Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.10.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/25/11725/multi.htm


Vier Jahrzehnte lang haben der Kalte Krieg und der "Eiserne Vorhang" Europa schmerzlich zerrissen und die Zukunft unseres Kontinents behindert.

Heute blicken wir nicht nur mit Stolz zurück auf neun Jahre deutscher Einheit. Sondern wir können auch mit Zuversicht nach vorn blicken auf das gemeinsame Europa des 21. Jahrhunderts.

Dass diese Entwicklung möglich wurde, dafür haben wir den Völkern in den heutigen Reformstaaten Ostmitteleuropas zu danken.

Der damaligen sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow gilt unsere Anerkennung dafür, dass sie sich dem Freiheitswillen der Menschen nicht entgegengestemmt hat.

Ganz im Gegenteil: Die Reformpolitik Gorbatschows hat zu dieser Entwicklung beigetragen.

Auch und gerade unseren westlichen Nachbarn und Verbündeten sind wir zu Dank verpflichtet.

Nur die feste Verankerung der Bundesrepublik im europäisch-atlantischen Bündnis und die Unterstützung durch unsere Partner hat es ermöglicht, dass Deutschland als geeinter Staat seine volle Souveränität erlangen konnte.

Ich denke allerdings, der 3. Oktober sollte vor allem ein Tag des Dankes an die Deutschen sein.

An die Deutschen in der ehemaligen DDR für den Mut und die Zivilcourage, mit der sie die Mauer und ein diktatorisches System zum Einsturz gebracht haben.

An die Deutschen im ehemaligen "Westen" für die Solidarität und Hilfsbereitschaft für die damals noch sehr "neuen" Länder.

Und an die Deutschen, das heißt: an die Bewohner des heutigen Deutschlands, für ihr Engagement, unserem Gemeinwesen eine erfolgreiche Zukunft und unserer Nation eine friedliche Identität zu schaffen.

Zur Besinnung auf das Gemeinsame gehört die Vergewisserung der geschichtlichen Tatsachen. Es kann deshalb nicht oft genug gesagt werden:

Die Mauer wurde von Ost nach West eingedrückt, nicht umgekehrt.

Lange vor dem 9. November hatte sich eine immer stärker werdende Massenbewegung in der damaligen DDR formiert, deren Ruf nach Demokratie und Gerechtigkeit unüberhörbar wurde.

Die deutsche Einheit war nicht in erster Linie ein diplomatisches Meisterstück - das war sie zweifellos auch. Die auf Freiheit und den Frieden ausgerichtete Entwicklung in der alten "Bonner Republik" hat den Freiheitswillen der Menschen in Ostdeutschland gespeist und inspiriert.

Aber erst beides zusammen ermöglichte eine Entwicklung, in der eine frei gewählte Volkskammer und ein frei gewählter Bundestag die Einheit in Selbstbestimmung beschließen konnten.

Die staatliche Einheit Deutschlands ist heute eine Selbstverständlichkeit. An die Berliner Mauer, die zu Recht als "hässlichstes Bauwerk Europas" bezeichnet wurde, erinnern heute nur noch Bruchstücke.

Symbole für künftige Generationen, dass Herrscher Mauern gebaut haben und Menschen sie haben zerbrechen lassen.

Die Grenze zwischen Hessen und Thüringen ist heute so unsichtbar wie die zwischen Hessen und Niedersachsen.

Für die wirtschaftlichen und sozialen Grenzen in unserem Land und für das, was man die "innere Einheit" nennt, gilt das leider noch nicht in vollem Umfang.

Der Aufbauprozess in den neuen Ländern ist keineswegs abgeschlossen, die innere Einheit noch längst nicht vollendet.

Dies ist nicht der Ort, die gewaltigen Aufbauleistungen und beachtlichen Fortschritte zu beziffern.

Hier mag der Hinweis genügen, daß mehr als eine halbe Million Menschen den Schritt in die Existenzgründung gewagt und eine entsprechende Anzahl neuer Arbeitsplätze geschaffen haben.

Das ändert nichts an der nach wie vor dramatisch hohen Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern. Aber es zeigt, dass wir auf den Einsatz und den Einfallsreichtum der Menschen bauen können.

Vieles ist erreicht worden. Dennoch werden wir auf Solidarität und Hilfe beim Aufbau Ost auch in Zukunft nicht verzichten können. Und mit "Zukunft" meine ich: auch über das Jahr 2004 hinaus, wenn der jetzige Solidarpakt ausläuft.

Sicher: Der Zwang, die Staatsfinanzen zu konsolidieren, damit wir unseren Kindern ein handlungsfähiges, lebenswertes Gemeinwesen hinterlassen können, betrifft alle Bereiche.

Insofern werden auch im Osten einige Abstriche gemacht werden müssen - vor allem zugunsten einer größeren Zielgenauigkeit der Fördermaßnahmen.

Aber die Förderungsleistungen bleiben dennoch auf deutlich höherem Niveau als in den vergangenen Jahren.

Und das sollten wir auch für die Zukunftsplanung beherzigen: Wir brauchen eher einen "Solidarpakt II", einen mit noch deutlicheren Schwerpunkten auf die Zukunftsinvestitionen vor allem in Bildung und Wissen, als das, was heute unter dem Schlagwort "Wettbewerbs-Föderalismus" propagiert wird und vor allem die östlichen Bundesländer benachteiligen würde.

Die Beteiligung aller, angefangen von Wahlen bis zur gemeinsamen Gestaltung unserer wirtschaftlichen Zukunft, ist Voraussetzung für die Zukunft unserer Teilhabe-Gesellschaft.

Nur wenn die Menschen beteiligt sind am Haben und Sagen können wir die Herausforderungen durch Globalisierung und Digitalisierung meistern.

Das heisst aber auch: Ohne Chancengerechtigkeit, ohne soziale Fairness können wir die Menschen nicht für das Gemeinwesen gewinnen.

Deshalb bleibt die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, der Solidarität zwischen den verschiedenen Teilen des Landes und der Gesellschaft, oberstes Gebot bei der Konsolidierung unseres Gemeinwesens.

Weder nach dem Zweiten Weltkrieg noch nach dem 3. Oktober 1990 waren es Egoisten, die unser Land aufgebaut haben.

Natürlich wissen wir, dass ein Teil der uns einschnürenden Staatsverschuldung im Zusammenhang mit der deutschen Einheit steht.

Doch gerade deshalb haben wir heute die Pflicht, diese Verschuldung zurückzuführen.

Dabei werden wir die Lasten gerecht verteilen. Ohne das Erreichte zu gefährden, aber indem wir das Gemeinwesen über die Partikularinteressen stellen. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig.

Der enorme kulturelle Gewinn der Bundesrepublik durch die Wiedervereinigung mit dem Deutschland von Weimar und Wittenberg, von Potsdam und Eisenach ist oft genug beschworen worden.

Geist, Kultur und Sprache sind tragende Säulen einer Identität, die uns hilft, einander zu verstehen und ohne Überheblichkeit "gern Deutsche zu sein".

Wir sollten das ohne übertriebenes Pathos, aber auch ohne quälerischen Selbstzweifel sein.

Die Verbrechen von Auschwitz sind auf alle Zeiten in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt. Hier kann es kein Verdrängen, kein Vergessen, keinen wie immer gearteten "Schlussstrich" geben.

Nur wer die Geschichte annimmt, hat auch die Chance, sie zu überwinden. Nur wer die bitteren Erfahrungen mit nationalistischem Größenwahn und Diktatur, aber auch mit 40 Jahren deutscher Teilung, verarbeitet, kann die Zukunft der Deutschen in Europa gestalten.

Unserer Vergangenheit bewusst, der Zukunft verpflichtet. In solcher Haltung sehen uns im übrigen auch unsere Nachbarn wesentlich unbesorgter.

Die Identität der Deutschen gründet sich auf die Werte, die uns und unser Gemeinwesen ausmachen. Werte, für die wir und unsere Vorfahren gekämpft und gestritten, nicht selten auch gelitten haben.

Und deren Umsetzung im Alltag, in der Gegenwart unserer Gesellschaft diskutiert und gesichert werden muß - damit auch unsere Kinder und Enkel sich an ihnen orientieren können.

Es sind die Werte von Freiheit, Selbstbestimmung und Solidarität.

Die Zukunft dieser Werte ist nicht in Gefahr. Wofür wir uns anstrengen müssen, das ist die Zukunftsfähigkeit bei der Durchsetzung dieser Werte in der modernen Gesellschaft.

In diesen Tagen ist viel über jene entscheidenden Monate zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 geschrieben worden.

Und da habe ich häufiger lesen können, das vorbehaltlose Bekenntnis zur Europäischen Integration, unter Einschluss der Währungsunion, sowie die Bereitschaft zu großzügiger Hilfe für die Staaten Ost- und Mitteleuropas seien gewissermaßen der "Preis" für die deutsche Einheit gewesen.

Dem mag ich so nicht zustimmen. Ich sehe die Vertiefung und Erweiterung Europas als lohnende Aufgabe. Und damit, auf mittlere Sicht, für alle Beteiligten weit eher einen "Lohn" als einen "Preis".

Dass das vereinte Deutschland seiner Verantwortung in und für Europa gerecht wird - darauf dürfen wir an einem Tag wie dem heutigen ruhig auch etwas stolz sein.

Die Entscheidung für eine Beteiligung am Krieg und an der Friedenssicherung im Kosovo ist niemandem leicht gefallen. Und erst in den letzten Tagen ist uns schmerzlich vor Augen geführt worden, mit welchen Risiken der Einsatz unserer Soldaten behaftet ist.

Ich möchte Ihnen deshalb auch von dieser Stelle nochmals besonders danken und Ihnen unsere Unterstützung versichern.

Um so bewusster sollten wir uns sein, welch historischen Beitrag das vereinte Deutschland - gemeinsam mit seinen europäischen und amerikanischen Partnern und auch gemeinsam mit Russland - zu Frieden und Stabilität in Europa leistet:

Durch politische, und notfalls eben auch militärische Konsequenz zur Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber auch und vor allem durch die Eröffnung einer wirtschaftlichen und politischen Perspektive für ganz Europa.

Die Ereignisse um den Kosovo-Konflikt machen auf dramatische Weise deutlich, was sich in Deutschland und Europa durch diesen 3. Oktober verändert hat.

Von durchaus kompetenter Stelle ist eingewandt worden, der 3. Oktober eigne sich nicht zum Nationalfeiertag der Deutschen. Der Historiker Arnulf Baring hält das Datum für, ich zitiere: "nichtssagend, inhaltsleer, nicht überhöhungsfähig."

Dem mag ich, bei allem Respekt, nicht zustimmen. Auch wenn wir Deutschen nach dem entsetzlichen Missbrauch von Emotionen und nationalen Mythen durch zwei Diktaturen, Kaiserreich und Militaristen nun wahrlich keinen Nachholbedarf an nationaler Überhöhung haben, steht doch fest:

Emotionen, auch öffentliche Emotionen, Freude und Stolz gehören zum Leben und zur Identität einer Nation, die mit sich und anderen im Frieden ist.

Aber der 3. Oktober bringt die Freude über die wieder gewonnene Einheit, die ja nicht auf einen speziellen Tag zu terminieren ist, doch recht gut zum Ausdruck.

Es ist eine Freude nicht nur über das Ende von Mauer und Stacheldraht, sondern auch über das Ende des Eisernen Vorhangs in Europa. Am 3. Oktober 1990 wissen wir genauer als im Freudentaumel des 9. November 1989, dass Deutschlands Zukunft nur in und mit einem freien Europa liegt.

In diesem 3. Oktober bündeln sich die besten Traditionen deutschen Bürgersinns und Freiheitsstrebens. Die Tradition des 17. Juni 1953 ebenso wie die der Friedensbewegung des Westens - die ja weit intensiver als die offizielle Politik im Dialog mit den Bürgerrechtlern Ostdeutschlands stand.

Mehr noch: Am 3. Oktober läuft erstmals in der deutschen Geschichte seit 1848 wieder zusammen, was durch das 20. Jahrhundert in Deutschland getrennt war. Republikanischer Bürgersinn und der Wunsch nach nationaler Einheit in Freiheit und Selbstbestimmung versöhnen und vereinigen sich.

Mir scheint, das ist ein guter Tag zur Selbstvergewisserung. Und erst recht ein guter Tag zum Feiern.