Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 02.12.2002

Untertitel: Bundeskanzler Schröder: "Ich bin zuversichtlich, dass es Ihnen gelingen wird, eine Verfassung auszuarbeiten, welche die Unabhängigkeit der Justiz, die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften und die Teilhabe der Frauen am politischen Leben des Landes garantiert. So, wie es in der Petersberg-Vereinbarung vorgesehen ist."
Anrede: Herr Staatspräsident, Herr Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/57/452357/multi.htm


Hier auf dem Petersberg ist vor einem Jahr Geschichte geschrieben worden. Ohne zu übertreiben, kann man sagen, dass sich hier die Geschicke des afghanischen Volkes zum Besseren gewendet haben. Und Sie werden mir gestatten, dass ich auch heute ein wenig stolz darauf bin, erneut Ihr Gastgeber sein zu dürfen.

Unter Leitung der Vereinten Nationen haben die damals hier versammelten Vertreterinnen und Vertreter der afghanischen Volksgruppen und politischen Richtungen nicht weniger erreicht als das Wichtigste für die geschundene Bevölkerung Ihres Landes: Hoffnung und die realistische Perspektive auf ein besseres Leben in Frieden und Freiheit.

Mehr als zwanzig Jahre Bürgerkrieg, die Terrorherrschaft der "Warlords" und schließlich die grausame Diktatur der Taliban hatten nicht nur Afghanistan destabilisiert, sondern auch die Nachbarstaaten. Am Ende war das Land zerrüttet und zerstört, abgeschieden und ausgeschlossen vom Rest der Welt und von jeder Teilhabe am weltweiten Wohlstand.

Eine in Armut und Angst gehaltene Bevölkerung musste ohnmächtig mit ansehen, wie ihr Land zum bevorzugten Schlupfwinkel internationaler Terroristen wurde - die von dort aus schreckliche Verbrechen an Unbeteiligten in aller Welt planten und in Auftrag gaben.

Hier auf dem Petersberg konnten Sie einen Schlußstrich unter jene Zeit des Grauens ziehen. Mit dem erfolgreichen Abschluss der Konferenz konnte Afghanistan seinen Weg zurück in die internationale Gemeinschaft finden. Seit einem Jahr verfügt das Land wieder über eine international geachtete Führung. Hier wurde nach schwierigen Verhandlungen der Grundstein für eine multiethnische Regierung der nationalen Aussöhnung gelegt.

Dieser Erfolg war nur möglich, weil alle zu schmerzhaften Kompromissen bereit waren. Solche Kompromisse werden auch künftig erforderlich sein.

Als Deutscher kann ich nur betonen, welch Geschenk es ist, eine Chance auf Rückkehr in die Völkerfamilie zu bekommen. Sie haben diese Chance im vergangenen Jahr ergriffen. Jetzt wird es darauf ankommen, aus dieser Chance eine belastbare Perspektive zu machen.

Zwietracht und Machtkämpfe unter den Afghanen schaden dem Friedensprozess und mithin den Möglichkeiten, die Afghanistan bei der Gestaltung unserer einen Welt hat. Wir dürfen nie vergessen, dass die Freiheit, die sich den Afghanen seit dem Sturz des Taliban-Regimes eröffnet, täglich neu erworben und erkämpft werden muss.

Meine Damen und Herren,

Ich will Staatspräsident Karzai persönlich danken für den Einsatz, mit dem er sich um die Einheit seines Landes bemüht.

Die Vertreterinnen und Vertreter Afghanistans haben im vergangenen Jahr zusammen mit der internationalen Gemeinschaft einen klaren Zeitplan aufgestellt.

Wie vorgesehen, ist die Loya-Jirga im Juni zusammengetreten. Seit Oktober existiert ein Ausschuss zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfes.

Ich bin zuversichtlich, dass es Ihnen gelingen wird, eine Verfassung auszuarbeiten, welche die Unabhängigkeit der Justiz, die Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften und die Teilhabe der Frauen am politischen Leben des Landes garantiert. So, wie es in der Petersberg-Vereinbarung vorgesehen ist.

Alle Parteien haben sich vor einem Jahr verpflichtet, die Menschenrechte zu respektieren. Das ist der Schlüssel für ein Ende von Gewalt und Not. Toleranz und Respekt gegenüber Andersdenkenden sind das wichtigste Fundament für den so dringend nötigen Wiederaufbau des Landes.

Und bei diesem Wiederaufbau sollte das Prinzip der "Friedens-Dividende" gelten:

Ohne Frieden keine wirtschaftliche Entwicklung. Aber wirtschaftliche Entwicklung bedingt und fördert den Frieden.

Exzellenzen, meine Damen und Herren,

unserer letztjährigen Konferenz war eine aufwendige Militäraktion vorausgegangen. Ohne die internationale Koalition gegen den Terrorismus würde Afghanistan wohl noch immer unter der Diktatur der Taliban leiden.

Bedauerlicherweise sind die militärischen Auseinandersetzungen noch immer nicht beendet. Wir wissen, dass die Befriedung, die Herstellung von Sicherheit und der Wiederaufbau Afghanistans eine langwierige Aufgabe sind, die uns allen Geduld und nachhaltiges Engagement abverlangt.

Aber ich bin überzeugt, dass sich am Ende die rechtmäßige afghanische Regierung mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft durchsetzen wird.

Im Laufe des vergangenen Jahres ist Beeindruckendes geleistet worden, vor allem im Bildungsbereich. Viel mehr Kinder als zunächst erwartet, gerade auch Mädchen, können endlich ihr Menschenrecht auf eine Schulausbildung wahrnehmen.

Diese Fortschritte gilt es zu sichern und auszubauen.

Die afghanische Regierung muss jenen Kräften energisch entgegentreten, die Frauen wieder aus den Universitäten und Schulen verbannen wollen oder auf andere Weise versuchen, die Zustände der Taliban-Zeit wiederzubeleben.

Unsere afghanischen Partner können sich in dieser Auseinandersetzung auch weiterhin auf unsere Hilfe verlassen. Meine Regierung hat, ebenso wie die anderen hier vertretenen Geberländer, erhebliche Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung gestellt und wird dies auch künftig tun. Wir bleiben Afghanistan verbunden.

Allerdings: Internationale Hilfe kann die Eigenanstrengungen des afghanischen Volkes nicht ersetzen.

Wir können und wollen Unterstützung leisten. Entscheidend für die Zukunft Afghanistans sind jedoch weder New York noch Washington oder Berlin, ja, auch nicht der Petersberg. Entscheidend wird sein, wie die afghanische Bevölkerung selbst ihr Schicksal in die Hand nimmt.

Die internationale Gemeinschaft glaubt an eine gute Zukunft Afghanistans. Sie vertraut darauf, dass die verantwortlichen Kräfte Afghanistans ihr großes Potential und ihren guten Willen zum Wohle ihres Landes unter Beweis stellen werden.

Das heutige Treffen, für das ich allen Anwesenden Mut, Weitsicht und Erfolg wünsche, sollte einen weiteren, großen Schritt auf diesem Weg markieren.

Vielen Dank.