Redner(in): Christina Weiss
Datum: 20.02.2003

Untertitel: "Diese Stadt ist eine nationale Projektionsfläche": Kulturstaatsministerin Weiss spricht in ihrer Rede im UdK-Klub über die Berliner Opernreform, die Berliner Filmfestspiele und Kulturpolitik.
Anrede: Sehr geehrter Herr Held, lieber Manfred Eichel, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/92/468492/multi.htm


beginnen wir unsere Tour d'Horizon durch Berlin mit einem Spaziergang. Schrauben wir das Datum zurück. Schlendern wir vom Halleschen zum Oranienburger Tor und spitzen wir die Ohren. Überall tönt der "Jungfernkranz", das Lied der Lieder, immer dieselbe Melodie aus Webers "Freischütz". Wir beobachten, was der Chronist notiert: "Bin ich mit noch so guter Laune des Morgens aufgestanden, wo wird doch gleich alle meine Heiterkeit fortgeärgert, wenn schon früh die Schuljugend, den'Jungfernkranz'zwitschernd, bei meinem Fenster vorbeizieht. Es dauert keine Stunde und die Tochter meiner Wirtin steht auf mit ihrem'Jungfernkranz'. Ich höre meinen Barbier den'Jungfernkranz'die Treppe heraufsingen. Die kleine Wäscherin kommt mit Lavendel, Myrt und Thymian. So geht's fort. Mein Kopf dröhnt. Ich kann's nicht aushalten, eile aus dem Hause, und werfe mich mit meinem Ärger in eine Droschke." Irgendwann später, wenn der Chronist seine Angebetete am Pianoforte beim Kranzwinden heimsucht, wird er sich vor unsäglichen Qualen winden wie ein Wurme,"bis ich vor Seelenangst ausrufe: Hilf, Samiel!"

Meine Damen und Herren, jener arme Wurm ist keineswegs das triplettengeschädigte Opfer heutiger Berliner Opernspielpläne, es handelt sich um Heinrich Heine, der im März 1822 an der Popularität zeitgenössischer Musikliteratur schier verzweifelte. Inzwischen hat der "Freischütz" durchaus jenes von Heine erhoffte Interesse gefunden und sorgt eben - wie vorausgesagt - in Wien, Dresden und Hamburg für Furore. Auch in Berlin welkt der von Heine so verschmähte "Jungfernkranz" keineswegs. Gleich zwei Opernhäuser halten ihn frisch, und es wird höchste Zeit, dass auch die Deutsche Oper endlich wieder zum Winden kommt. Dann wäre der "Jungfernkranz" all überall, Heine hätte Recht behalten und seine Verzweiflung heutig: "Ich glaube fast, die Hunde auf der Straße bellen ihn." Nun, soweit muss es nicht unbedingt kommen. Und wie ich die Berliner Hunde inzwischen kenne, stehen sie eher im Verdacht, völlig amusisch zu sein.

Damit sind wir aber beim Problem. In den drei Berliner Opernhäuser herrscht zu selten ein Streit zwischen Gluckisten und Piccinisten, wie es Heine formuliert hat, hier tritt zu oft Mozart gegen Mozart, Bizet gegen Bizet an. Was der eine macht, will der andere auch haben. Damit will ich keinen Zweifel daran lassen, dass die Berliner Musiktheaterbühnen durchaus eine famose Kunsthöhe erklommen haben. Gleichwohl ist es eben so, dass dort, wo die Opernhäuser etwas gemeinsam zustande bringen könnten, bislang purer Eigensinn herrscht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin nicht, vielleicht zum Glück, Berliner Kultursenatorin. Und ich möchte mich auch keineswegs in die inneren Angelegenheiten meines Kollegen Flierl oder die eines Opernintendanten einmischen, aber die Beziehungen zwischen Berlin und dem Bund sind nun mal mehr als nur diplomatische. Daher gestatten Sie mir ein offenes Wort, auch ein Wort als Opernliebhaberin. Sie alle hier kennen die vermaledeiten Diskussionen der Vergangenheit, die ständige Aufforderung an den Bund, nun endlich in die Berliner Kultur einzugreifen und sich zum dreigeteilten Erbe zu bekennen. Diese Forderung ist in der Regel nicht inhaltlich gemeint, sondern kommt meist im monetären Kleide daher.

Als ich dieses Amt übernahm, kannte ich die alte Berliner Gewohnheit zur Genüge, ungedeckte Schecks einfach an den Bund weiterzureichen. Dann lehnte man sich wieder zurück und verschränkte die Arme. Mit den Opern stand man seit je tief im Dispo. Doch statt einfach Geld zu überweisen und den Berlinern ihre Probleme schlicht abzukaufen, geht es mir darum, mit ihnen zusammen die chaotischen Verhältnisse zu ordnen und eine Reform auf den Weg zu bringen, für die mehr Intelligenz vonnöten ist, als sie den unbekümmerten Fusionieren und Schließern zur Verfügung steht. Wenn ich heute wieder vom Berliner Finanzsenator lesen muss, Opernhäuser seien ein "Kulturgenuss, der nicht gerade die breite Masse erreicht", kann ich darauf nur antworten: Rolle gut gespielt, aber leider nichts begriffen. Natürlich war auch zu lesen, dass wir mit dem Papier nur altbekannte Kamellen aus der Schublade geklaubt hätten. Aber wäre das so schlimm? Ein positiver Effekt dieses Reformpapiers liegt eben darin, dass es gar nicht erst behauptet, das Rad völlig neu erfunden zu haben. Es greift die Diskussionen der Vergangenheit auf, unterbreitet neue Vorschläge und sieht sich plötzlich einem parteiübergreifenden Konsens gegenüber. Unter den Kulturpolitikerin wohlgemerkt! Ganz einfach deshalb, weil nun alle, aber auch alle Parteien, die in der Berliner Politik etwas zu sagen haben, an den Opern herumoperiert haben.

Meine Damen und Herren, ich bin sehr zuversichtlich, dass uns mit der Opernreform ein großer Wurf gelingt. Allerdings ist das noch ein Stück Arbeit. Der Bund hat ein maßgebliches Interesse daran, dass Berlin seinen Berg von Problemen nicht an uns abschiebt, sondern zehn Jahre nach der Schließung des Schiller-Theaters endlich damit begonnen wird, die Bühnenlandschaft zukunftsfähig zu machen. Wenn das gelingt, braucht sich diese Stadt nicht mehr nach Veranstaltern maßvoll verruchter Unterhaltung oder billiger Musicalaufgüsse umzusehen, die ihr die verwaisten Theater bespielen. Ich halte es ganz mit Otto Klemperer, der 1931 in der Deutschen Tonkünstler-Zeitung schrieb: "Sind nicht drei Opernhäuser für Berlin zuviel? Meine Antwort lautet: Ich glaube, dass das Berlin von heute und morgen nicht nur drei Opern füllen wird. Allerdings nur unter einer Bedingung - einer conditio sine qua non: nur dann, wenn alle drei Opernhäuser künstlerisch ersten Ranges sind." Dafür muss Berlin sorgen, wir wollen mit am Gerüst für diesen Rang bauen.

Meine Damen und Herren, ich will Ihnen aber heute nicht nur mit der Opernmisere in den Ohren liegen, die Ihnen sicher sattsam bekannt ist, sondern auch mit Ihnen darüber nachdenken, was diese Stadt so reizvoll macht und was wir von ihr künftig erwarten. Joachim Sartorius, der Intendant der Berliner Festspiele, hat kürzlich davon gesprochen, dass die Gegenwart dieser Stadt erst in zehn Jahren beginnt. Er sieht seine Aufgabe darin, das Warten auf den Glanz zu verkürzen. Ich frage mich, ob dieser Ausdruck, der so sehr nach geputztem Revier klingt, wirklich einleuchtend ist? Berliner, das habe ich jetzt bei den Filmfestspielen wieder gelernt, sehnen sich nach Glanz, obwohl ihre Stadt alles andere als grau ist. Aber was heißt das? Lässt sich George Clooney als Glanzstück bezeichnen? Besitzt Claus Peymann einen Glamourfaktor? Besteht die Musik Kent Naganos nur aus einer glänzenden Oberfläche? Wenn wir also wirklich auf den Glanz warten, worauf warten wir? Berlin hat in den letzten Jahren sehr oft auf große Namen gesetzt, aber nicht immer auf die selbstschöpfende Potenz dieser Stadt vertraut. Wie steht es um die unbekannten, unerhörten Tendenzen? Wer spürt ihnen nach? Wer verlässt wirklich das Gewohnte, um dem Neuen entgegenzugehen? Gibt es nicht gerade auch in dieser Stadt Politiker, die immer noch ungestraft behaupten dürfen, dass das Neue erst so gut werden müsse wie das Alte, um aufgeführt zu werden? Ich bin sehr froh, dass wir mit dem Hauptstadtkulturfonds in der Lage sind, in die aktuelle Kunstproduktion Berlins zu investieren. Die ist längst nicht mehr nur von nationaler Provenienz. Etwa zwanzig Prozent der Antragsteller haben nichtdeutsche Absender. Hier erleben wir, wie es ist, wenn neue, ungewohnte Formate erprobt werden, wenn die Künstler nach neuen Räumen suchen, die sich intellektuell wie demokratisch aufladen lassen. Berlin, so sagt der amerikanische Soziologe Richard Sennett, liege "in einer sehr dynamischen Zone, im Zentrum der Ströme zwischen Ost und West, der Migration, des kulturellen Austauschs. Zudem ist Berlin neben Los Angeles, New York und London in den Künsten die wichtigste Stadt der Welt." Aber dies, so finde ich, muss sich auch in der Kulturpolitik niederschlagen. Der Werkstattgedanke sollte gepflegt und nicht immer dann als erstes verdrängt werden, wenn es wieder ans Sparen geht. Wir sind gefordert, in die Vitalität dieser Stadt zu investieren, diese unglaubliche Sogwirkung auf die Künstler aus aller Welt für uns zu nutzen. Dabei geht es aber nicht nur um die Welt, es geht auch um die geistige Auseinandersetzung in unserem Land. Diese Stadt ist wirklich eine nationale Projektionsfläche. Es wäre zu kurz gedacht, würden die Länder Berlin nur als Ort des preußischen Kulturbesitzes begreifen. Berlin ist mehr, weit mehr. Ein richtiges Podium für die Länder könnte entstehen. Hier muss man mit Impulsen rechnen. Ich finde: Einstellungsvoraussetzung für jeden, der in der Berliner Kultur arbeiten will, müsste Neugier sein, Neugier und nochmals Neugier. Nichts ist schlimmer, als diese Stadt zu einer Stätte staatlicher Repräsentanz zu machen, die Kulturschaffenden zu Kulissenschiebern ritualisierter Auftritte zu degradieren. Die Künstlerinnen und Künstler in Berlin eignen sich nicht zu Zeremonienmeistern der Macht. Und ich füge hinzu: Die Bundesregierung erwartet das auch nicht von ihnen.

Zu Beginn war die Rede von Heinrich Heine, der sich auf seinen Spaziergängen von Ohrwürmern bedrängt fühlte. Wer diese Stadt als gescheiter Flaneur erkundet, kommt ganz ohne Billet von Bühne zu Bühne. Im öffentlichen Raum finden die Inszenierungen statt, hier lauert hinter jeder Ecke das Unerwartete: die versunkene Tragödie am Schlossplatz, das Volksstück in den Hackeschen Höfen, das Melodram auf der Brache an der Bernauer Straße, die Seifenoper auf dem Kurfürstendamm, das Schmerzensstück an der Topographie des Terrors, der neue Berliner Film in den illegalen Bars. Dieses Schauspiel, diese Lust am Schauen, Stöbern, sich Zeigen, Entdecken, dieses Schauspiel wird wohl nur in dieser Stadt zur Aufführung gebracht. Der Stadtraum zwingt dazu, sich neu zu orientieren. Davon profitieren die Künste in ganz besonderem Maße. Da ist nicht nur alter Glanz zu entdecken, sondern auch neuer Stolz, Kreativität und Beharren, Dadaismus und Volkskunst, Genialität und Kleingeist. Das alte, das geteilte Berlin spannte sich von der Gemütlichkeit der Laubenpieper bis zum wohligen Leben im perfekt dekorierten Schaufenster der beiden Systeme. Das neue Berlin kennt die Chiffren des Potsdamer Platzes, die kongeniale Architektur des Jüdischen Museums, die neue Adresse des Staates, kennt mit Frank Castorfs Volksbühne das wichtigste Theater der neunziger Jahre und feiert gleichzeitig in den Feuilletons das Comeback des Kachelofens als Ausdruck einer neuen Heimeligkeit. Sie brauchen sich nur umzuschauen. In diesem Club, in dem wir uns heute befinden, wurde vor fünfzehn Jahren noch mit Möbeln gehandelt. Heute ist es einer der angesagtesten Treffpunkte der unglaublich produktiven Berliner Jazz-Szene. All das gehört für mich zum Wesen dieser Stadt, und deshalb fühle ich mich hier so wohl.

Meine Damen und Herren, die Kulturpolitik des Bundes wird sich nicht nur auf Hilfe zur Selbsthilfe für die Opern beschränken, sondern soll auch selbst inhaltliche Schwerpunkte setzen. Mit einer möglichen Übernahme der Kinemathek und der Einbindung einer zu errichtenden Mediathek können wir unser Filmengagement abrunden. Die Akademie der Künste war nie nur eine Berliner Lokalgröße, sondern ist schon aus ihrer Geschichte heraus ein geistiges Institut von nationalem Rang. Mit dem Neubau von Günter Behnisch am Pariser Platz kehrt sie an ihren historischen Ort zurück und wird sich nicht nur geographisch in einer anderen Position wiederfinden. All dies wollen wir tun, ohne dass wir jene Einrichtungen vernachlässigen, die bereits zu unseren Schutzbefohlenen zählen. Es wird an der einen oder anderen Stelle nachzujustieren sein, generell aber ist davon auszugehen, dass der Bund mit seinen Einrichtungen einen Platz im gesellschaftlichen Diskurs findet. Wir wollen damit nicht unsere Eitelkeit bedienen, wir wollen die Auseinandersetzung mit der Gegenwart forcieren. Und das ist keineswegs floskelhaft gemeint. In diesem Sinne freue ich mich auf das, was ich von Berlin noch zu erwarten habe. Diese Stadt ist die einzige Metropole der Welt, die sich gerade völlig neu erfinden darf. Dieser Prozess ist keineswegs abgeschlossen, nur weil Parlament und Regierung sich einzurichten beginnen. Wenn es stimmt, dass Gegenwart eigentlich ein Nichts meint, das eingeklemmt ist zwischen kolossalen Massen von Vergangenheit und noch unbetretenen, großenteils leeren Räumen von Zukunft, dann, finde ich, sollten wir für eine extraordinäre Möblierung sorgen. Vielen Dank!