zu bauenden Kernkraftwerkes sehr viele Menschen zusätzlich leben sollten. Es sind Wohnungen für sie erstellt worden. Das war zu Zeiten, als es keinen Wohnungsleerstand, sondern Wohnungsmangel gab. Für viele - so ist es mir erzählt worden - war das durchaus eine Perspektive. Das, was wir mit dem Stadtumbauprogramm Ost gemacht haben, soll helfen und hilft, die Gebäude so zu sanieren, dass sie bewohnbar werden. Auch das schafft Arbeitsmöglichkeiten für Handwerksmeister und dann auch für die bei ihnen Beschäftigten und wird neues Leben in die Wohnviertel und damit in die Region bringen.
Alles in allem: Ich finde, dass man sehr gut sagen kann - generell, weil der Aufbau Ost in vollem Gange ist und wir darin nicht nachlassen dürfen, aber auch speziell der Flut wegen und der Schäden, die sie angerichtet hat - , dass das, was hier entstehen wird, für alle Menschen und für uns natürlich auch ein Leuchtturm der Hoffnung in schwieriger Zeit ist. Als solches sollten wir das begreifen, und dann dürfen Sie aus Freude darüber auch ruhig ein bisschen feiern. Ich wünsche dem Unternehmen, dem Projekt und vor allen Dingen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alles Gute - für Sie selber, für das Unternehmen und für Ihre Familien. In diesem Sinne: Glückauf.
Mir ist gesagt worden: Am zweiten Weihnachtstag 2004 findet die Übergabe der Fabrik statt. Wenn das stimmt, Herr Ridder, Herr Gatzke, dann sage ich: Ich komme her, und wir singen zusammen Weihnachtslieder. In diesem Sinne: Alles Gute für Sie alle und bis Weihnachten 2004.