Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 22.09.1999
Anrede: Sehr geehrter Herr Dr. Nonnenmacher, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/23/11723/multi.htm
wegen Ihres Gastes, nämlich Präsident Kwasniewski, und wegen meines Gastes, Ministerpräsident Barak, habe ich nur eine Stunde für Sie. So war es vereinbart. Ich denke, ich sollte diese Stunde angesichts eines Forums hochkarätiger Journalisten nicht damit verbringen, die fünfzigminütige Rede zu halten, die man mir aufgeschrieben hat, sondern ich sollte doch vielleicht eher dazu übergehen, ein paar Thesen zu sagen, die ich Ihnen gerne vorstellen würde, zum Thema. Ich freue mich dann auf eine muntere Diskussion. Ich denke, das wird dem anwesenden Publikum auch eher gerecht.
Bevor ich das tue, will ich Ihnen aber mitteilen, dass ich sehr unter dem Eindruck des Besuchs von Ehud Barak stehe, nicht zuletzt deshalb, weil ich es als eine äußerst großzügige Geste gegenüber Deutschland gewertet habe und werte, dass gerade er als erster ausländischer Staats- bzw. Regierungschef nach Berlin gekommen ist, um hier Gast Deutschlands zu sein. Das zeigt, wie viel Kontinuität in den Beziehungen zwischen Israel und Deutschland ist und auch sein muss. Das zeigt aber auch, dass diese Geste ungewöhnlich ist und dass wir uns - so habe ich es ihm gesagt - Mühe geben werden, diese Geste nicht nur zu verstehen, sondern auch durch unsere Politik dazu beizutragen, dass das, was in ihr ist, gestärkt wird.
Es ist sicher auch kein Zufall, dass der israelische Premier von Berlin aus nach Paris geflogen ist. Auch dies, denke ich, ist durchaus politisch gewichtig, weil es zeigt, dass man in Europa ohne die deutsch-französischen Beziehungen dieses Europa nicht wirklich entwickeln und nach vorne bringen kann.
Im Mittelpunkt der Gespräche, die ich mit Ehud Barak geführt habe, stand natürlich die Frage: Wie entwickelt sich der Friedensprozess im Nahen Osten, und was kann Europa - das heißt allemal auch: was können Frankreich und Deutschland - dafür tun, um diesen Prozess zu unterstützen, nicht und niemals in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten - das würde uns überfordern - , aber schon mit einer neuen Dynamik, was diesen Prozess angeht, der ja mutig von Barak eingeleitet bzw. wieder aufgenommen worden ist.
Ich denke, wenn man sich über den Zukunftsfaktor Deutschland Gedanken macht, dann hat es Sinn, das zu teilen in das, was wir in der Außenpolitik zu tun haben, und in das, was an innen- , an wirtschafts- , an finanzpolitischen Aufgaben vor uns steht.
Zunächst zu dem, was ich zu dem außenpolitischen Bereich, in Thesen gefasst, zu sagen habe.
Es ist klar - ich denke, wir haben das in der Kosovo-Krise unter Beweis gestellt - : Es gibt für Deutschland jetzt nicht und auch in Zukunft nicht irgendeine Alternative zum Atlantischen Bündnis, zu der festen militärischen und politischen Verankerung in diesem Bündnis. Ich denke, dass gerade diese Bundesregierung - vielleicht zur Überraschung des einen oder anderen außenpolitischen Experten, wo auch immer angesiedelt - in der Kosovo-Krise gezeigt hat, dass diese These nicht nur eine ist, die man leichthin verkündet, sondern eine ist, die wir durch politisches Handeln - auch gegen Widerstände bei den eigenen Freunden - realisiert haben.
Ich denke, die Verantwortung, die Deutschland damit gezeigt hat, hat uns gestärkt, auch außenpolitisch. Es geht hier nicht um Zuwachs von Einfluss, der daraus resultiert, sondern es geht um Zuwachs von Vertrauen, das mit dieser festen Haltung begründet worden ist.
Zweitens. Ich nehme für mich, auch persönlich, in Anspruch, ganz gegen gelegentliche Kritik, in der Europapolitik mit dem, was wir hier in Berlin zustande gebracht haben, was man Agenda 2000 nennt, in zwei Bereichen wichtige Fortschritte mit veranlasst zu haben.
Es galt erstens, für die Jahre 2000 bis 2006, die Finanzarchitektur Europas im wahrsten Sinne des Wortes zu zimmern. Wäre das misslungen, wäre Europa mit Sicherheit in eine ökonomische und auch politische Krise geraten. In eine ökonomische deshalb, weil nach der Einführung einer gemeinsamen Währung eine Stagnation in der Wirtschaft und in anderen Politikbereichen Europas katastrophale Folgen hätte. Nach meiner Auffassung ist es so, dass viele Menschen ja gedacht haben - und dies auch durchaus zu Recht - , dass die gemeinsame Währung die Krönung der politischen Union Europas sein könne, aus ökonomischen Gründen auch sein müsse.
Nun ist die Entwicklung anders verlaufen. Aber in jedem Falle gilt, dass - wenn wir nicht ein Mehr an gemeinsamer Politik in Europa zustande bringen - auch die gemeinsame Währung - auf Dauer jedenfalls - von Krisen nicht verschont sein wird. Das heißt, die Tatsache, dass wir eine gemeinsame Währung haben, erzwingt Schritte hin zu einer politischen Union, oder wir gefährden den Integrationsfortschritt, der in der gemeinsamen Währung liegt, selbst wieder.
Das war der Hintergrund, warum wir - auch gelegentlich ungern - Kompromisse gemacht haben, die auch Geld gekostet haben. Aber für uns war klar, dass Europa, wenn die Agenda 2000 misslänge, ökonomisch nicht von Schaden verschont bleiben würde.
Der zweite Punkt, der damit zusammenhängt: Die Agenda 2000 ist die materielle Basis für den Erweiterungsprozess. Nur indem sie zustande kam, hat sich Europa finanziell erweiterungsfähig gemacht, aufnahmebereit gemacht für neue Mitglieder. Man soll das nicht unterschätzen.
Im Übrigen wird das in den osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten auch durchaus so gesehen, ganz im Unterschied zur nationalen Diskussion in Deutschland.
Die Agenda 2000 war also aus diesen beiden Gründen heraus wichtig, und vor diesem Hintergrund gilt es jetzt, zwei wichtige Aufgaben in den nächsten Jahren in Europa und für Europa zu lösen:
Europa ist nicht erweiterungs- , nicht aufnahmefähig, wenn es nicht eine Reform seiner Institutionen zustande bringt. Prodi ist, was die Kommission angeht - wie ich finde - , auf einem guten Weg. Aber das, was er bei der Reorganisation und Restrukturierung der Kommission und seiner Arbeit intern leisten kann, reicht nicht. Was wir hinbekommen müssen, ist, die Entscheidungsgänge in Europa zu vereinfachen und effektiver zu gestalten. Das ist Kern dessen, was man mit "Reform der Institutionen" bezeichnet.
Dabei geht es um zweierlei. Es geht darum, dass die Gremien im Falle der Erweiterung kleiner werden müssen. Wir müssen die Vorstellung überwinden, dass im Falle der Erweiterung auf 20 und mehr jedes Land durch einen Kommissar, Generaldirektor oder was auch immer in der exekutiven Spitze vertreten sein könnte, weil die Entscheidungsprozesse sonst so bürokratisch werden und so unüberschaubar werden, dass wir ökonomisch und politisch unter unüberschaubaren und nicht durchsichtigen Entscheidungsprozessen auf Dauer leiden würden und im Übrigen die Legitimation für ein solches Europa im Volk zusammenbräche, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Gesellschaften.
Deswegen ist die institutionelle Reform so wichtig. Ich denke, ohne dass man Größe ungerechtfertigt in Anspruch nimmt, diese institutionelle Reform lässt sich nur unter der Präsidentschaft von Frankreich im nächsten Jahr, in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres wirklich realisieren, und auch das nur, wenn wir eine gemeinsame Position zwischen Deutschland und Frankreich auch in dieser Frage finden. Es gibt dort gute Ansätze, die wir verfolgen werden.
Damit zusammenhängend und eigentlich als das politische Ziel geht es um die Erweiterung. Wir verhandeln zurzeit mit fünf Beitrittskandidaten; andere stehen vor der Tür. Ich glaube, die schlichte Erkenntnis, dass Europa nicht an der polnischen Westgrenze bzw. an der deutschen Ostgrenze enden kann, hat sich inzwischen wirklich zu einem Allgemeingut verdichtet. Und das sollte auch so bleiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Europa, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen ist, ökonomisch und politisch durch unser Zutun gespalten bleibt, sondern wir müssen diese Spaltung überwinden. Das macht den Kern der Notwendigkeit aus, diesen Erweiterungsprozess voranzutreiben.
Wir haben eine gelegentlich vordergründige Diskussion in diesem Fall über die Frage: Kann man, soll man ein Datum nennen, und wenn ja, welches? Vordergründig deshalb, weil diese Frage längst entschieden ist. Die Beitrittskandidaten, und das gilt für Polen - ich nehme an, Alexander Kwasniewski wird Ihnen das auch darlegen - , das gilt aber auch für Ungarn und für Tschechien, haben sich selber Daten gesetzt. Sie haben gesagt, nachdem es gelegentlich anders diskutiert worden war: Wir wollen als die aussichtsreichsten Beitrittskandidaten bis zum Jahre 2002 so weit sein.
Ich denke, wenn diese Länder zu dieser Kraftanstrengung nachvollziehbar in der Lage sind - und die Verhandlungen mit der Europäischen Kommission werden ja durch regelmäßige Fortschrittsberichte begleitet werden - , dann spricht nichts gegen dieses Datum. Wenn sich die Beitrittsländer selber in der Lage sehen und das nachvollziehbar unter Beweis stellen können, bis zu diesem Datum jenes Maß an Reform in die Tat umgesetzt haben, das es wirklich braucht, um beitrittsfähig zu sein, dann - so habe ich es jedenfalls in Polen, in Ungarn und anderswo vertreten - wird sich Deutschland dafür einsetzen, dass dieses Datum auch gehalten werden kann. Es liegt zuallermeist also an den Gesellschaften selbst, um die es geht, an den Ländern selbst, um die es geht, ob sie das schaffen oder nicht.
In diesem Zusammenhang noch eine weitere außenpolitische Bemerkung. Ich glaube, dass die Kosovo-Krise eines lehrt, meine Damen und Herren - ich bin gerade im Begriff, in den nächsten zwei Tagen drei Länder auf dem Balkan zu besuchen - : Ohne eine Perspektive der schrittweisen politischen und vor allen Dingen ökonomischen Annäherung an das Europa der 15 oder das Europa, das wir erweitert haben werden, wird es auf Dauer keinen Frieden auf dem Balkan geben können. Denn die Auseinandersetzungen haben nicht nur zu tun mit ethnischen Problemen, haben nicht nur zu tun mit einer langen und von Auseinandersetzungen geprägten Historie in dieser Region, sondern sie haben auch etwas zu tun mit Unterentwicklung, mit ökonomischer Unterentwicklung. Ich glaube, dass diese ökonomische Unterentwicklung nur aufhebbar ist, wenn wir diesen Staaten, diesen Ländern, diesen Gesellschaften eine Perspektive zu Europa einräumen und das auch ernst meinen.
Dass das in anderen Zeitabfolgen geschehen wird als beispielsweise im Falle Ungarns, im Falle Tschechiens oder im Falle Polens, das liegt auf der Hand. Aber die Perspektive muss für uns klar sein. Diese Region ist Teil Europas. Es ihr ökonomisch und politisch durch Hinhalten zu verwehren, hieße, nicht Krisen zu bewältigen, sondern hieße, Krisen mit zu produzieren, um es sehr drastisch auszudrücken.
In dem Zusammenhang ein vorletztes Wort zu den außenpolitischen Fragen. Ich denke, meine Damen und Herren, dass es angemessen ist, auch gegenüber innenpolitischem Widerstand, der hoch emotional besetzt ist, darauf hinzuweisen, dass wir die Türkei nicht auf Dauer so behandeln dürfen, wie das gelegentlich geschehen ist. Die Türkei braucht aus ökonomischen Gründen - wir haben dort auch Interessen - , aber vor allen Dingen aus politischen Gründen, damit man sie nicht zur Beute von Fundamentalismus werden lässt oder einen Beitrag dazu leistet, dass Kräfte, die das wollen, sich durchsetzen können, einen Status, der sie in den Rang eines Beitrittskandidaten erhebt. Ich hoffe, dass diese Perspektive auch vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, ihr materiell zu helfen, angesichts der durch das Erdbeben verursachten ökonomischen und politischen Schwierigkeiten schneller umsetzen lässt, als das in der Vergangenheit oftmals der Fall war.
Ich denke, es ist gegenüber allen, die anderes denken, deutlich zu machen, dass das Europa der 15, der 20 oder wie viel auch immer kein Europa ist, in dem es sozusagen religiös motivierte Grenzen gibt. Es ist nicht gebaut auf die Frage, welcher Religion man angehört, sondern dieses Europa ist auf der Grundlage ganz anderer Werte gebaut, die heißen Achtung der Menschenrechte, die heißen Demokratie, die heißen Abwesenheit von Folter, Beachtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Das heißt also all das, was in den Kopenhagener Beschlüssen aufgeschrieben worden ist und was sich im Übrigen im Klartext im Amsterdamer Vertrag findet.
Wenn und soweit die Türkei bereit und in der Lage ist, diese fundamentalen Werte bei sich nachvollziehbar zu realisieren, kann die Frage der religiösen Zugehörigkeit der Mehrheit oder des ganzen Teils nicht die entscheidende Rolle spielen, denke ich jedenfalls.
Ich denke, es ist deutlich geworden, dass ich - entgegen dem, was gelegentlich unterstellt wird - schon der Auffassung bin, dass die Dynamik, die in Europa entfaltet werden muss, um die Probleme, die ich skizziert habe, zu lösen, nur entfaltet werden kann, wenn es eine enge Abstimmung zwischen Frankreich und Deutschland gibt. Enge Abstimmung heißt ja nicht, dass man nicht gelegentlich unterschiedlicher Meinung sein könnte. Gerade wenn Freundschaft nicht ein Begriff sein soll oder werden soll, der lediglich vor sich her getragen wird, der lediglich eine Hülse ist, ist doch klar, dass es angesichts unterschiedlicher Interessen zwischen Völkern, zwischen Staaten auch Differenzen in den Bewertungen und Interessendifferenzen gibt. Aber diese Interessendifferenzen sind überwindbar und müssen überwunden werden, im Geiste der Partnerschaft.
Eine letzte Bemerkung zu Russland: Ich denke, all diejenigen, die sich intensiv damit beschäftigen, werden - wie wir auch - die Hoffnung ausdrücken, dass wir es mit mehr politischer Stabilität zu tun bekommen. Die Hoffnung, die ich habe, ist die, dass die nächsten Wahlen - sowohl die Duma-Wahlen als auch die Präsidentschaftswahlen - zu den angegebenen Zeitpunkten stattfinden - ich halte es für ganz wichtig, dass man darauf drängt und darauf besteht; es sieht auch so aus, als wenn das der Fall wäre - und dass sie gelegentlich zu beobachtende Instabilitäten überwinden helfen.
Dass wir darüber hinaus das, was es an Vorwürfen gibt, sehr rational prüfen, aber uns vor Vorverurteilungen hüten müssen, liegt auf der Hand. Auch hier geht es nicht nur um Objektives, sondern es geht auch um ein Stück der Legitimation in der Gesellschaft für eine offensive Hilfe und eine weitere Unterstützung der Reformkräfte in der früheren Sowjetunion, im heutigen Russland.
Indem ich das beschreibe, wird vielleicht klar, dass ich meine, Deutschlands Zukunftsfähigkeit im Außenpolitischen wird sich an der Frage erweisen, wie kontinuierlich, wie zuverlässig, wie berechenbar wir sind. Wir sind es die ganzen 50 Jahre über gewesen. Wir haben über Westbindung gestritten, wir haben über Ostpolitik gestritten, jeweils auf wechselnden Seiten. Aber ich denke, alles in allem hat Deutschland eine Außenpolitik betrieben, die berechenbar und die zuverlässig ist, und es gibt überhaupt nicht den geringsten Anlass, darin in Zukunft irgendetwas zu ändern.
Der außenpolitische Zukunftsfaktor Deutschland heißt also: Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit, in dem Sinne, wie ich es versucht habe zu skizzieren.
Zweitens. Was haben wir in der Innenpolitik vor bzw. was macht uns dort zukunftsfester? Mehr kann man ja nicht verlangen; denn alles sozusagen vorauszuplanen - das habe ich in den letzten Wochen erfahren müssen - , ist erstens nicht möglich und zweitens auch nicht spannend.
Um was geht es eigentlich? Es macht vielleicht Sinn, wenn man sich einmal erinnert, was Deutschlands Vergangenheits- und Gegenwartsfestigkeit eigentlich ausgemacht hat. Das heißt, welche Vorstellung von Gesellschaft und welche realisierte Vorstellung hat uns eigentlich stark gemacht? Was macht das "Modell Deutschland" aus, wie es Sozialdemokraten 1969 in Wahlkämpfen einmal genannt haben? Was macht den "rheinischen Kapitalismus" aus, über den international viel diskutiert worden ist? - Ich denke, im Kern die Tatsache, dass wir es nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden haben, eine Gesellschaft zu bauen, die auf einer Teilhabe in einem sehr umfassenden Sinne - auch der breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung - beruhte. Teilhabe meint hier: Teilhabe am materiellen Wohlstand, an den materiellen Werten, die von der Mehrheit selbst geschaffen worden sind, in angemessener, durchaus differenzierter Weise. Es geht hier nicht um Gleichmacherei; es geht um Teilhabe. Das ist der eine Gesichtspunkt.
Der andere Gesichtspunkt: Teilhabe meint nicht nur: Beteiligung am Verbrauch, am Konsum, sondern Teilhabe meint auch: Beteiligung möglichst vieler an den Entscheidungen in der Gesellschaft, und nicht nur über demokratisch veranstaltete Wahlen, sondern auch z. B. über Mitbestimmung in den Betrieben.
Diese beiden Gesichtspunkte haben nach meiner Auffassung das "Modell Deutschland" fundiert, haben dazu geführt, dass wir eine Gesellschaft bekommen haben, in der sozialer Frieden - auch gedacht und gemacht als durchaus positiver Produktionsfaktor - eben kein Fremdwort geblieben ist.
Wenn man das einmal mit der Entwicklung in Südostasien vergleicht, partiell auch in entwickelten westlichen Gesellschaften, dann - denke ich - kann man den Unterschied feststellen. Dort - wenn Sie vor allen Dingen Südostasien nehmen - gibt es effektive Wirtschaftsgesellschaften. Es fehlt aber an beiden Bereichen, an der materiellen Teilhabe derer, die die Werte schaffen, und erst recht an der demokratischen Partizipation. Meiner Auffassung nach macht es durchaus Sinn, dieses Modell Deutschland, das es in ähnlichen Formen auch in anderen westeuropäischen Ländern gibt, das es, in unterschiedlicher Ausprägung, im Kern aber gibt, als das europäische Entwicklungsmodell zu verteidigen.
Es unter radikal veränderten ökonomischen Bedingungen zu verteidigen heißt, Veränderung zu bewerkstelligen. Das heißt, Deutschland wird Zukunftsfaktor sein und bleiben, wenn es bereit ist, angesichts dramatischer Veränderungen an der ökonomischen Basis das politisch-soziale System in angemessener Weise und in angemessener Zeit auf diese Veränderungen einzustellen, ohne dabei das Prinzip aufzugeben. Das ist der entscheidende Punkt. Und das ist möglicherweise auch der Unterschied, der sich zwischen den unterschiedlichen Parteien in Deutschland herauskristallisieren wird. Es geht mir nicht um Ökonomismus, es geht nicht um bloße Anpassung an eine immer mehr sich ökonomisch definierende Gesellschaft, sondern es geht mir darum, durch Veränderung dafür zu sorgen, dass das, was ich für den Inhalt des "Modells Deutschland" halte, auch in Zukunft noch möglich sein wird.
Was brauchen wir dazu?
Erstens. Wir müssen - auch aus europäischen Gesichtspunkten heraus - das tun, was wir mit dem Zukunftsprogramm bezeichnet haben. Mir kommt es darauf an - und es ist sicher einer der Fehler gewesen, die gemacht worden sind, dass wir das nicht haben verdeutlichen können - , dass das, was wir mit dem Zukunftsprogramm, das, was ich mit "Modell Deutschland" skizziert habe, in Zukunft überhaupt noch möglich gemacht wird.
Nur derjenige, der sich daran macht, 1,5 Billionen DM Schulden mit 82 Milliarden DM Zinszahlungen jedes Jahr - 150.000 DM in jeder Minute - abzubauen bis hin zu einem ausgeglichenen Haushalt, kann das, was Kern des "Modells Deutschland" ist, auch in Zukunft aufrechterhalten. Sonst geht es nicht. Der zweitgrößte Haushaltstitel nach dem Sozialhaushalt in Deutschland sind Zinsen, und das ist Geld, das uns fehlt, um gestalterisch tätig zu werden.
Ich würde niemals so weit gehen zu sagen, das waren immer nur die anderen. Wir haben kräftig daran mitgewirkt. Wir haben - lassen Sie es mich so sagen - , bezogen auf die Verschuldung der öffentlichen Haushalte auf allen Ebenen, zu lange im nationalen Maßstab gedacht und zu wenig international. Die Tatsache, dass wir eine gemeinsame Währung haben, dass niedrige Zinsen durch die EZB nur realisiert werden können, wenn es Haushaltsdisziplin gibt, führt dazu, dass es jetzt wirklich 5 vor 12, wenn nicht sogar 12 ist, um diese Politik, die wir machen einzuleiten, nicht weil sie Selbstzweck wäre, sondern weil sie die Basis dafür ist, Sozialstaatlichkeit unter radikal veränderten ökonomischen Bedingungen aufrechtzuerhalten.
In dem Zusammenhang: Diesem Ziel - aber wirklich nur diesem Ziel und nicht als Ziel an sich - dient auch eine Steuerreform, die sowohl die Nachfrage als auch die Angebotsseite im Auge hat. Die Nachfrageseite - ich muss es Ihnen hier nicht sagen; Sie wissen es aus Beobachtung - haben wir über Kindergeld, über Verbesserung des Einkommens der Mehrheit der arbeitenden Menschen, insbesondere derer, die durchschnittliche Einkommen bekommen, realisiert. Das ist die Nachfrageseite.
Das dient übrigens nicht nur einem ökonomischen Ziel im Keynes'schen Sinne, über die Nachfrage Produktion zu stimulieren. Das dient auch der Motivation der Beschäftigten. Nur wenn wir es schaffen, dass die Menschen, die arbeiten gehen, die ihr Einkommen und Auskommen über Erwerbsarbeit erlangen, vom Brutto, das sie bekommen, netto mehr in der Tasche haben, werden sie auch die Motivation behalten, um härter werdende, um stressiger werdende Arbeit wirklich zu leisten und sich nicht darauf zu verlassen, von Transfereinkommen leben zu können. Also auch dieser Aspekt der Motivation spielt bei den nachfrageorientierten Steuerreformvorstellungen eine große Rolle.
Auf der Angebotsseite haben wir deutlich gemacht, dass wir, unabhängig von der Rechtsform der Gesellschaften, eine Besteuerung der Unternehmen - bei den privat verbrauchten Einkommen soll das anders bleiben - , also nicht der Unternehmer durchsetzen wollen, die die 35 Prozent im Durchschnitt nicht überschreitet, und dies - ich sage es noch einmal - rechtsformunabhängig.
Das ist die Angebotsseite der Steuerpolitik. Man sieht, dass wir uns bemühen - mit Schwierigkeiten; wir fangen ja nicht auf der grünen Wiese an - , ein Reformkonzept vorzulegen, das ein policy-mix aus Angebots- und Nachfrageorientierung ist.
Zweitens. Wir brauchen eine Reform des Gesundheitssystems, aber eine, meine Damen und Herren, die alle - nicht nur die Leistungsempfänger, sondern auch die Leistungserbringer - an der Reform beteiligt. In diesem Gesundheitssystem in Deutschland, das so schlecht nicht ist, werden jährlich 500 Milliarden DM umgesetzt. Wenn ich mir die Proteste gegenüber der Reform, die wir eingeleitet haben, anschaue, dann folgen sie immer dem Muster: Wieso fangt ihr an, Gesundheitsreform zu machen? Gebt doch einfach mehr Geld in das System! - Die einen sagen: Über Beteiligung der Patienten; die anderen sagen: Über Abgaben. - Erhöhung der Abgaben bedeutet Erhöhung der Lohnnebenkosten. Das macht die Arbeit zu teuer; geht nicht. Bei den Patienten haben wir - das ist einzuräumen - soziale Probleme, das zu machen.
Also geht kein Weg daran vorbei, nicht mehr Geld ins System zu pumpen, sondern das System - bezogen auf alle Beteiligten - effektiver, wirtschaftlicher zu machen. Das ist Kern der Reform, die wir vorgelegt haben und die wir durchsetzen wollen, die wir durchsetzen werden.
Der dritte Punkt: Keine Frage - wir brauchen eine Reform der Alterssicherung. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, ob es angemessen ist, nicht etwa Renten zu kürzen - das tun wir ja nicht - , sondern für zwei Jahre die Erhöhungen zu beschränken. Es geht im Kern darum, die Alterssicherung für die jungen Leute bezahlbar zu halten und für die älteren so sicher, wie es menschenmöglich ist, zu machen.
Für die jungen Leute bezahlbar zu halten heißt - übrigens auch für die Unternehmen - , dass die Beiträge, mit denen wir die Rentenversicherung finanzieren, nicht uferlos steigen dürfen, besser - wie wir es geschafft haben - dieses Jahr und nächstes Jahr sinken können, weil das in die Lohnnebenkosten für die Betriebe eingeht, mit Folgen für die arbeitsintensiven Betriebe. Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist Senkung der Beiträge mehr Nettolohnverfügbarkeit.
Das ist der Grund, warum wir das machen. Wir können kein Rentensystem mit Beiträgen von mehr als 25 % aufrechterhalten - so aber die Rechnungen, wenn wir nicht gestoppt hätten. Das geht aus ökonomischen Gründen nicht, aber auch der Generationensolidarität wegen nicht.
Wir werden im Kern bei der beitragsfinanzierten Rente bleiben - es geht gar nicht anders - , aber es müssen zwei Dinge ergänzend hinzukommen: Einmal das, was es in Deutschland erfreulicherweise gibt, nämlich eine privat veranstaltete Alterssicherung. Das Zweite, das unbedingt kommen muss, wofür wichtige und richtige Vorschläge, auch für die Tarifpartner, die wir im Bündnis für Arbeit dafür interessieren wollen, auf dem Tisch liegen, betrifft den Aufbau einer Kapitaldeckung bei der Alterssicherung.
Unsere Volkswirtschaft wächst erfreulicherweise. Die Aktienindizes sind ein Ausweis dafür. Ich habe übrigens nichts dagegen, wenn sie steigen. Aber ich möchte, dass mehr Menschen an der Entwicklung, an der Steigerung des Kapitalstocks der Volkswirtschaft beteiligt sind, als das gegenwärtig der Fall ist, mindestens dass mehr Menschen dieses Wachstum zur Sicherung gegen Altersarmut und für die Sicherung ihrer Renten nutzen können. Wir wollen das auf der Basis von Freiwilligkeit realisieren, indem wir es den Tarifparteien möglich machen. Dazu wird es auch staatliche Unterstützung geben müssen; keine Frage.
Wichtig ist mir, dass klar wird: Wir wollen Schritt für Schritt zur Sicherung der Altersvorsorge das Prinzip der Kapitaldeckung neben das Prinzip der Beitragsdeckung stellen. Wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttete und sofort wechselte, hätte man für erkleckliche Zeiten eine Belastung derer, die das finanzieren sollen, die für die jungen Leute, die aktiv im Arbeitsleben sind, völlig untragbar wäre.
Ich denke, meine Damen und Herren, dass damit deutlich geworden ist, dass wir das, was wir als "Zukunftsprogramm" bezeichnet haben, nicht machen, weil uns zum Sparen nichts einfiele oder nichts anderes als Sparen einfiele, sondern dass wir es machen, weil über dieses Zukunftsprogramm zweierlei sichergestellt wird: Zum einen wird sichergestellt, dass wir das "Modell Deutschland", das auf diesen gekennzeichneten Grundsätzen der Effektivität und der sozialen Gerechtigkeit beruht, auch in Zukunft beibehalten können, und zum anderen, weil nur durch dieses Konsolidierungsprogramm unsere europäische, wenn nicht sogar unsere internationale Verpflichtung im Ökonomischen und damit auch im Politischen erfüllt wird.
Zudem gilt: Wir müssen es nicht nur formulieren, sondern wir müssen es auch durchsetzen; denn das, was ich versucht habe zu skizzieren, begreife ich als das von einer Mehrheit im Deutschen Bundestag definierte Interesse des Gemeinwohls. Wir müssen dieses Interesse des Gemeinwohls durchsetzen, gegen noch so berechtigte Einzelinteressen. Schaffen wir es, wird Handlungsfähigkeit von Politik, von Staat in dieser Gesellschaft bewiesen werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.