Redner(in): k.A.
Datum: 27.09.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/76/11776/multi.htm


Zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung zu Ihrer Arbeitstagung bedanken. Ich begrüße es sehr, dass diese Veranstaltung konkrete Ansatzpunkte für eine zukünftig enge Zusammenarbeit zwischen Ost- und Westeuropa leisten konnte.

Der Titel Ihrer Arbeitstagung "Kulturelle Öffentlichkeit - öffentliche Kultur" ist eine Herausforderung für die Gegenwart und die Zukunft, denn noch haben wir diese kulturelle Öffentlichkeit und die öffentliche Kultur in Europa nicht verwirklicht. Die Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung unserer unterschiedlichen Kulturen auf der Basis gemeinsamer Werte ist eine Aufgabe, die sich erstens generell stellt und zweitens auch im Artikel 151 des EG-Vertrages verankert wurde. Europäische Kultur und Geschichte zu verbreiten ist jedoch nicht nur eine Aufgabe der Europäischen Union, sondern der europäischen Staaten und natürlich der europäischen Bürger insgesamt.

Spätestens seit dem Fall der kommunistischen Systeme in Europa öffnete sich der Raum für neue kulturelle Perspektiven und Fragestellungen, die mehr als 50 Jahre durch ideologische und militärische Barrieren verstellt waren. Es liegt nahe, jetzt Europa als Ganzes wahr- und anzunehmen und die "Heimkehr nach Europa", wie Vàclav Havel diesen Vorgang bezeichnet hat, als konkrete Aufgabe zu betrachten. Der fundamentale Wandlungsprozess wird gerade im postkommunistischen Europa durch neue Spannungen zwischen der Nationalstaatsidee und der europäischen Integration wieder belastet.

Das vereinte Europa, das durch die Wirtschafts- und Währungsunion und durch die Aufnahme der Verhandlungen mit den beitrittswilligen Staaten, zu denen Polen, Tschechien und Ungarn in erster Linie gehören, einen weiteren Schritt vorangekommen ist, würde keine Zukunft haben, wenn es sich lediglich als einen losen Interessenverband oder als eine gehobene Freihandelszone begreift. Wenn die europäische Kultur einzig die Kultur des Geldes bleibt, ist Europa als Idee verloren und die Währungseinheit als Verbindungselement früher oder später auch. Das Europa der Zukunft muss auch und vor allem eine Kulturgemeinschaft sein.

Die europäische Identität kann dabei nur eine zweifache sein: Den Europäer werden stets sowohl seine nationale Besonderheiten wie auch das gemeinsame europäische Erbe prägen. Das Ziel der europäischen Einheit schließt keineswegs die Vorstellungen kultureller und historischer Gleichförmigkeit ein. Die häufig gleichgestalteten und mit Souvenirs bestückten europäischen Touristenorte wirken bedrückend und versinnbildlichen ein wirtschaftlich vereintes Europa, in dem die handwerklichen und kulturellen Eigenheiten der Regionen unter dem Druck der Kommerzialisierung Europas verlorengegangen sind. Das Ziel Europas ist jedoch nicht Homogenität, sondern Einheit in Vielfalt.

Die kulturellen Leistungen unseres alten Kontinents haben alle Zerrissenheit, alle schrecklichen Irrwege und europäischen Bürgerkriege überdauert. Aber sie waren auch Teil und eine Ursache all dieser schrecklichen Ereignisse. Sie machen den Rang Europas und sein Bild in der Welt aus. Deshalb darf die kulturelle und historische Dimension der europäischen Einigung gegenüber der Wirtschaftspolitik und der Währungsunion, der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und anderen wichtigen Themen nicht als quantité négligeable angesehen werden.

Dies muss insbesondere den Finanzministern in Europa immer wieder vor Augen geführt werden, die sowohl am Kulturetat der Europäischen Kommission als auch an den eigenen Kulturetats ihren Rotstift ansetzen. Es sollte ihnen mit allem Nachdruck deutlich gemacht werden, dass die Idee Europas nicht nur eine stabile Währung, nicht nur eine Maxime des Gewinns durch die Öffnung der Grenzen sein kann.

Die Idee Europas ist auch nicht nur eine machtvolle Projektion dieser Einheit in die Wirtschaftsregionen der übrigen Welt. Die Idee Europas ist und bleibt ein Abschied von dem territorialen, tribalistischen und diplomatischen Irrsinn der Vergangenheit. Sie verwirklicht sich in der individuellen Freiheit, der Toleranz, der Neugier, der Gerechtigkeit, der Rechtstaatlichkeit und vor allem durch den kulturellen Austausch. Wenn das aus den Augen verloren geht, werden sich hier im nächsten Jahrhundert unsere Nachfolger versammeln und über die Versäumnisse unserer Zeit nachdenken können.

Nüchtern betrachtet ist die Identität Europas über Jahrhunderte hinweg negativ bestimmt gewesen, eine zeitlich befristete Einheit zur Abwehr von wirklichen oder erfundenen und empfundenen Bedrohungen. Max Weber hat bekanntlich vom Rationalisierungsprozess als einem ausschließlichen und bestimmenden Wesenszug Europas gesprochen und an diesem Leitfaden die Kontinuität Europas von den Griechen bis zur Gegenwart entwickelt. Er kannte damals noch nicht die enorme Wirtschaftskraft Japans. Rationalisierung, Logik, Entzauberung, so glaubte Weber, prägten den Verlauf der europäischen Kulturgeschichte. Dass aber auch das Reden selbst von der Entzauberung zu neuen und ähnlichen Phänomenen der Wissenschaftsgeschichte, nämlich Selbstverzauberung, Selbstüberschätzung und Selbstüberheblichkeit, führen sollte, hatte er nicht bedacht.

Nahezu alle europäischen Völker waren im Verlauf ihrer Nationen- und Staatenbildungen darauf bedacht, ihre jeweilige Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit hervorzuheben. Die historischen Mythen sind durchweg solche der Vereinigung nach innen und der Abgrenzung nach außen. Sie versuchen die Einheit aller Mitglieder der Gemeinschaft in einer einzigen, homogenen Gruppe mit möglichst göttlichem Ursprung oder in einer Art historischen Genesis in einer archaischen, von jeglicher Überprüfbarkeit entfernten Urgemeinschaft zu rechtfertigen. Die Mythen besaßen weiterhin die Funktion, Grenzen zwischen sich und den jeweils anderen Nationen und ihren Mythen zu ziehen.

Das erste Element, indem sich die Nationen einig waren und oft noch sind, ist der Glaube an die Kraft der Mythen als ihre eigentliche Geschichte. Mythos heißt aber im Griechischen nicht nur Geschichte und Erzählung, sondern auch Legende und Fiktion. Auch und gerade die größten Historiker des 19. Jahrhunderts haben in dem Bemühen, eine möglichst objektive Darstellung der jeweiligen nationalen Geschichte zu geben, im Ergebnis nur allzu oft die nationalen Mythen als wissenschaftliche Wahrheit verkleidet.

Die konstruierte, organisierte und kollektive Beschwörung großer Augenblicke der Vergangenheit ist eine regelrechte "kollektive Erneuerung" durch die gesamte Nation, die mit der Hilfe von Jubiläen und Gedenkfeiern jeder Art - übrigens auch Denkmälern - zu den Ursprüngen ihrer Existenz als Gemeinschaft zurückkehrt.

Kult der Geschichte und Kult der Nationen sind somit unzertrennlich und gefährlich miteinander verbunden. Als religiöse Praxis verwandelt die Zelebrierung der großen Augenblicke die Nation oft in ein undurchsichtiges Gewebe von Mythen: Der Mythos ist weiterhin eine symbolisch wirksame Erzählform, welche die gesellschaftliche Erhaltung und Erneuerung einer Gemeinschaft garantiert und legitimiert. Es erklärt aber in Wirklichkeit nicht die Existenz solcher Gesellschaften, sondern deutet sie in der Figur oft religiös legitimierter Ursprungsgeschichten. Der Ursprung wird in die Totalität der Zeit eingeordnet: Der Mythos fasst Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich zusammen. Seine Sprengkraft erleben wir gerade wieder auf dem Balkan.

Aus der Distanz eines an Krisen und Brüchen besonders reichen Jahrhunderts betrachtet, erscheinen diese nationalen Mythen strukturell von Nation zu Nation ähnlich, wenn nicht sogar austauschbar. Den anderen besser verstehen, heißt, aus diesen Austauschbarkeiten der Mythen zu entkommen in das Partikulare, das Genaue, das Aufklärende, das Rationale, das nicht mehr zu politischen Zwecken zu missbrauchende Beschreiben von dem, was war, und von dem, was sein könnte.

Auf allen Vermittlungsebenen historischer und kultureller Ereignisse bedeutet dies nicht, die nationale Geschichte und Kultur für sich alleine zu betrachten, sondern als einen Mosaikstein der europäischen Kulturgeschichte darzustellen. Wie notwendig und wichtig diese Aufgabe ist, beweisen immer wieder Umfragen unter jungen Menschen in Europa, die nicht selten ein äußerst wirklichkeitsfremdes Bild ihrer Nachbarn haben.

Der gesellschaftliche und politische Wandel in Osteuropa, der auch Westeuropa nicht unberührt gelassen hat, hat zu einer Veränderung des kulturellen Diskurses geführt, vor allem aber in Osteuropa zu einem Zusammenbruch der Strukturen offizieller Kultur und Kulturförderung. Einerseits haben sich die Möglichkeiten, eine "kulturelle Öffentlichkeit" herzustellen, erheblich erweitert, zugleich aber die Verantwortung dafür den Akteuren im Kulturbereich selbst auferlegt. Das Zusammenspiel von unterschiedlichen Institutionen, Organisationen und Medien zur Finanzierung, Produktion, Vertrieb, Kritik und wissenschaftlichen Untersuchungen von Kultur hat im Westen Europas eine lange Tradition; im Osten Europas befindet sich dieser Prozess noch in der Erprobungsphase.

Kulturelle Öffentlichkeit und öffentliche Kultur bedürfen der Freiheit genauso wie der Unterstützung. Und gerade wegen der Freiheit kann die Unterstützung nicht von wirtschaftlichen Unternehmen alleine geleistet werden, da diese immer von eigenen Interessen geleitet sind. Der Staat ist hier gefordert und muss seine Verpflichtung wahrnehmen, die kulturpolitischen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass öffentliche Kulturpolitik in freier Ausübung möglich ist.

In ein solches kulturelles Kommunikationsnetz ist sowohl staatliche Förderung als auch privates Sponsoring integrierbar. Staat und Wirtschaft können je auf ihre Weise dafür sorgen, dass Kultur den Weg in die Öffentlichkeit, ins Bewusstsein der Menschen und damit der Gesellschaft finden kann.

Die Goethe-Institute und der europäische Fernsehsender ARTE haben seit vielen Jahren internationale Erfahrungen in der Kulturvermittlung sammeln können. Und ich freue mich, dass beide gemeinsam ein Podium für innovative europäische Projekte bieten.

Um einen größtmöglichen Nutzen aus dem kulturellen Potential ziehen zu können, das in unserer, wie in jeder Gesellschaft schlummert, müssen in Europa die materiellen, technischen und juristischen Hindernisse der Wirtschaftsintegration gerade auch im Kulturbereich beseitigt werden. Es müssen politische und gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen kulturellen Binnenmarkt ermöglichen.

Freilich dürfen die spezifischen Eigenheiten der einzelnen Länder nicht einer europäischen Gleichmacherei unterworfen werden. Dabei geht es nicht um den Schutz ökonomischer Vorteile, die durch bestimmte Regelungen errungen wurden, sondern darum, das im kreativen Bereich spezifisch Eigene zu bewahren.

Eine wichtige, vielleicht die wichtigste Rolle bei der Herstellung einer kulturellen Öffentlichkeit spielt das Fernsehen. Es ist nicht schwierig, dem Fernsehen eine ganze Reihe von Negativwirkungen auf Gesellschaft und Individuum nachzuweisen. Ich nenne nur die Verarmung der Sprache, den Verlust der Dialekte, allgemein globale Nivellierungstendenzen; des weiteren eine Desozialisierung der Gesellschaft einhergehend mit zunehmender Konsumhaltung und Passivität ihrer Mitglieder. Die zunehmende Desensibilisierung und Immunisierung gegenüber Leid und Katastrophe, der Verlust des Mitleids, schließlich eine allgemeine Entfremdung der eigenen Realität.

Die Ästhetik des aktuellen Fernsehens ist weithin geprägt von beschränkter Kapazität und schnellen Reizen. Das klassische Fernsehen bietet, solange es von der Akzeptanz breiter Bevölkerungsanteile abhängig ist, keinen ausreichenden Rahmen für Kultur im Sinne von Sensibilisierung und Bildung der Rezipienten. Die Hauptsendezeiten sind angefüllt mit schnell konsumierbarer Ware. Wer Reflektion, wer ein anspruchsvolleres und individuelleres Programm sucht, findet es nur in Nischen - beispielsweise spät nachts oder bei ARTE.

Ich will hier aber nicht den Kulturpessimisten spielen. Lassen Sie mich deshalb einen Blick darauf werfen, worin eigentlich die Beziehung zwischen Fernsehen und Kultur grundsätzlich besteht und was sie alles beinhalten kann. Als kulturelle Träger können die elektronischen Medien eine vielfache Rolle spielen:

1. Fernsehen reflektiert kulturelles und soziales Leben, ist Abbild unseres gegenwärtigen Alltags, unserer emotionalen Bedürfnisse, unserer Fragen, Ängste, Visionen. Das Fernsehen nimmt deshalb eine viel weitreichendere Funktion in bezug auf Kultur wahr, als man es am Verhältnis zwischen der Anzahl der Stunden, die sich konkret kulturellen Inhalten widmen, zum Gesamtprogramm ablesen könnte.

2. Das Fernsehen ist ein Multiplikator von Kultur, denn es dient dazu, kulturelle Programme zu verbreiten. Das ist naheliegend: Fernsehen zeigt Kunst, Kultur, Konzerte in eigenen Sendungen und sensibilisiert für Kunst. Durch das elektronische Bild können die "heiligen" Museumsräume nach außen getragen werden mit dem Erfolg, dass sich mehr Menschen auch wieder den Originalen zuwenden.

3. Fernsehen setzt auch ästhetische Trends, transportiert und beeinflusst mit seinen einzelnen Elementen unsere Alltagskultur: Gewisse Romane lesen sich heute wie ein Treatment, wenn nicht gar wie ein Drehbuch, sind also in der ureigensten Erzählform dieses Mediums geschrieben. Man könnte sie sozusagen unmittelbar in eine Serienepisode übersetzen. So wie Comics sich in den Werken von Roy Lichtenstein wiederfinden, so ist die Bildersprache von MTV ein typisches Zeichen unserer Epoche und schon heute vielfach zitiert. Und mache Theaterinszenierung spiegelt die Ausdrucksform des Videoclips wider.

4. Fernsehen wirkt auch auf andere kulturelle Märkte. Wir müssen nur die Bestsellerlisten betrachten und entdecken, dass immer wieder eine ganze Reihe von Titeln Romanadaptionen von Fernsehserien sind.

Die zukünftige digitale Welt des Fernsehens wird einen ungeheuren Zugewinn von Raum und Zeit mittels einzelner Spartenkanäle bringen. Hierin sehe ich die Hauptveränderungsmöglichkeit der digitalen Technik. Die Senkung der Übertragungskosten dank digitaler Kompressionstechniken in Verbindung mit der technischen Machbarkeit von bis zu 500 parallel ausgestrahlten Kanälen schafft den Platz, den differenziertes Fernsehen braucht. Also auch für Kultur. Das positive Element der digitalen Welt ist also die Vielfalt und mit ihr die Möglichkeit zur Auswahl. Vom kapazitätsbedingten Zwang zur Oberflächlichkeit in jeder Hinsicht kann damit der Weg wieder in die Tiefe führen.

Die Frage wird in Zukunft wahrscheinlich nicht heißen, wie viel Programm europäischer Herkunft ausgestrahlt werden muss. Vielmehr wird möglicherweise soviel Programmplatz zur Verfügung stehen, dass es schwierig sein wird, ihn sowohl mit europäischen wie außereuropäischen Programmen zu füllen. Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Kultur und Medien ist groß, und niemals zuvor eröffneten sich so viel versprechende Möglichkeiten. Es wird unsere Aufgabe sein, diese für Europa aufzugreifen. Und es ist eine Herausforderung, Kultur und Markt nicht als Widerspruch, sondern als Chance zu begreifen und beiden im Bereich der digitalen Medien eine angemessene Rolle zu geben. Aber selbst die besten Vorsätze werden zu nichts führen, wenn der normative Rahmen, in dem wir uns bewegen, nicht so flexibel ist, wie die von uns eingesetzte Technologie.

Europa darf sich also nicht darauf beschränken, den Innovationen Restriktionen entgegenzusetzen, sonst wird es sich im internationalen Wettbewerb selbst ins Abseits stellen. Nicht die Regeln, sondern die Menschen müssen mobilisiert werden, um die neuen Herausforderungen aufzunehmen.

Das Fernsehen von morgen hat Möglichkeiten, der Kultur ein neues Zuhause zu geben. Die digitale Revolution bietet eine hervorragende Möglichkeit, die kulturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede Europas zu präsentieren. Wenn wir die europäische Kultur aufrechterhalten wollen, werden wir uns nicht nur des Fernsehens bedienen, sondern auch mit ihm anfreunden müssen.