Redner(in): Michael Naumann
Datum: 01.10.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/23/11823/multi.htm


Kulturstaatsminister Michael Naumann über die Zukunft des Buches

Herr Naumann, Sie waren Journalist und Verleger, also ein Profi im Umgang mit beschriftetem Papier. Hat das gedruckte Wort im elektronischen Zeitalter noch eine Zukunft, oder wird es bald keine Bücher mehr geben?

Acht Jahre lang war ich auch Wissenschaftler - und mit derApodiktik dieser Profession behaupte ich - die Menschen werden weiter Bücher kaufen und weiter Bücher lesen. Der Umsatz des deutschen Buchhandels steigt kontinuierlich - entgegen den bisweilen apokalyptischen Äußerungen der Branche. Ob allerdings die Lesegeschwindigkeit mit der Zunahme der Umsätze Schritt halten wird, wage ich zu bezweifeln. Die Aufnahmebereitschaft des Menschen ist nun mal begrenzt.

Lexika, ja sogar textintensive Editionen erscheinen heute häufig nicht mehr in Buchform, sondern als CD-ROM. Die altehrwürdige Encyclopaedia Britannica etwa soll es künftig nur noch als Datenscheibe geben. Zeigt sich da nicht ein Trend?

Ich gehöre zu den ersten, die sich vor Jahren die CD-ROM mit der Encyclopaedia Britannica gekauft haben. Aber ich habe sie nur selten benutzt, obwohl ich ein absoluter Technikfreak bin. Wer liest sich schon am Bildschirm fest?

Es trifft gleichwohl zu, dass ein Teil der Buchbranche, der sich auf reine Informationsliteratur beschränkt, zum Beispiel im enzyklopädischen Bereich, in Zukunft mit Umsatzrückgänge rechnen muss.

Wird es bald keine Lexika in Buchform mehr geben?

Es ist immer noch ein Unterschied, ob ich eine Seite scrolle oder umschlage. Und ob ich in aller Ruhe in ein Buch vertieft bin oder vor einem Computer sitze, der jeden Moment abstürzen kann. Dazu kommt, dass der Mensch nur eine begrenzte Zeit vom Bildschirm lesen kann. Das ist einfach physiologisch bedingt.

Kann die Technik da nicht nachhelfen? Schon jetzt gibt es das so genannte elektronische Buch, das man sogar im Bett lesen kann.

Vor zweieinhalb Jahren kam der Geschäftsführer der Firma NuvoMedia zu mir nach New York und zeigte mir das von seinem Unternehmen entwickelte Rocket eBook. Mein erster Eindruck war: Dieses Ding würde ich nie mit ins Bett nehmen. Es ist mir zu kalt und haptisch zu wenig ansprechend. Es ist eben kein Buch, sondern ein technisches Gerät. Mit technischen Geräten will man nicht freiwillig ins Bett, mit einer Ausnahme - dem Heizkissen.

Ist das so entscheidend?

Es gibt noch andere Hindernisse, vor allem das Urheberrechtsproblem. Die Verlage haben einfach kein Interesse daran, einen großen Teil der urheberrechtlich geschützten Literatur ins Internet einzuspeisen. Von den Millionen Titeln, die auf dem Markt sind, steht deshalb nur ein Bruchteil auf Websites zur Verfügung.

Gleichwohl investieren die Verlage viel Geld in den Multimediabereich. Wie wird sich das langfristig auswirken?

Man muss hier unterscheiden zwischen der Herstellung der Texte, dem Vertrieb und der Rezeption. Heute sind die Verlage durchaus dankbar, dass Manuskripte elektronisch übermittelt werden. Aber gelesen wird auch in Zukunft von Lesern.

Wird die Digitalisierung auch den Vertrieb von Büchern völlig umkrempeln?

Die Bestell- und Vertriebssysteme sind gerade von den deutschen Verlagen seit Jahrzehnten beispielhaft modernisiert worden. Die deutschen Buchhandlungen sind bereits seit mehr als 20 Jahren über Terminals mit dem Barsortiment verbunden.

Hat sich die Investition in moderne Technik gelohnt?

Der Umsatz mit Büchern ist, wie gesagt, ständig gestiegen. Ich warne also vor kulturpessimistischen Attitüden. Sie stimmen mit den Fakten und Zahlen nicht überein. Und ich wage die Prognose, sie werden niemals damit übereinstimmen. So wenig wie durch die Magnetschwebebahn unser aller Beine überflüssig werden, werden Bücher durch Computer ersetzt werden.

Wie gehen Sie selbst mit Multimedia um?

Ich bin ein faszinierter Nutzer, vor allem von E-Mail, und ich habe den dritten Laptop in der Geschichte der Bundesregierung im Kanzleramt eingeführt.

Als Computerfreak und ehemaliger Verlagsmensch wissen Sie selbst am besten, dass sich im Zeitalter der Digitalisierung einzelne Stoffe vielfach verwerten lassen: als Buch, als Film, als CD-ROM oder auch online. Überdies können die Verlage übers Internet in den Buchvertrieb einsteigen. Steigt dadurch nicht die Gefahr zunehmender Konzentration?

Natürlich ist der im Vorteil, der die gesamte Kaskade der Nutzungsmöglichkeiten beherrscht. Gleichzeitig aber ist das Netz der große Gleichmacher. Jeder kann sich seine Website einrichten. Gerade für die Kleinen hat sich das Internet daher als ein neues Marketinginstrument erwiesen.

Wollen Sie damit behaupten, dass das Internet immer noch eine urdemokratische Veranstaltung ist, in der auch kapitalstarke Verlage keinen Vorsprung haben?

Zumindest sind die klassischen Angebots- und Verkaufswege aufgebrochen worden. Und das ist doch schon eine kleine Revolution. Nicht zuletzt haben auch die Autoren durch das Internet mehr Darstellungs- und Verkaufsmöglichkeiten denn je.

Wozu braucht man denn eigentlich noch Verlage, wenn jeder seine Texte im Internet publizieren kann?

Um das Buch zu drucken, um die Rechte zu schützen und so weiter. Aber es kommt noch etwas viel Bedeutsameres hinzu: Wenn alle Autoren ihre Texte selbst veröffentlichen, fehlt alsbald die kritische Distanz des Lektorats. Ich glaube, es wird weiterhin notwendig sein, dass zwischen Autor und Leser ein Lektor als Gesprächspartner, eine Werbe- und Rechtsabteilung, ein anständiger Vertrieb steht.

Die Manager könnten aber auch gleich ganz die Macht übernehmen. An Bestsellern ist doch oft zu erkennen, dass der Autor immer mehr zu einer Pappfigur der Verlage wird, ein kleines Rädchen in der Verwertungskette der Multimediakonzerne.

Ohne den Autor wird sich keine Literatur verkaufen lassen. Und glauben Sie mir - Autoren wie Grass oder Eco sind keine Pappfiguren. Stephen King ist eine Großmacht. Der Leser braucht den Autor außerdem als menschliche Projektionsfläche für seine Sehnsüchte. In dem Maße, wie er aus dem Literaturbetrieb verschwindet, werden die Auflagen sinken.

Führt die rasante Entwicklung der elektronischen Medien nicht auch zu einer Veränderung der Wahrnehmung von Texten? Der Leser am Computer, der mit einem Klick ein Buch gegen das andere austauschen kann, befindet sich doch in einer virtuellen Jetztzeit.

Beim Lesen im Internet geht sicher die Geschichtlichkeit verloren, anders als etwa bei einem antiquarischen Buch, wo ich schon an den Eselsohren ahnen kann, dass das Buch eine Biografie hat. Der Nutzer einer komplexen digitalen Information rückt aus seiner zeitlichen Gebundenheit in das Hier und Jetzt des elektronischen Datums. Das hat entscheidende Nachteile.

Welche?

Eine Bibliothek verleitet dazu, buchstäblich die physische Nachbarschaft eines Buches zu besichtigen, das man aus dem Schrank zieht. Für mich war es einer der beglückendsten Momente überhaupt, als ich im Queen's College in Oxford einmal eine Ausgabe von Auguste Comtes "Cours de philosophie positive" mit ihren großen Ausklapptafeln fand - und die Bücher waren nicht einmal aufgeschnitten! Ich hatte erstens das unerwartete Gefühl einer archäologischen Entdeckung, zweitens ein Wissen über die Rezeption von Comte in Oxford, drittens einen Blick auf die Nachbarschaft ähnlicher Bücher aus der damaligen Zeit. Aber das Schönste war der Geruch des alten Buches. Der hatte etwas so Vertrauenerweckendes und Beruhigendes, schöner als jedes Parfüm. Das alles geht in Datenbanken verloren. Na ja, das sind die Idiosynkrasien eines alternden Lesers...

In der Online-Welt - und nicht allein dort - wird sehr viel mit Bildern, mit Piktogrammen, Logos und Bannern gearbeitet. Verliert das Wort gegenüber der bildlichen Darstellung?

Die Bildkultur ist sehr viel leichter zu manipulieren. Es stellt sich daher in der Tat die Frage, ob die intellektuelle und die aufgeklärte Ordnung unserer Gesellschaft auf lange Sicht durch den Versuch gefährdet ist, etwas anschaulich zu machen, was bisher nur in Worten vermittelbar ist. Das heißt zum Beispiel, eine Selbstkritik der Gesellschaft in Bildern wird nicht möglich sein. Die Eliminierung des Textes durch das Bild hielte ich für einen Rückschritt.

Aber in vielen Bereichen ist diese Entwicklung kaum zu vermeiden.

Es gibt für diese Situation die schöne Parabel von Jonathan Swift. In "Gullivers Reisen" kommt der Held auf eine Insel, wo sich Gelehrte an der Fakultät für Sprachen der Präzision wegen darauf geeinigt haben, alles das, was sie sagen wollen, lieber zu zeigen. Also schleppen sie, wenn ich mich recht erinnere, wie die Narren die Dinge, um die es geht, mit sich herum, sofern sie nicht dafür schon Träger beschäftigen. Für mich ist das die zentrale Fabel der Bildkultur: So kommen wir irgendwann nicht mehr weiter unter der Last der Dinge.

Die Digitalisierung von Texten ermöglicht aber auch eine zusätzliche Komplexität. Sie erlaubt durch so genannte Links eine Abkehr von der linearen Erzählweise. Können sich dadurch nicht neue literarische Formen entwickeln?

Mit dem elektronischen Stilmittel des so genannten Hypertextes wird im Grunde versucht, das Gehirn des Lesers auszuräumen und zu ersetzen durch alle vorstellbaren Assoziationsketten bis hin zu Absurditäten. Es ist der vergebliche Versuch, Phantasie durch Technik zu ersetzen, letztlich ein Verlust von Freiheit im Namen von Vielfalt.

Die Befürworter dieser Technik sehen es anders: Durch die Klickfreiheit würde die Herrschaft des Autors aufgehoben. Ist da nicht etwas dran?

Ich halte das für genauso naiv wie das alte Renaissanceideal, jeder könne sein eigener Autor sein. Die Mehrheit der Menschen ist nun mal nicht als Autor geboren, sondern als Leser.

Hat es nicht einen besonderen Reiz, wenn der Leser mitentscheiden kann, wie ein Handlungsfaden weitergesponnen werden soll?

Das gab es schon zu Zeiten von Charles Dickens, der seine frühen Romane als Zeitungsserie veröffentlichte. Von Ausgabe zu Ausgabe schrieben sein Redakteur und seine Leser mit, indem sie ihm sagten, welche Figur ihnen gefiel und welche nicht. Ich sehe in dieser Form der Internet-Literatur also keinen entscheidenden Fortschritt.

Ändert sich die Sprache der Literatur, die am Bildschirm verfasst wird?

Schon in der Vergangenheit haben bestimmte Berufsgruppen, etwa die Piloten, immer neue Wörter in die deutsche Sprache eingeführt. Ich halte das nicht für eine kulturelle Gefahr, sondern für eine Bereicherung. Die eigentliche Frage ist: Wie verhält sich der Autor überhaupt angesichts der enormen technischen Erleichterungen, die durch den Bildschirm gegeben sind?

Und was meinen Sie?

Erstens: Durch das Sprachkorrekturprogramm, das in vielen Computern steckt, droht eine Verarmung. Zweitens: Durch die Möglichkeit, Texte schnell auszudrucken, erliegt der Autor dem Erlebnis, dass Druck adelt. Die gedruckte Seite wirkt wie gebenedeit durch einen Lektor, übrigens auch auf den Verlag. Eine Folge davon ist, dass der durchschnittliche Umfang von Romanen zugenommen hat.

Ist das so schlimm?

Ein Mann wie John Updike weiß gar nicht mehr - und er gibt das zu - , wie viele Bücher er geschrieben hat. Er war einer der ersten, der auf dem Computer geschrieben hat. Ein so großer Schriftsteller wie Harold Brodkey hat sich in seinem Computer verlaufen. Buchstäblich.

Wie das?

Nach seinem Tod haben wir 36000 Seiten seines Romanprojekts "The Runaway Soul" ausgedruckt, fortlaufende korrigierte Fassungen. Es war die Dokumentation einer fast 20-jährigen Meditation über das Thema der Erinnerung, diverser familiärer Komplexe und sexueller Krisen und Obsessionen - eine fortgeschrittene hochmusikalische Labyrinthfahrt durch das eigene Gehirn. Die Stränge ließen sich allerdings nicht mehr zusammenknüpfen. Man kann also wirklich sagen, Brodkey hat sich in seinem Computer verlaufen, wie Robert Musil in seinem "Mann ohne Eigenschaften" sich in der Überfülle der Notizen verloren hat.

Was folgt daraus?

Es besteht die Möglichkeit, dass die klassische narrative lineare Erzählform zerfließt und mit ihr eine ganze Kultur - im Computer, in dem Zauber des neuen Angebots. Brodkey war einer der ersten, die dieses verführerische Angebot genutzt haben. Die nächste Schriftstellergeneration, denke ich, wird dem Zauber aber nicht mehr so leicht erliegen, sondern auch in Zukunft sich anpassen an die klassischen Verwertungszusammenhänge des Buchgewerbes. Das mag man bedauern, aber auch geniale Dichter müssen leben. Wenn das Buch bestehen bleibt - und ich bin sicher, dass es überleben wird - werden solche verblüffenden Erscheinungen wie Harold Brodkeys geniale Irrfahrt in das Reich der Megabytes gewiss die Ausnahme bilden.

Herr Naumann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure STEPHAN BURGDORFF und JOHANNES SALTZWEDEL Der Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift SPIEGEL Spezial.