Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 30.09.1999
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Parlamentspräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/24/11724/multi.htm
Heute vor zehn Jahren sind vom Balkon dieses Gebäudes Worte gesprochen worden, die den Lauf der Ereignisse in Europa dramatisch beeinflussen sollten: Liebe Landsleute, ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bevorsteht."
Das war die erlösende Nachricht, die der damalige Bundesaußenminister, die Sie Herr Genscher, in Begleitung des damaligen Kanzleramtsministers Rudolf Seiters den hier zusammen gedrängten Flüchtlingen aus der damaligen DDR überbringen konnten.
In dramatischen Zugfahrten konnten etwa 4000 Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR Prag und die Botschaft verlassen, wo sie unter schwierigsten Bedingungen zum Teil wochenlang ausgeharrt hatten.
Wer wird die aufreibenden Stunden vergessen können, als die "Züge der Freiheit" noch einmal DDR-Gebiet durchqueren mussten? Und welche Erleichterung, als sie schließlich die innerdeutsche Grenze bei Hof überfuhren!
Die historische Prager Balkonszene war ein Meilenstein auf dem Weg zur deutschen und europäischen Einheit. Hier riss der Eiserne Vorhang, und nur wenige Wochen später stürzte die Berliner Mauer unter dem Ansturm friedlicher Menschen buchstäblich ein.
Die tschechische Bürgerrechtsbewegung hat diesen Prozeß maßgeblich mit vorbereitet. Auch wenn sie brutal unterdrückt wurde: ihr Mut hat Europa verändert.
Am 17. November brach sich der Freiheitswille von Tschechen und Slowaken in der "samtenen Revolution" Bahn und legte die Grundlage für die Rückkehr der damaligen Tschechoslowakei nach Europa.
Ich bin heute nach Prag gekommen, um allen Beteiligten meinen herzlichen Dank für ihren Beitrag zu dieser friedlichen europäischen Revolution auszusprechen.
Meine Anerkennung gilt zunächst den damaligen Zufluchtsuchenden, von denen ich einige hier heute begrüßen kann.
Ihre Entschlossenheit, einem Leben in Unfreiheit zu entfliehen, hat vielen Menschen in der früheren DDR Hoffnung auf ein neues, freieres Leben gegeben und sie in ihrer Zivilcourage bestärkt.
Sie waren es, die nach der Regierungsübernahme durch die Solidarnosc in Polen und nach der Grenzöffnung durch die ungarische Regierung dem SED-Regime einen weiteren schweren Stoß versetzten. Hiervon sollte sich das SED-Regime nicht mehr erholen.
Mein Dank und meine Anerkennung gilt auch Botschafter Huber und allen damaligen Angehörigen der Botschaft sowie den Helfern des Deutschen Roten Kreuzes, die in den entscheidenden Wochen einfühlsam und unbürokratisch schier Unmögliches geleistet haben.
Danken will ich schließlich auch für die vielen offenen und versteckten Hilfen und Sympathiebezeugungen der Prager Bevölkerung und der Hilfsorganisationen, die sich von den Sicherheitskräften nicht einschüchtern ließen.
Das tschechische Volk knüpfte damit an den unbeugsamen Widerstand gegen die kommunistische Diktatur an. Ein Widerstand, für den beispielgebend und beispielhaft Sie, Herr Präsident, Ihre Mitstreiter von der Charta 77 und die Akteure des Prager Frühlings stehen.
Indem die Prager Bevölkerung den Deutschen half, half sie sich selbst auf dem Weg zu Demokratie und Menschenrechten.
Die Prager Ereignisse wurden so zu einem weiteren Auslöser der Wende in der damaligen Tschechoslowakei.
Was den Menschen in Mittel- und Osteuropa die Freiheit gebracht hat, ermöglichte uns Deutschen die Wiederherstellung der staatlichen Einheit.
Ohne den Beitrag von Tschechen und Slowaken, ohne den Beitrag der Völker in den anderen Reformstaaten Mittel- und Osteuropas hätte die deutsche Einheit nicht gelingen können.
Zugleich gilt: so wie die Teilung Deutschlands Teil der Trennung Europas war, hat die Wiedervereinigung Deutschlands den Weg für ein Zusammenwachsen Europas frei gemacht.
Für uns Deutsche war und bleibt die feste Einbindung in den europäischen Integrationsprozess und das atlantische Bündnis Fundament und unabdingbare Voraussetzung für die Erfüllung des unserem Staate vom Grundgesetz vorgegebenen Auftrags als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.
Auch deshalb sind wir froh und stolz, dass Tschechien, Polen und Ungarn heute der NATO angehören.
Das vereinte Deutschland bleibt dem Ziel einer Vertiefung und Erweiterung des europäischen Integrationsprozesses verpflichtet. Beides ist untrennbar miteinander verbunden.
Die Beitrittsverhandlungen der EU mit Tschechien sind im vergangenen Jahr gut vorangekommen. Wir werden uns auch weiterhin dafür einsetzen, sie so rasch wie möglich zum Erfolg zu führen.
Nach wie vor hängt das Beitrittsdatum in erster Linie von den Beitrittskandidaten selbst ab. Wichtig ist daher, dass die Tschechische Republik am Kurs weiterer Reformen festhält.
Wir werden jedenfalls alles dafür tun, damit die EU ihrerseits im Jahre 2003 auf die Aufnahme neuer Mitglieder vorbereitet ist.
Die deutsch-tschechischen Beziehungen sind heute besser denn je.
Deutsche und Tschechen sind heute erstmals Verbündete in einem Militärbündnis und hoffentlich auch bald Partner in der EU.
Der Zukunftsfonds und das deutsch-tschechische Gesprächsforum haben schon seit einiger Zeit hervorragende Grundlagen für diese positive Entwicklung gelegt.
Ihr Besuch in Bonn Anfang des Jahres, Herr Ministerpräsident, hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Wir wollen die Voraussetzungen weiter verbessern, dass Deutsche und Tschechen sich verantwortungsvoll und angstfrei mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen können.
Lassen sie uns hieran gemeinsam arbeiten. Für das vereinte Europa, das wir gemeinsam mit den Partnern bauen. Für unsere Zukunft in der Mitte Europas.