Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 04.12.2002

Untertitel: Schröder: "Es kann kein Zweifel sein: Die ökonomische Situation im Land ist, was die Wachstumserwartungen angeht, nicht so, wie sich die internationalen Organisationen, wie sich die wissenschaftlichen Institute und wie sich auch die Bundesregierung das zu Beginn dieses Jahres vorgestellt und auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchungen prognostiziert haben. "
Anrede: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/91/471191/multi.htm


Ich glaube, das, was wir eben gehört haben, ist charakteristisch für die Lage der deutschen Konservativen unter Frau Merkel und Herrn Stoiber - ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das an Inhaltsleere und Bodenlosigkeit nicht mehr zu überbieten ist, ein Niveau der politischen Auseinandersetzung, das über Inhalte gar nichts mehr weiß und auch nichts mehr wissen will, sondern nur noch zum Instrument der persönlichen Diffamierung greift. Das haben Sie, Herr Glos, heute hier bewiesen.

Exakt dieses Niveau erleben wir seit einiger Zeit. Ich fordere Sie auf, Frau Merkel, davon Abstand zu nehmen. Das schadet unserem Land, das schadet dem demokratischen Prozess und das schadet letztlich uns allen. Es ist Ihre Verantwortung, diese Scharfmacher zurückzupfeifen, und zwar gründlich. Wir werden über dieses Muster der inhaltslosen politischen Auseinandersetzung noch zu reden haben. Zunächst aber: kein Wort des Hauptredners der CDU / CSU zur realen Lage im Land. Außer dümmlichen Sprüchen hat er nichts, aber auch gar nichts vorgebracht. Das Niveau zeigt in seltener Deutlichkeit, dass Sie zu keiner einzigen der Fragen, die bei uns anstehen - gewiss sind die schwierig genug - , auch nur den Hauch einer Antwort haben. Das ist doch der Grund, warum Sie nur zur persönlichen Diffamierung und zu jeder Form von Klamauk in der politischen Auseinandersetzung greifen, weil Sie mehr nicht anzubieten haben. Das ist der Tatbestand, über den man hier einmal reden muss.

Es kann kein Zweifel sein: Die ökonomische Situation im Land ist, was die Wachstumserwartungen angeht, nicht so, wie sich die internationalen Organisationen, wie sich die wissenschaftlichen Institute und wie sich auch die Bundesregierung das zu Beginn dieses Jahres vorgestellt und auf der Basis von wissenschaftlichen Untersuchungen prognostiziert haben. Wir haben gerade gestern alle miteinander den Ifo-Index für die Weltwirtschaft zur Kenntnis nehmen müssen. Weltweit - mit einem Schwerpunkt in Westeuropa und keineswegs allein in Deutschland - gibt es einen Rückgang um 17 Prozentpunkte. Das hat Ursachen. Die Ursachen für die Fehlprognosen und für die nicht erfüllten Wachstumserwartungen liegen auf dem Tisch.

Erstens: Massive Einschnitte im Neuen Markt, und zwar weltweit.

Zweitens: Unseriöse Geschäftspraktiken, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern inzwischen auch in Deutschland, was das Frisieren von Bilanzen und Ähnlichem angeht.

Drittens: Niemand kann sich doch Illusionen darüber machen, dass das weltwirtschaftliche Klima durch die Krise in und um den Irak aufs Schwerste geschädigt ist.

Das sind die zentralen Ursachen für die ökonomischen Schwierigkeiten, mit denen natürlich auch unser Land zu kämpfen hat. Anstelle von diffamierenden Reden und anstelle des Klamauks, zu dem Sie greifen, sollten Sie diskutable, ernst zu nehmende Vorschläge zur Bewältigung der Schwierigkeiten machen. Diese Vorschläge fehlen bei Ihnen indessen doch völlig. Das ist doch das Strukturproblem, mit dem Sie zu kämpfen haben.

Als Folge dieser ökonomischen Schwierigkeiten haben wir es in den Jahren 2002 und 2003 mit erheblichen Einnahmedefiziten zu tun, sowohl in den öffentlichen Haushalten, und zwar keineswegs nur in denen des Bundes, als auch in den sozialen Sicherungssystemen. Die Folge dieser Einbrüche aufgrund nachlassender Konjunktur, die so von niemandem prognostiziert worden ist, ist natürlich, dass insbesondere in den sozialen Sicherungssystemen die strukturellen Probleme und die durch die - Gott sei Dank - zu finanzierende Einheit verursachten Probleme offenbarer denn je geworden sind. Dafür schaffen wir kurz- und mittelfristige Lösungen. Über die gilt es hier, in diesem Parlament, zu reden und zu streiten. Der Ausweg, den Sie wählen - persönliche Diffamierungen, unsinnigste Vergleiche - , hilft doch niemandem in Deutschland. Das verunsichert doch mehr, als Sie wahrhaben wollen.

Kein Zweifel: Über die ökonomischen Probleme ist zu reden. Aber die Situation im Land hat auch eine andere Seite. In den letzten Jahren sind die Löhne der abhängig Beschäftigten anders als in den frühen 90er Jahren, als Sie am Ruder waren, real um sieben Prozent gestiegen. Ich frage mich gelegentlich: Über welches Land reden Sie eigentlich?

Anders, als Sie wahrhaben wollen, sind in der zweiten Hälfte der 90er Jahre und insbesondere in den letzten vier Jahren die außenwirtschaftlichen Zahlen das, was mit den Ausfuhren zusammenhängt, nicht zurückgegangen, sondern gestiegen, und das inmitten einer weltwirtschaftlichen Krise, in der wir ohne Zweifel sind. Die Ursachen sind bezeichnet. Der Marktanteil Deutschlands ist von neun Prozent auf zehn Prozent gestiegen. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und sagen Sie es auch! Denn dahinter stehen Leistungen von Menschen in unserem Land. Diese Menschen haben es doch nicht verdient, von Ihnen diffamiert zu werden.

Kein Zweifel: Es gibt ökonomische Probleme. Den Willen der Menschen, voranzukommen - das macht die Kraft dieses Landes aus - , zu verschweigen und zu diffamieren ist falsch, selbst wenn man in der Opposition ist. Opposition heißt doch nicht, in der Weise, wie Sie, Herr Glos, es heute gemacht haben, vorzugehen, nämlich ehrabschneidend. Opposition heißt doch, real und ehrlich andere Vorschläge zu machen, wenn man sie denn hat. Tun Sie doch endlich Ihre Pflicht als Opposition!

Ich denke, angesichts dessen, was wir an lösbaren Problemen haben - viele unserer Nachbarn und viele Länder in der Welt würden uns um die Dimension der Probleme, mit denen wir es zu tun haben, nun wahrlich beneiden, obwohl ich diese Probleme keineswegs leicht nehmen will - , seit Wochen ein Zerrbild dieses Landes zu zeichnen, egal mit wessen Unterstützung, und diese Republik allen Ernstes mit der Situation von Weimar zu vergleichen, wie das immer wieder getan worden ist und getan wird, ist falsch. - Sie haben sich doch an diese Form von Verzeichnung angehängt. Nichts anderes haben Sie getan. Lassen Sie mich ein Wort dazu sagen: Gleichgültig, wer das macht, gleichgültig, wer den Eindruck zu erwecken sucht, in dieser Republik hätten wir eine Situation, die auch nur annähernd mit dem, was wir in Weimar leider erleben mussten, vergleichbar ist, der handelt geschichtslos und neben der Sache. Das gilt für alle, ob sie nun Glos oder Lafontaine heißen.

Ich füge hinzu: Wer wie Sie und andere, die Ihnen helfen, den demokratischen politischen Prozess als eine Art Auseinandersetzung nicht zwischen Gegnern, sondern zwischen Feinden betrachtet, wer dabei ist, statt öffentlicher und offener, auch harter Auseinandersetzung innerstaatliche Feinderklärungen zu formulieren, der arbeitet gegen einen dauerhaften politischen Prozess und nicht für ihn. Das ist das Problem, in dem Sie gegenwärtig gefangen sind, mit dem Sie sich auseinander setzen müssen, weil es in der Republik sonst schief geht.

Niemand kritisiert harte und härteste Opposition, die gelegentlich auch nicht vor persönlicher Herannahme Halt machen kann; das weiß ich sehr wohl. Aber was wir in den letzten Wochen erleben, ist ein Zerrbild unseres Landes, gezeichnet aus politischem Opportunismus. Das ist Ihr Problem.

Ich sagte: Es besteht kein Zweifel, dass wir ökonomische und als Folge dessen auch politische Probleme haben. Es besteht aber auch kein Zweifel, dass dieses Land auf der anderen Seite nach wie vor Wachstum hat und sich nach wie vor in Europa sehen lassen kann. Sie sollten einmal mithelfen, in Europa klar zu machen, was uns in Deutschland von allen anderen europäischen Ländern, auch was die ökonomische Situation, die ökonomischen Probleme angeht, unterscheidet. Sie sollten mit uns zusammen darauf hinweisen, dass wir allein durch Überkapazitäten in der Bauwirtschaft, deren Abbau notwendig ist, jährlich 0,6 Prozent Wachstum real verlieren. Mit dieser Situation hat kein anderes Land in Europa und in der Welt fertig zu werden. Es ist ein Zeichen für die Kraft und die Stärke der deutschen Volkswirtschaft, dass das trotz allem in einer achtbaren Weise gelingt. Auch das gehört in eine solche Debatte.

Ein Zweites. Der Finanzminister hat gestern zu Recht darauf hingewiesen, was die Tatsache, dass wir die Einheit ökonomisch zu bewältigen haben - politisch haben wir sie ja Gott sei Dank bewältigt - , für die sozialen Sicherungssysteme und die Ökonomie insgesamt bedeutet. Der Finanzminister hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Lohnnebenkosten, die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme, etwa bei der Rente, um rund zwei Prozent niedriger sein könnten, wenn wir nicht als einzige Nation der Welt diese gewaltige, aber natürlich auch wunderbare Aufgabe zu schultern hätten, die wir mit dem Glück der Einheit bekommen haben. Auch das gehört doch in eine seriöse ökonomische Debatte. Ich denke, vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass deutlich wird, wie die Abfolge dessen ist, was wir kurzfristig, mittel- und langfristig zu tun haben.

Worum geht es dabei? Es geht zunächst einmal darum, dass der Haushalt, den wir heute samt Nachtragshaushalt beraten, so betrachtet und beschlossen wird, wie es den Notwendigkeiten des Landes entspricht. Wir haben deutlich zu machen, dass wir aufgrund ja nicht nur in Deutschland bestehender Wachstumsschwäche, ja nicht nur in Deutschland zurückgehender Steuereinnahmen für 2002 einen Fehlbetrag von rund 14 Milliarden Euro ausgleichen müssen und dass wir für 2003 mit einem solchen von 18,5 Milliarden Euro fertig werden müssen. Das ist die Aufgabe, über die hier zu reden ist, über die bislang ja nicht geredet worden ist. Die Defizite, die sich da aufgetan haben, haben doch nichts zu tun mit der Politik des einen oder anderen, sondern haben etwas zu tun mit einer europäischen, einer weltweiten Wachstumsschwäche, die natürlich Auswirkungen auf die Steuereinnahmen hat.

Wir sind darangegangen und haben gefragt: Wie wird man mit dieser Situation fertig? Der Finanzminister hat das gestern deutlich gemacht. Es wäre - bezogen auf den Haushalt 2002 - doch falsch gewesen, den Fehlbetrag, der aufgrund der Wachstumsschwäche deutlich geworden ist, allein durch Streichungen, wo auch immer, auszugleichen. In dieser Situation im Jahr 2002 hätte man, wenn man es nur über Streichungen versucht hätte, nirgendwo anders streichen können als bei den Investitionen. Dass das aber konjunkturell das Verkehrteste gewesen wäre, was wir hätten tun können, liegt, denke ich, doch auf der Hand. Also ging es für den Haushalt 2002 zunächst einmal darum, kurzfristig und auf Zeit ein Defizit von über drei Prozent hinaus in Kauf zu nehmen, um nicht dort kürzen zu müssen, wo es konjunkturschädlich geworden wäre. Ich denke, das entspricht auch der Auffassung aller hier im Hohen Hause. Das ist der Grund dafür, dass wir es in Kauf genommen haben, auch in dieser Situation die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen und ein Defizit zwischen 3,7 und 3,8 Prozent in Kauf zu nehmen und dies auch gegenüber der Europäischen Kommission zu vertreten.

Bezogen auf den Haushalt 2003 haben wir durch die Maßnahmen, die Ihnen bekannt sind, dafür gesorgt, dass das Defizitziel, das wir in Europa vereinbart haben, wieder eingehalten werden kann. Ich bin ja sehr gespannt darauf, welche Alternativen, bezogen auf dieses Problem, es von der Union gibt, wie Sie mit den Problemen fertig werden wollen, die aufgrund der Wachstumsschwäche für den Finanzminister und für die Regierung aufgetreten sind. Ich glaube nicht, dass es zu dieser Politik eine vernünftige, eine konjunkturgerechte Alternative gibt.

Die Wachstumsschwäche, mit der wir es zu tun haben - sie wurde übrigens von keinem wissenschaftlichen Institut und keiner internationalen Institution prognostiziert - , hat natürlich auch Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme. Das ist doch gar keine Frage. Wir haben das analysiert und haben gehandelt. Das ist der Grund, warum wir gefragt haben: Was machen wir denn zur Stabilisierung des Rentensystems, das durch die Konjunkturschwäche natürlich in Unordnung gebracht worden war? Wir haben gesagt - das ist Gegenstand unserer Gesetzgebung - : Wir können es verantworten, die Schwankungsreserve zu reduzieren, und wir können es verantworten, die Beitragsbemessungsgrenze anzuheben, weil wir nur auf diese Weise sicherstellen konnten, die Möglichkeit zu gewinnen, durchgreifende Veränderungen auf den Weg zu bringen.

Es geht bei den Maßnahmen, die jetzt auf den Weg gebracht worden sind, um die Stabilisierung des Systems; nicht, um es so zu lassen, wie es ist, sondern um die Chance zu haben, ohne Verunsicherung der Betroffenen - das sind sehr, sehr viele - die notwendigen Reformmaßnahmen einzuleiten.

Bezogen auf all diejenigen, die über die Beiträge diskutieren, will ich nur sagen: Ohne die Maßnahmen, die Ihnen jetzt vorliegen und über die zu diskutieren ist, müsste zum Beispiel der Rentenbeitrag auf knapp unter 20 Prozent, auf exakt 19,9 Prozent, steigen. Mit diesen Maßnahmen muss er das nicht. Das sage ich nur ganz nebenbei.

Ich weiß noch um die Zeit, in der wir über Rentenbeiträge von über 21 Prozent - jetzt reden Sie von zu hohen Lohnnebenkosten; die müssen runter, keine Frage - reden mussten. Wir konnten sie nur senken, weil wir unsere Mehrheit im Bundesrat seinerzeit nicht zur Blockade von Maßnahmen benutzt, sondern der Mehrwertsteuererhöhung zugestimmt haben. Das war doch der Tatbestand.

Das Gleiche gilt für die Gesundheitssicherungssysteme. Auch dabei geht es angesichts der Einnahmeausfälle, die mit der konjunkturellen Entwicklung zu tun haben, zunächst einmal darum, dafür zu sorgen, dass die weiter gehenden Reformmaßnahmen - sie müssen weiter gehen - auf einer gesicherten Basis, die den Menschen Vertrauen gibt, stattfinden können. Mit dem Paket, das jetzt auf den Weg gebracht ist, wird der Grund bereitet. Das ist die kurzfristige Aufgabe, vor der wir stehen und die wir miteinander lösen werden.

Es geht - darauf kommt es mir an - bei diesen Gesetzen, die wir in aller Schnelle, in hohem Tempo, auf den Weg bringen mussten, um die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme, nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen, wie es ist, sondern mit dem Ziel, eine Basis für weiter führende Reformen zu gewinnen. Ich werde darauf noch zurückkommen.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass die Gesetze, die wir jetzt im Gesundheitswesen, bei der Rente und bei der Konsolidierung des Haushalts auf den Weg bringen, die Basis dafür bilden, die strukturellen Schwierigkeiten, die sich in der konjunkturellen Krise besonders offenbart haben, in Angriff zu nehmen. Ich beginne einmal bei dem, was wir bei der Rente wollen und wollen müssen.

Ich erinnere noch die Zeit, in der hier über die Sicherheit der Renten geredet worden ist: Die einen hatten Untertunnelungsvorschläge, die anderen sprachen von demographischen Faktoren. Niemand in der damaligen Zeit hat das eigentlich Notwendige getan - außer uns. - Sie hatten doch 16 Jahre Zeit, um neben der umlagefinanzierten Rente das Prinzip der Kapitaldeckung aufzubauen. Sie haben das doch nie in Angriff genommen. Sie wollen uns jetzt Belehrungen erteilen. Ich habe noch im Ohr, was Nobbi Blüm immer zur Rente gesagt hat - und das zu einem Zeitpunkt, als absehbar war, dass eine Umlagefinanzierung allein nicht reichen würde. Wir sind es doch gewesen, die neben die Säule Umlagefinanzierung die Säule Kapitaldeckung gesetzt haben. Das sind doch nicht Sie gewesen. Wollen Sie das alles vergessen machen?

Nur um deutlich zu machen, was mit diesem Reformschritt geleistet worden ist: Mit diesem Reformschritt ist geleistet worden, dass zum Beispiel über die betriebliche Altersversorgung inzwischen 18 Millionen Beschäftigte zusammen mit ihren Tarifpartnern von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. 18 Millionen Beschäftigte haben über diesen Weg ein zusätzliches Alterseinkommen zu erwarten. Das ist ein Riesenerfolg, der zu Ihrer Zeit nie möglich gewesen ist. Unsere Mehrheit hat diesen Schritt gemacht.

Die Versicherungswirtschaft sagt uns, in der zweiten Säule seien bislang zwischen 2,5 und drei Millionen Individualverträge abgeschlossen worden. Man geht davon aus, dass es bis Ende dieses Jahres vier Millionen werden. Angesichts der Tatsache, dass diese zweite Säule seit zwei Jahren existiert, und angesichts der Tatsache, dass in 18 Millionen Fällen auf betrieblicher Ebene davon Gebrauch gemacht worden ist und bis zum Jahresende nach den Erwartungen der Versicherer in vier Millionen Fällen individuell davon Gebrauch gemacht wird, wird deutlich, dass das ein wirklich stabilisierendes Element ist. Das ist eine Erfolgsstory und nicht das Gegenteil dessen.

Ich rate nun wirklich dazu, sich das in Ruhe anzuschauen und die Entwicklung abzuwarten. Sie können doch nicht erwarten, dass ein die umlagefinanzierte Rente ergänzendes System schon in zwei Jahren seine volle Wirksamkeit erlangt. Das können Sie doch nicht in zwei Jahren erwarten. Angesichts dessen ist das, was erreicht wurde, ein großartiger Fortschritt, der aufgrund eines veränderten Altersaufbaus in unserer Gesellschaft dazu beitragen wird, Alterssicherung wirklich zu machen und nicht nur darüber zu reden. Natürlich wird es Aufgabe der Kommission von Herrn Rürup und anderen sein, zu schauen: Wo muss man nachjustieren, was muss sowohl bei der kapitalgedeckten als auch bei der umlagefinanzierten Seite der Rente verändert werden? Es ist doch keine Frage, dass das sein muss. Dafür gibt es diese Kommission.

Vor einem aber will ich warnen - das sage ich auch an den einen oder anderen in den eigenen Reihen gerichtet - : Es ist manchmal sinnvoll, sich mit den Zahlen auseinander zu setzen. Die Hälfte der Rentenempfänger, insbesondere die Rentnerinnen, leben von einer Rente, die aus der gesetzlichen Versicherung folgt. Die Zahlbeträge, also das, was cash auf den Tisch kommt, liegen bei Männern im Durchschnitt bei etwas weniger als 1. 000Euro und bei Frauen bei etwas mehr als 500 Euro. Folgendes sage ich an alle, die es angeht: Bezogen auf diese Zahlbeträge und diese Gruppe, die Hälfte der 17 beziehungsweise 18 Millionen Rentnerinnen und Rentner, unter dem Stichwort "Generationengerechtigkeit" darüber zu sprechen, dass man hier noch kürzen müsste, das - das sage ich ganz ehrlich - sollte man sich dreimal überlegen.

Natürlich wird die Kommission über Veränderungsnotwendigkeiten in den übrigen Bereichen nachdenken müssen - gar keine Frage. Aber ich bitte sehr darum, bei allen Debatten darauf zu achten, dass dieser Kreis der Betroffenen ernst genommen wird. Es sind nämlich nicht diejenigen, die mit dem goldenen Löffel im Mund geboren sind. Sie haben sich auch keinen erwerben können. Die Gründe dafür liegen nicht in ihrem individuellen Schicksal. Das gilt es zu berücksichtigen.

Wir sollten uns daher darauf verständigen - und zwar sowohl bei der Kapitaldeckung als auch bei der Umlagefinanzierung - , das besser zu machen, was verbessert werden muss. Ich nenne einen konkreten Punkt: Einige Unternehmen kritisieren, dass die Leute mit knapp über 55 Jahren in Rente gehen. Sie sagen, das ginge nicht mehr. Das stimmt auch, aber diejenigen, die zum Beispiel schon mit 60 Jahren in Rente gehen - wenn man die Invalidenrenten einbezieht, ist das das reale Renteneintrittsalter - , haben, genau gerechnet, bis zu 30 Prozent an Abschlägen hinzunehmen. Über die Frage, ob man hier wirklich noch mehr, zum Beispiel über die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters, machen kann, muss man sehr sorgfältig und ernsthaft diskutieren.

Eines muss aber klar sein: Mit den Betrieben, die ihre Personalprobleme über die Frühverrentung gelöst haben und sich jetzt über das System beklagen und es als falsch apostrophieren, muss man ein ernsthaftes Wort reden.

Im Bereich der Rente brauchen wir kurzfristig eine Stabilisierung des Systems, damit wir auf der Basis des Vertrauens in das System - das betrifft die Kapitaldeckung - weitermachen können. Wo es nötig ist, müssen wir bürokratischen Aufwand beseitigen. Wenn nötig, müssen wir im Bereich der Umlagefinanzierung das auf den Weg bringen, was uns von der Rürup-Kommission im Herbst des nächsten Jahres vorgelegt wird. Diese Debatte in der Sache zu führen, ist vernünftig; die Menschen im Voraus zu verunsichern, ist unvernünftig, egal, wen es angeht.

Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt aufbrechen müssen. Wir alle haben viel zu lange damit gewartet; das ist keine Frage. Das will ich durchaus selbstkritisch eingestehen. Aber die Umsetzung des Hartz-Kon-zeptes gibt uns die einmalige Chance, eine Regelung auf dem Arbeitsmarkt zu finden, die den sozialen Sicherungsbedürfnissen auf der einen Seite und den Erfordernissen einer globalisierten Wirtschaft auf der anderen Seite Rechnung trägt.

Ich will ein paar Punkte herausgreifen, die deutlich machen, worum es dabei geht. Kernaufgabe ist es, Flexibilität bei der Zeit- und Leiharbeit zu erreichen. Wenn es richtig ist - es ist richtig - , dass die niedrigere Arbeitslosigkeit in anderen Ländern, etwa in den Niederlanden, aber auch in Großbritannien, nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass dieses Instrument dort sehr viel besser als bei uns genutzt wird, dann ist folgerichtig, dass wir es besser nutzen müssen. Es stellt sich also nicht die Frage, ob wir es besser nutzen müssen, sondern wie wir es nutzen.

Ich bin der Auffassung, dass das, was mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes eingeleitet worden ist, richtig ist. Wir sollten darauf vertrauen, aber auch drängen, dass die Tarifparteien, die Zeitarbeitsverbände - es gibt einige, die zusammengefasst werden - und die Gewerkschaften, die sich bereits als Tarifgemeinschaft konstituiert haben, wie vorgesehen am 18. Dezember beginnen, vernünftige tarifliche Regelungen, die flexibel sein müssen, für diesen Bereich auszuarbeiten.

Ich lege wirklich Wert darauf, dass erkannt wird, dass zum Beispiel die Gewerkschaften bereit sind, insbesondere für die Problemgruppen am Arbeitsmarkt - die Langzeitarbeitslosen, die Älteren und die geringer Qualifizierten - Tarife auszuhandeln, die deutlich unter den normalen Flächentarifen liegen und auch liegen müssen. Lassen Sie uns doch diese Chance ergreifen! Lassen Sie uns Druck ausüben, damit das geschieht! Die Betroffenen sind dazu bereit. Die Gewerkschaften wissen auch, dass wir bei den Tarifverträgen - abhängig davon, wie lang die Leihzeit ist und wie speziell die Aufgaben sind - auch über eine Einarbeitungszeit über sechs Wochen hinaus reden müssen. Ich hoffe, das wissen die Unternehmen auf der anderen Seite auch.

Ich habe nicht nur die Hoffnung, sondern ich glaube, es kann klappen, dass wir auf diese Weise einen Anteil an Zeit- und Leiharbeit wie in anderen europäischen Ländern erreichen. Er liegt bei uns unter einem Prozent, in den Niederlanden bei mehr als vier Prozent. Ich denke, dass wir alle miteinander ein Interesse daran haben müssten, diese Chance nicht verstreichen zu lassen, sondern sie offensiv zu nutzen.

Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem sagen, was insbesondere den Mittelstand drückt. Darüber ist im Wahlkampf viel gestritten worden. Wir haben schon in dieser Auseinandersetzung deutlich gemacht, was wir steuerpolitisch auf den Weg gebracht haben. Die faktische Abschaffung der Gewerbeertragsteuer durch ihre Anrechenbarkeit auf die von den Personengesellschaften zu zahlende Einkommensteuer hat sich der Mittelstand immer gewünscht. Seine Verbände haben dies jedoch nie gewürdigt, obwohl es wirklich zu einer Besserstellung des Mittelstands im System geführt hat. Ich finde, dass die Politik einen Fehler macht, wenn sie sich das, was sie auf den Weg gebracht hat und was Deutschlands Wirtschaft wettbewerbsfähiger gemacht hat, immer klein reden oder auch klein schreiben lässt.

Darüber hinaus ist klar: Es gibt ein zentrales Problem des deutschen Mittelstandes, der so wichtig ist für unser Land. Das ist die Refinanzierung seiner wirtschaftlichen Aufgaben in den Unternehmen. Wir haben in diesem Zusammenhang eine lange Debatte über Basel II geführt. Alle diejenigen in den Banken und Sparkassen, die mit Hinweis auf Basel II eine restriktive Kreditvergabe ausüben, täuschen. Sie täuschen in der Tat.

Wer sich die Ergebnisse von Basel II im Einzelnen anschaut, der wird finden, dass, bezogen auf die Refinanzierung des deutschen Mittelstands, Basel II hilfreicher ist als Basel I. Denn der deutsche Mittelstand refinanziert sich im Unterschied zu dem in angelsächsischen Ländern nicht in erster Linie über Eigenkapital, sondern über langfristige Kredite - , das ist eine Besonderheit des deutschen Mittelstandes. Darüber lässt sich ernsthaft nicht streiten. Das ist so.

Im Übrigen kann die aktuelle Krise im Mittelstand und dessen Finanzierung gar nichts mit Basel II zu tun haben; denn diese Neuregelung tritt erst 2006 in Kraft. Auch an dieser Stelle erweist sich, dass Politik gelegentlich benutzt wird, um falsche Geschäftspolitik zu kaschieren. Das sollten wir auch deutlich sagen.

Was werden wir tun? Ich denke, zunächst einmal sind die steuerlichen Maßnahmen, insbesondere die, die wir im Zusammenhang mit der Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer und mit der Wiedereinführung der Investitionszulage durchgeführt haben, auf der Habenseite zu buchen. Dort werden sie von denen, die fair mit dem, was geleistet worden ist, umgehen, auch gebucht.

Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Wir müssen miteinander deutlich machen, dass sowohl die großen Geschäftsbanken als auch die für diesen Zweck ehemals gegründeten Sparkassen und sonstigen Selbsthilfeorganisationen des Mittelstandes ihre Geschäftspolitik so ändern müssen, dass der Mittelstand ausreichend mit Kapital versorgt werden kann. Dies zu verdeutlichen ist eine Aufgabe, die wir miteinander haben.

Das muss in erster Linie die Aufgabe der beteiligten Banken und anderen Kapitalsammelstellen bleiben, insbesondere und nicht zuletzt der Sparkassen, die zu diesem Zweck gegründet worden sind und mit diesem Zweck im Übrigen auch massiv Werbung betreiben. Um das zu unterstützen, werden wir noch in diesem Jahr die Kreditanstalt für Wiederaufbau mit der Ausgleichsbank zusammenlegen, um auf diese Weise für die Mittelstandsfinanzierung ein Rückgrat zu schaffen, das ebenso effizient wie zureichend mit Kapital ausgestattet ist. Ich halte das für notwendig.

Aber ich sage hier genauso klar: Das ist nicht der Ersatz für die Aufgaben, die den Banken und den Sparkassen gestellt werden, nämlich auch in Zukunft Geld auszuleihen, damit wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet werden kann. Das ist die Aufgabe, die die Verantwortlichen in den Sparkassen und Banken haben und die nicht auf die Politik abgewälzt werden darf.

Das dritte große Thema, das wir behandeln müssen, betrifft die Entwicklung des Gesundheitssystems. Dazu möchte ich einige wenige Bemerkungen machen. Ich glaube, dass das, was wir zum Beispiel mit der Regelung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern begonnen haben, mehr Effizienz und mehr sorgsamen Umgang mit dem zur Verfügung gestellten Geld bedeutet. Ich glaube, dass das, was auf den Weg gebracht worden ist, nämlich die Leistungserbringer zur sinnvollen Finanzierung und zum sinnvollen Umgang mit den Ressourcen im System anzuhalten, richtig ist und Unterstützung verdient.

Ich glaube, dass wir in Zukunft miteinander dafür sorgen müssen, dass in dieses System mehr Markt einkehrt und sich diejenigen, die sonst so sehr für mehr Markt sind, als Leistungserbringer nicht hinter Institutionen verschanzen dürfen, wenn es zum Beispiel darum geht, dass auch Krankenkassen Verträge mit denen aushandeln können und sollen, die es besser und preiswerter machen als andere.

Wer hat denn etwas dagegen, wenn über Patientenquittungen transparent wird, was geleistet wurde und abgerechnet wird, was mehr und was weniger nötig ist? Wo steht eigentlich geschrieben, dass es in Deutschland ehernes Gesetz sein muss, dass es Wettbewerb, wie es ihn in den Drogerien gibt, bei den Apotheken mit Vorteilen für die Konsumenten nicht geben darf? Nach meiner Kenntnis steht es geschrieben, aber nicht für die Ewigkeit. Deswegen kann und muss es geändert werden. Wir sind auf dem Weg dorthin.

Ein Gesundheitssystem mit mehr Transparenz, mit mehr Markt zu schaffen, auch dann, wenn die Leistungserbringer nicht alles an Vorteilen wie bisher realisieren können und deswegen ganz lautstark schreien, ist notwendig. Wir werden das tun. Seien Sie dessen sicher.

Eines ist klar: Wir werden auch auf der Seite derer, die die Leistungen bekommen, das, was möglich ist, auf das medizinisch Notwendige - aber dann für alle und nicht nur für Teile der Gesellschaft - reduzieren müssen. Auch das werden wir in Angriff nehmen. Machen Sie sich darüber keine Sorgen.

Ich meine, es wird deutlich, dass wir kurzfristig für die Stabilisierung der Systeme mithilfe der Gesetzgebungsmaßnahmen sorgen müssen, die wir auf den Weg gebracht haben und von denen wir hoffen, dass sie nicht aus parteipolitischen Egoismen heraus von der jeweiligen Mehrheit im Bundesrat angehalten werden. Das wäre fatal für unser Land.

Ich hoffe, es ist allen deutlich geworden - nicht zuletzt denen, die uns zuschauen - , dass das die Basis für weiterführendes Handeln und nicht der Ersatz für weitergehende Reformen ist. So herum wird die Abfolge vernünftig: Erst muss man die Grundlage dafür schaffen, dass man Reformen und Veränderungen ohne Angst für die Betroffenen durchführen kann. Das ist die Abfolge, die in den Gesetzen auf der einen Seite und den Strukturmaßnahmen auf der anderen Seite sichtbar werden sollte. Vielleicht ist es noch nicht ausreichend deutlich geworden. Das will ich gern zugeben.

In dieser Auseinandersetzung hier und heute soll auch nicht in Vergessenheit geraten, was wir über die Neujustierung von Haushalt und sozialen Sicherungssystemen hinaus in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen wollen, angefangen mit diesem Haushalt. Es ist nämlich die zentrale Aufgabe, unser Bildungssystem so einzurichten, dass es internationalen Anforderungen wieder gerechter wird, als das gegenwärtig der Fall ist.

Ich weiß sehr wohl um die Zuständigkeiten. Niemand von uns will sie über Gebühr strapazieren. Dies ginge auch nicht; das wissen wir. Aber es muss doch klar sein, dass das, was wir gegenwärtig anbieten, nämlich in Zusammenarbeit mit den Ländern für ein massives Ausweiten der Ganztagsbetreuung von Kindern zu sorgen - nach unserer Vorstellung zunächst in Schulen, aber dann auch in den Krippen und Horten - , ein vernünftiger Weg ist, und zwar einer, der darüber hinaus die Defizite im Bildungssystem beseitigen kann. Es gibt doch die Korrelation zwischen mangelnder Betreuung insbesondere der Kinder aus sozial schwachen Schichten einerseits und Bildungsversagen andererseits. Was wir machen, ist bildungspolitisch vernünftig. Unter dem Gesichtspunkt der Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen Leben sowie an der Erwerbsarbeit ebenso wie an der Nichterwerbsarbeit ist es allemal vernünftig.

Deswegen möchte ich, dass dieses Projekt in fairer Zusammenarbeit mit den Ländern, die die Zuständigkeit besitzen, so umgesetzt wird, dass sichtbar bleibt, dass hier nicht Geld vom Bund für den Haushaltsausgleich gegeben wird, sondern für die zentrale gesellschaftliche Aufgabe dieses Jahrzehnts, die notwendigen Betreuungseinrichtungen zu schaffen, dass auch Frauen die Chance haben, sich auf dem Arbeitsmarkt oder in anderen Bereichen betätigen zu können.

Lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen zu dem Thema machen, das vorhin angesprochen wurde und auch Gegenstand des eingebrachten Antrages ist. Es geht um das, was wir in Kopenhagen zu beschließen haben werden. Ich denke, es besteht Einigkeit in diesem Hohen Hause darüber, dass gerade wir Deutschen die Aufgabe haben, in Kopenhagen dafür zu sorgen - zu erträglichen materiellen Bedingungen, das ist keine Frage - , dass ein historischer Beschluss über die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten zustande kommt. Dies ist unser fester Wille. Dafür werden wir hart arbeiten, dessen können Sie sicher sein. Ich denke, darüber besteht in diesem Hohen Hause auch kein Streit.

Über die Bedingungen im Einzelnen wird noch zu reden sein. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass die dänische Präsidentschaft - wenn auch noch nicht in allen Punkten - generell auf einem richtigen Weg ist und wir in Kopenhagen einen Erweiterungsbeschluss fassen können, der erstens der historischen Bedeutung dieser Aufgabe gerecht wird und zweitens die materiellen Ressourcen eines Nettozahlers wie Deutschland nicht über Gebühr beansprucht.

Zum Nulltarif - ich denke, das wissen wir alle - wird dies nicht zu haben sein. Das muss auch nicht sein; denn wir, die Deutschen, werden diejenigen sein, die in erster Linie sowohl politisch als auch ökonomisch davon profitieren werden. Wenn Sie sich die Präsenz deutscher Unternehmen auf den Märkten, um die es dabei geht, ansehen, stellen Sie fest, dass wir überall die Nummer eins oder die Nummer zwei sind. Diese Situation wird nicht schlechter, sondern besser werden, wenn die Integration dieser Länder in die Europäische Union fortgeschrittener ist.

Deswegen sage ich den Beschäftigten, auch denjenigen jenseits der Grenzen, die Angst haben: Es ist nicht nötig, Angst zu haben, weil in der Erweiterung der Europäischen Union sowohl ökonomisch als auch für die Menschen auf den Arbeitsmärkten mehr Chancen als Risiken liegen. Wir werden die Chancen maximieren und die Risiken minimieren. Das begreifen wir als unsere Aufgabe.

Es ist wahr: Wir werden in Kopenhagen auch über die Frage der Aufnahme der Türkei reden müssen. Dies ist hier angeklungen und wurde auch in dem Antrag, der eingebracht worden ist, thematisiert. Ich rate dringend, dieses Problem nicht als ein Problem zu betrachten, mit dem man einem Kollegen in einem Bundesland - in diesem Fall in Hessen - ein billiges Wahlkampfthema gibt.

Ich bin gefragt worden, wie die deutsche Bundesregierung in Kopenhagen mit diesem Problem umgehen wird. Natürlich haben Sie Anspruch darauf, das zu erfahren. Deswegen sage ich Ihnen das auch gern.

Zwei Punkte sind zu nennen:

Erstens: Natürlich werden wir in Kopenhagen eine sehr eng abgestimmte Haltung, möglichst eine gemeinsame Position mit Frankreich, vertreten. Ich habe das Vergnügen, heute Abend den französischen Staatspräsidenten in Berlin zu Gast zu haben. Ich habe viel mit Jacques Chirac darüber geredet. Wir sind uns eigentlich einig darüber, dass es Sinn macht, in Kopenhagen eine gemeinsame französisch-deutsche Position zu vertreten. Ich will nichts vorwegnehmen, was heute Abend mit dem Gast zu besprechen sein wird. Aber ich denke schon, es gibt in diesem Haus keinen Streit von Frankreich und Deutschland zu erarbeiten.

Ich will die anderen Außenpolitiker über die Haltung der deutschen Bundesregierung wenigstens informieren. Ich bleibe dabei: Es macht Sinn - die CDU / CSU-Fraktion kann das durch Frau Merkel nachher richtig stellen - , eine abgestimmte Position zwischen Frankreich und Deutschland zu erarbeiten. Herr Glos meint: nein; ich meine: ja. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.

Zweitens: Es sollte Einigkeit darüber bestehen, dass wir ein großes, ein gemeinsames - ich sage: ein nationales - deutsches Interesse daran haben, dass in der Türkei die Kräfte unterstützt werden, die eine säkularisierte Türkei im Sinne ihres Staatsgründers Atatürk wollen und dafür auch einstehen, und dass diese Türkei nicht in den islamischen Fundamentalismus abdriftet. Es gibt auch keinen Streit darüber, dass wir ein nationales Interesse daran haben, dass die Türkei eine immer enger werdende Bindung an den Westen erfährt und wir vor diesem Hintergrund auch ein gemeinsames Interesse daran haben, in der Politik gegenüber der Türkei Kontinuität zu wahren. Dementsprechend werde ich in Kopenhagen handeln.

Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, auf welcher Basis ich das tun werde. Ich zitiere - ich sage Ihnen gleich, wen - : Ich habe in der Debatte auf zweierlei hingewiesen, nämlich erstens darauf, dass wir, die Bundesrepublik Deutschland, sehr damit einverstanden sind, dass die Türkei in der Perspektive der Zukunft eine Chance hat, der Europäischen Union beizutreten."

So Helmut Kohl in einer Pressekonferenz nach der Sondertagung des Europäischen Rates vom 20. und 21. November - nicht 1963, sondern 1997. Das ist die Kontinuität, um die es geht. Die werde ich wahren. Sie können sie verletzen, wenn Sie wollen. - Herr Glos, derjenige, der das gesagt hat, war ein großer Europäer. Er hat wohl gewusst, worüber er redet.

Jetzt zitiere ich einen nicht ganz so großen Europäer: Bei der derzeit überaus lebhaften Debatte über die Türkei sollten zwei Punkte nicht übersehen werden. Erstens: Das Land strebt unverändert nach Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union... Was aber soll uns Deutsche veranlassen, die Türkei auf diesem Weg an vorderster Stelle zu unterstützen? Vieles spricht dafür, nur wenig dagegen."

So Michael Glos am 23. Oktober 1997 in der "Welt". Das war damals in der "Welt". Herr Glos, mir scheint, Sie sind jetzt aus der Welt. Das ist das Problem, das Sie haben.

Damit wir sehen, auf welch löchrigem Boden Sie sich mit Ihrem Antrag bewegen, zitiere ich einen noch "größeren" Außenpolitiker aus der CSU: Es geht nicht an, dass ein wichtiges Brückenland zwischen Europa und dem Nahen Osten und Zentralasien an den Rand gedrückt und wie ein Aussätziger behandelt wird."

Das ist noch Communis Opinio. Weiter heißt es: Im EG-Assoziierungsabkommen vor nunmehr 30 Jahren war der Türkei bereits die volle EG-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt worden. Diese zumindest moralische, wenn nicht eigentlich sogar rechtliche Verpflichtung sollten die Kollegen des Europäischen Parlaments... in ihrem Abstimmungsverhalten im Auge behalten."

Diese Ausführungen in einer Presseerklärung der CSU-Landesgruppe vom 17. März 1995 stammen von Christian Schmidt, einem der großen Außenpolitiker Ihrer Fraktion.

Ich rate Ihnen dringend, diesen Antrag, mit dem Sie die Bundesregierung auffordern, etwas anderes zu tun, als Sie immer getan haben, sang- und klanglos zurückzuziehen. Ich möchte Ihnen die Blamage gerne ersparen.

Wenn Sie das nicht tun, besteht nicht mehr nur der Verdacht, sondern die Gewissheit, dass Sie die Kontinuität in der Außenpolitik nicht mehr wollen und das Verhältnis zur Türkei benutzen wollen, um Herrn Koch ein billiges Wahlkampfmanöver zu erlauben. Sie müssen verantworten, ob Sie sich auch dieses Mal wieder zwingen lassen wollen wie damals mit dem Ausschuss unseligen Angedenkens. Darüber müssen Sie Auskunft geben. Es wird Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, nicht leicht gemacht werden, mir nichts, dir nichts die Politik einfach wegzuschieben, die nicht in Ihr Wahlkampfmanöver passt. So leicht nicht, meine Damen und Herren von der Opposition! - So ist das, wenn man mit den Tatsachen allzu unhistorisch umgeht.

Ich komme auf einen weiteren Punkt zu sprechen. Deutschland hat - das habe ich schon mehrfach deutlich gemacht - hinsichtlich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der Maßnahmen, die damit zusammenhängen, nun wirklich nicht den geringsten Grund, sein Licht in irgendeiner Weise unter den Scheffel zu stellen. Der Außenminister und ich haben auf dem Petersberg deutlich gemacht, dass wir alleine in diesem Jahr für den Einsatz in Afghanistan und den Wiederaufbau dieses Landes 650 Millionen Euro ausgeben. Ich kenne nicht viele Länder, die sich in ähnlicher Weise engagieren. Deswegen hat Deutschland keinen Grund, sich Vorwürfe machen zu lassen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten nicht die Stichworte liefern, dass uns Vorwürfe gemacht werden können.

Wir sind auf dem Balkan präsent. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das unser gemeinsamer Wille war. Ich betone: Sie haben Enduring Freedom nicht zugestimmt, aber aus anderen Gründen als dem Inhalt. Darüber besteht kein Streit. Diesen Willen haben Sie, wie ich denke, dadurch bewiesen, dass Sie, als es um die Verlängerung ging, mit an Bord waren.

Was wir auf dem Balkan und in Afghanistan im Rahmen von Enduring Freedom tun, kostet uns im Jahr zwei Milliarden Euro. Das ist mehr, als jede andere Bundesregierung bisher aufwenden musste und aufgewendet hat. Niemand in der internationalen Politik, mit Ausnahme der Opposition im deutschen Parlament, macht Deutschland den Vorwurf mangelnden Engagements bei der Wahrnehmung seiner internationalen Pflichten. Sie sollten das sein lassen. Sie zerstören auf diese Weise den wohl verdienten Ruf dieses Landes.

Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Irak-Resolution 1441 etwas anders interpretieren als Sie, nämlich als die Chance, durch die Inspektoren zu erfahren, was in dem Land wirklich ist. Daraus werden wir die Konsequenzen ziehen, und zwar friedlich und ohne Krieg. Das steht im Mittelpunkt unserer Politik. Darauf wollen wir hinarbeiten.

Es gibt unterschiedliche Einschätzungen darüber, was jetzt im Irak vor sich geht, welche Bewegungsmöglichkeiten die Inspektoren haben und welche nicht. Wir sollten es in dieser Frage mit Kofi Annan halten, der als Erster informiert wird und die Informationen an diejenigen, die sie angehen, weitergibt. Gegenwärtig jedenfalls - ich äußere mich sehr zurückhaltend - sieht es Gott sei Dank so aus, als könnte es gelingen, das Ziel einer Entwaffnung und der Vernichtung von Massenvernichtungswaffen - das sage ich ganz bewusst - friedlich zu erreichen. Das hoffe ich jedenfalls sehr. Ich führe keine theoretischen Debatten darüber, was passiert, wenn dies nicht der Fall sein wird; denn vor Self-fulfilling Prophecy habe ich doch ausdrücklich zu warnen.

Wir haben deutlich gemacht, wo wir stehen und was wir zu leisten imstande und bereit sind. Das habe ich den Fraktionsvorsitzenden und auch öffentlich gesagt. Das habe ich hier in aller Deutlichkeit zu unterstreichen. Dabei bleibt es; dem ist nichts hinzuzufügen. Dass wir im Einklang mit unseren Gesetzen und unseren materiellen Möglichkeiten alles tun, um die Sicherheit des Staates Israel und seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten, gehört im Übrigen zu den guten Kontinuitäten deutscher Außenpolitik.

Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir schnell handeln mussten, um zur Stabilisierung des Haushalts - dazu hat der Finanzminister gestern Richtiges und Wichtiges gesagt - und der sozialen Sicherungssysteme beizutragen, nicht mit dem Ziel, alles so zu lassen, wie es ist, sondern mit dem Ziel, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und bei der Rente dort einzugreifen, wo es nötig ist, aber mit der gebotenen Vorsicht und der sozialen Sensibilität, weil es um Menschen geht, die eine Lebensleistung erbracht haben. Sie darf man nicht ungestraft irgendwelchen Debatten aussetzen.

Bei diesen Gesetzen geht es um die kurzfristige Stabilisierung mit dem Ziel, mittel- und langfristig jene strukturellen Probleme zu lösen, die nicht nur mit der Konjunktur zu tun haben, sondern auch mit der damals nicht von allen kritisierten Finanzierung der deutschen Einheit über die sozialen Sicherungssysteme. In der Krise und bei Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft werden diese strukturellen Mängel besonders deutlich. Sie müssen nun angegangen werden, und zwar auf einer Basis, die den Menschen keine Angst macht, sondern ihnen Hoffnung gibt. Wir werden diese Aufgabe bewältigen. Seien Sie dessen sicher!

Weil wir sehr genau die Tatsache kennen, dass wir in der zweiten Kammer, im Bundesrat, auf die Zusammenarbeit mit der Opposition angewiesen sind, möchten wir die Opposition auffordern, in den Punkten, in denen es keinen politischen Streit gibt oder wo man ihn überwinden kann, im Interesse des Landes und im Sinne einer Koalition der Vernünftigen sachlich und fair mitzuarbeiten. Wir erwarten nicht, dass nun harte Kritik von der Tagesordnung verschwindet, bitten aber darum, dass jede Form der persönlichen Diffamierung in den Hintergrund tritt. Im Übrigen glauben wir daran, dass wir unsere Aufgabe, die uns am 22. September 2002 übertragen wurde, mit aller Kraft ausfüllen werden, dass aber ebenso die Opposition nicht nur die Pflicht zur Kritik, sondern auch die Pflicht zur Verantwortung hat. Auch diese haben Sie wahrzunehmen.