Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 02.12.2002

Untertitel: Bundeskanzler Schröder: "Während der deutsche Außenhandel im vergangenen Jahr insgesamt immerhin um 4,5 Prozent wuchs, konnte der Handel mit den Ländern dieser Region um fast 13 Prozent auf jetzt schon 141 Milliarden Euro gesteigert werden. Das bedeutet, dass damit ein Zehntel des deutschen Außenhandels auf diese Staatengruppe entfällt. Das ist mehr, als wir an Außenhandel direkt mit den Vereinigten Staaten haben."
Anrede: Verehrter, lieber Herr Dr. Mangold, sehr geehrter Herr Premierminister Kasjanow, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Nastase, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Djindjic, sehr geehrter Herr Gorbatschow, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/29/452629/multi.htm


Seit seiner Gründung vor 50 Jahren im Dezember 1952 folgt die Arbeit des Ostausschusses einer einzigen Leitlinie: den Aufbau und den Ausbau guter und stabiler, zu beiderseitigem Nutzen geltenden Handelsbeziehungen zwischen Ost und West voranzubringen. Die Rahmenbedingungen haben sich in dieser Zeit grundlegend verändert. Was heute Normalität ist und worüber wir uns freuen, war zu Zeiten des Eisernen Vorhangs alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Der Kalte Krieg und die völlig unterschiedlichen politischen wie auch ökonomischen Systeme waren nahezu unüberwindliche Hindernisse für gute Wirtschaftsbeziehungen. Der Ostausschuss hat sich davon nicht entmutigen lassen. Dem Ostausschuss ist es zu verdanken, dass der wirtschaftliche Austausch zwischen der damaligen Bundesrepublik und den Staaten des damaligen Ostblocks in den 50er und 60er Jahren allmählich wieder in Gang kam.

Dies ist ganz besonders Ihr persönliches Verdienst, sehr geehrter Herr Wolff von Amerongen. Sie haben die Arbeit des Ostausschusses über ein halbes Jahrhundert geprägt. Ihre Arbeit wird nicht nur im Gedächtnis derer bleiben, die wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, sondern sie wird auch ein Stück Zeitgeschichte bleiben.

Ohne die Arbeit des Ostausschusses wäre auch die Entspannungspolitik schwieriger geworden. Hier ist manches vorbereitet worden, worauf politisch aufgebaut werden konnte. Dies gilt ebenso umgekehrt: Ohne die Entspannungspolitik, die damals von Willy Brandt und anderen ins Werk gesetzt worden ist, wäre der Erfolg der Arbeit des Ostausschusses so auch nicht möglich gewesen.

Aber wichtig ist mir, dass wir hier nicht nur allein über die wirtschaftlichen Aspekte reden. Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass ihre Arbeit den Frieden in Europa ein Stück sicherer gemacht hat, und zwar durch wirtschaftlichen Austausch und die daraus entstehenden sehr persönlichen, aber eben auch ökonomischen und politischen Beziehungen. Der Ostausschuss hat somit einen wichtigen Beitrag zur Entspannung zwischen Deutschland und den Staaten Mittel- und Osteuropas geleistet.

Nicht zuletzt durch diesen Austausch wirtschaftlicher Beziehungen und in Folge dessen durch die Möglichkeit, einander näher zu kommen, Gedanken und Meinungen auszutauschen, waren die wahrhaft revolutionären und welthistorischen Taten von Michail Gorbatschow möglich geworden. Dass es darüber hinaus eines ganz persönlichen Mutes und einer unglaublichen Vision bedurfte, hat Herr Mangold bereits deutlich gemacht.

Sie, Herr Gorbatschow, haben sich dadurch Ihren Platz in der Weltgeschichte, ganz besonders aber in der Geschichte der Deutschen errungen. Das ist ein Platz, den wir immer in Ehren halten werden.

Wie positiv diese Entwicklung das Gesicht Europas verändert hat, zeigen zwei Ereignisse aus den letzten Wochen.

Vor elf Tagen, am 21. November 2002, haben sich die Staats- und Regierungschefs der Mitglieder der Nordatlantischen Allianz in Prag darauf verständigt, in einer zweiten Erweiterungsrunde sieben mittel- und osteuropäische Staaten zur Aufnahme von Beitrittsgesprächen einzuladen.

Diese Erweiterung bietet die große Chance, in ganz Europa ein Mehr an Stabilität und damit ein Mehr auch an friedlicher und ökonomischer Entwicklung zu erlangen. Das Sicherheitsbedürfnis Russlands und seine strategische Partnerschaft zu Europa wird dadurch unterstützt und nicht in Frage gestellt. Die NATO-Erweiterung und die enge Zusammenarbeit zwischen Europa, zwischen der NATO und Russland sind zwei Seiten einer Medaille.

Am 13. Dezember werden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Kopenhagen die Erweiterung der Union um zehn neue Mitgliedstaaten, überwiegend auch aus Mittel- und Osteuropa, beschließen. Verehrter Herr Kollege Nastase, die Bundesregierung wird darüber hinaus gemeinsam mit ihren EU-Partnern Rumänien und Bulgarien unterstützen, das selbst gesetzte Ziel eines Beitrittes im Jahr 2007 zu realisieren.

Auch die Südosteuropäer, Herr Ministerpräsident Djindjic, haben mit dem Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess eine realistische Perspektive zur Europäischen Union, die wir miteinander mit aller Kraft voranbringen wollen.

Mit diesen Beschlüssen überwinden wir wirklich die Teilung Europas und können sagen: "Jetzt wächst nicht nur in Deutschland zusammen, was zusammen gehört, sondern in Europa auch." Wir werden jetzt wunderbare alte europäische Regionen und Städte dazu bekommen. Das ist eine Chance, diesen Kontinent, der in seiner Geschichte so viel Blut gesehen hat, zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen.

In diesem Prozess werden der Wirtschaft in unserem Land neue und großartige Chancen eröffnet. Denn wenn man Wohlstand für alle will, dann ist wirtschaftliche Entwicklung eine Bedingung dafür.

Die Wachstumserwartungen der Länder Ost- und Mittelosteuropas zeigen, dass der Prozess des Zusammenwachsens Europas nicht nur dem Frieden und dem Aus-gleich und Wohlstand für alle dient, sondern auch im ureigensten nationalen Interesse Deutschlands liegt. Wir haben neben politischer und ökonomischer Stabilität un-endlich viel zu gewinnen: kulturell, aber eben auch ökonomisch.

Höhere Investitionen, verstärkter Kapitalverkehr und eine engere Zusammenarbeit von west- und osteuropäischen Unternehmen werden Wachstum beschleunigen. Ein Markt von 450 Millionen Menschen wird Europa enorme Chancen bieten; auch im Wettbewerb mit Amerika einerseits und Asien andererseits.

Wir alle wissen, dass umfassende und ungehinderte Teilnahme am Welthandel für Volkswirtschaften eine Voraussetzung für nachhaltiges Wachstum ist. Es ist eine Voraussetzung dafür, die Globalisierung zu gestalten. Das gilt für die Beitrittsländer, wie auch für unser Verhältnis zu Russland.

Während der deutsche Außenhandel im vergangenen Jahr um 4,5 Prozent wuchs, konnte der Handel mit den Ländern dieser Region um fast 13 Prozent auf jetzt schon 141 Milliarden Euro gesteigert werden. Das bedeutet, dass damit ein Zehntel des deutschen Außenhandels auf diese Staatengruppe entfällt. Das ist mehr, als wir an Außenhandel direkt mit den Vereinigten Staaten haben. Zwar sind die Verflechtung mit den Vereinigten Staaten und die Umsatzzahlen deutscher Töchter in den Vereinigten Staaten größer, aber diese Zahlen machen deutlich, wie eminent wichtig für unsere eigene Volkswirtschaft der Handel mit Mittel- und Osteuropa inzwischen ist.

Die Wachstumsraten in Osteuropa werden weiterhin über denen in Westeuropa liegen. Je integrierter die Märkte sind, desto größer werden diese Zuwachsraten. Wir sind entschlossen, diese Zukunftspotenziale zu nutzen. Das tun wir bereits auf den Märkten der ganzen Welt. Die Deutsche Bundesbank hat festgestellt, dass der welt-weite Marktanteil deutscher Ausfuhren von neun Prozent Mitte der 90er Jahre auf inzwischen zehn Prozent am Ende der 90er gestiegen ist.

Wir haben, um diesen erfolgreichen Weg fortzusetzen, Aufgaben im eigenen Land zu lösen. Wir werden eine wirkliche Arbeitsmarktreform durchsetzen. Daran fehlt es - und das ist zuzugeben - in Deutschland. Wir haben die Aufgabe, unser Gesundheitssystem als eines der besten der Welt zu erhalten. Dafür muss es finanzierbar bleiben; das geht nur, wenn wir für mehr Transparenz bei den Anbietern sorgen und mehr Wettbewerb in das System kommt.

Wir sind zudem in einer Debatte über die Steuerreform. Wir haben in den vergangenen Jahren eine international beachtete Unternehmenssteuerreform mit niedrigen Steuersätzen, die 2004 und 2005 noch niedriger werden, durchgesetzt. Aber wir müssen voraussetzen, dass diese niedrigen Sätze auch dem Staat entrichtet werden. Das ist notwendig, damit der Staat seine Zukunftsaufgaben - dazu zählen auch eine Reform des Bildungssystems, eine Verbesserung von Betreuung, seine internationalen Verpflichtungen und die Aufgaben der inneren Sicherheit - erfüllen kann.

Wir sind guten Mutes, dass wir die Herausforderungen, die vor uns liegen, bewältigen. Dabei können wir auf etwas vertrauen, das Deutschland immer stark gemacht hat: nämlich in bestimmten Situationen Gemeinsinn vor Eigennutz zu stellen. Das sollte Leitlinie nicht nur von Politik, sondern auch von gesellschaftlichem Verhalten sein.

Was ich dazu beitragen kann, um die Arbeit des Ostausschusses zu unterstützen, will ich gerne beitragen. Es ist ein Ausschuss, vor dessen Arbeit ich großen Respekt habe.

In diesem Sinne wünsche ich den Jubilaren alles Gute, und ich setze auf weitere erfolgreiche Zusammenarbeit.