Redner(in): Christina Weiss
Datum: 09.11.2002
Untertitel: Am 9. November 2002 hat die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Christina Weiss die Ausstellung "!Avantgarden! - Kunst in Mitteleuropa 1910-1930" eröffnet. Die Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt fast 300 Objekte und ist bis 9. Februar 2003 geöffnet.
Anrede: Sehr geehrter Minister, sehr geehrter Herr Michnik, Exzellenzen, sehr geehrter Herr Dr. Benson, sehr geehrter Herr Dr. Sartorius, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/06/448706/multi.htm
ich freue mich sehr, Sie zur Eröffnung der Ausstellung "! Avantgarden! Kunst in Mitteleuropa 1910 - 1930" begrüßen zu können. Meine Freude entzündet sich dabei sowohl am Thema der Ausstellung als auch an ihrem kulturpolitischen Kontext.
Kunstwerke erzählen nicht nur die Geschichte der Kunst, sondern auch die ihres Jahrhunderts. Sie reflektieren ihre Epoche, sind Spiegel der gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Wirklichkeit, in der sie entstanden sind. Aber Kunst erschöpft sich nicht in ihrer Funktion als Chronistin, sondern bezieht - aktiv - Positionen. Die Künste initiieren daraus nicht selten gesellschaftliche Bewegungen, Utopien, Revolution.
Aufbruch und Dynamik bilden zentrale Kategorien für das Verständnis der europäischen Avantgarden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Im Rückblick beeindruckt noch immer, in welch kurzer Zeit sich - auf unterschiedliche Weise - eine radikale Abkehr von der bis dato gültigen Bild- und Kunstauffassung vollzieht. Das Kunstwerk wird nicht länger als Nachahmung der Wirklichkeit begriffen, sondern als Ausdruck einer Idee.
Kubismus, Konstruktivismus, Futurismus und die Montagen des Dadaismus - um nur vier mitteleuropäische Stränge zu benennen - thematisieren Bewegung je verschieden. Die kompositorische Dynamik teilt sich dabei über den Prozess der Wahrnehmung unmittelbar mit. Richtungswechsel und irritierende räumliche Beziehungen zwingen uns, den Blick ständig in Bewegung zu halten.
In dem Maße, wie die avantgardistischen Strömungen auf eine Dynamisierung von Wahrnehmung zielten, speisten sie sich auch aus der Dynamisierung optischen Erlebens. Revolutionäre Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, die insbesondere Verkehrsmittel wie das Auto, den Zeppelin oder das Flugzeug hervorbrachten, eröffneten den Menschen ganz neue Felder der sinnlichen Erfahrung und der Weltsicht.
Und nicht zuletzt die neuen Möglichkeiten der Kommunikation und des Verkehrs beförderten die Entstehung transnationaler, genuin europäischer Avantgarde-Bewegungen. Ihr intellektueller Anspruch war gleichsam universalistisch - auch in politischer Hinsicht, denn der erste Weltkrieg und das Ende der k. u. k. -Monarchie in Österreich wie des zaristischen Rußlands erforderten eine grundlegende gesellschaftliche Neubestimmung.
Die Rezeption der ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Avantgarden der Zwischenkriegsjahre in Westeuropa war lange Zeit statisch - statisch in dem Sinne, dass sie sich auf wenige bekannte Positionen beschränkte. Unser westliches Bild von der osteuropäischen Moderne ist gewissermaßen immer noch eingefroren. Der europaweite Terror des NS-Regimes gegen die Kultur und der kalte Krieg haben unseren Blick zweifellos zweifach verstellt.
Das Ende des kalten Krieges hat allerdings - auch in kulturpolitischer Hinsicht - die Perspektiven aufgebrochen. Sammlungen und Archive wurden zugänglich, der kulturelle Austausch zwischen Ost- und Westeuropa insgesamt gewinnt an Dynamik. Wir müssen diese Dynamik beibehalten, nicht zuletzt angesichts der anstehenden Erweiterung der EU. Europa darf nicht nur ein Wirtschaftsraum werden, sondern muss vor allem ein Kulturraum bleiben, Werkstatt und Kraftfeld der Künste, so wie es insbesondere zwischen 1910 und 1930 war. Dass diese Ausstellung zu einer offeneren Wahrnehmung des "versunkenen Labors" der mittel- und osteuropäischen Kunst wesentlich beiträgt, macht sie zu einem Kulturpolitikum.
Abschließend danke ich allen Beteiligten am Zustandekommen dieser Ausstellung, diesem "Herbstsalon" - wie man in Anlehnung an die große internationale Avantgarde-Ausstellung von 1913 in der Berliner Galerie "Der Sturm" sagen könnte: Ich danke Herrn Benson und Frau Król, den Verantwortlichen hier in Berlin, aber auch in München, allen Leihgebern und Unterstützern. Ich freue mich, dass die Ausstellung in einem bundeseigenen Haus in Berlin zu sehen ist und aus Mitteln des Hauptstadtkulturfonds und des Auswärtigen Amtes gefördert werden konnte. Die Ausstellung macht die vielfältigen Bezugspunkte der europäischen Avantgarden in Deutschland greifbar: Berlin, aber eben auch Weimar, Dessau und Düsseldorf. Nicht nur, aber auch nicht zuletzt Berlin verfügt über das Potenzial, als kulturelle Drehscheibe zwischen den Teilen Europas zu fungieren. Auch so gesehen wünsche ich uns einen "bewegenden" Abend.