Redner(in): Christina Weiss
Datum: 28.02.2003

Untertitel: "Die Idee, ein Musikstück aufzuführen, dessen Dauer mehr als sechs Jahrhunderte umspannt, darf als ein besonders kühnes Unterfangen bezeichnet werden." Kulturstaatsministerin Weiss würdigt in ihrer Rede die "Leidenschaft für die Sache", die das Halberstädter Cage-Projekt vorangetrieben habe.
Anrede: Sehr geehrter Herr Röhring, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/89/469089/multi.htm


von dem berühmten französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts, von Marquis Luc de Vauvenargues, stammt ein Satz, der vielen menschlichen Handlungen in der Geschichte zugrunde gelegen hat, mögen sie positive oder negative Folgen gezeitigt haben: "Man verachtet", so Vauvenargues,"kühne Pläne, wenn man sich große Erfolge nicht zutraut." Die Idee, ein Musikstück aufzuführen, dessen Dauer mehr als sechs Jahrhunderte umspannt, darf nun mit Recht als ein besonders kühnes Unterfangen bezeichnet werden. Kühn einmal, weil es sich um ein Stück handelt, dass einen gleichsam imaginären Zuhörer verlangt, einfach aus dem Grund, weil niemand 639 Jahre alt wird, alt werden kann; ausgenommen vielleicht eine von unserer Phantasie erdachte Figur. Kühn ist der Plan aber auch deswegen, weil die Zeiten sich immer rascher verändern, und weil niemand weiß, ob der Ort, an dem diese Idee verwirklicht werden soll, die altehrwürdige Burchardikirche, die Zeiten überdauert.

Doch was ist das eigentlich Zeit? Schon Aristoteles hat sich mit dieser Frage eingehend beschäftigt; und auch nach ihm haben die Philosophen dieser Welt um eine Antwort gerungen. Die volle Wahrheit, sie wurde wohl nie ausgesprochen: Zeit ist, wie der Raum, von Imponderabilien umstellt. Und sie ist etwas, darin können wir zumindest Einigkeit erzielen, das zuletzt doch einer subjektiven Wahrnehmung unterliegt. Marcel Proust hat das einmal recht präzise für unseren Alltag formuliert, als er in seinem literarischen Hauptwerk, den "Recherches", folgenden Satz prägte: "Die Zeit, über die wir jeden Tag verfügen, ist elastisch: unsere Leidenschaften dehnen sie für uns aus; die Gefühle aber, die wir anderen einflößen, engen sie im Gegenteil ein, und die Gewohnheit deckt sich gerade mit ihr."

Leidenschaft für die Sache, das war es, wie wir wissen, auch, welche das ambitionierte Halberstädter Cage-Projekt angetrieben, überhaupt erst ermöglicht hat; ohne die Mitwirkung berühmter Organisten, Theologen, Philosophen und Musikwissenschaftler wäre es nie entstanden. Heute nun hören wir, nach einer vom Komponisten notierten Pause, die seit dem 5. September 2001, dem 99. Geburtstag des 1992 leider verstorbenen Komponisten, andauert, den ersten, langen Klang des Stückes "As slow as possible". Damit ist ein erster Schritt getan auf einem Weg, der in der Musikgeschichte beispiellos zu nennen ist. Und all jene, die diesen großzügigen Umgang mit Zeit kritisieren, ihm gar hybride Züge unterstellen, seien mit dem Goethe-Wort von der Qualität des Augenblicks sogleich getröstet. Denn vielleicht steht hinter all dem Philosophisch-Theologischen, hinter dem Kompositorisch-Interpretatorischen schlicht jene von Goethe wohl gemeinte Erhabenheit eines Augenblicks - mag er auch auf 639 Jahre gedehnt sein. In einer Zeit, in der menschlicher Fortschritts- und Technikglaube über jedwedes Hindernis zu springen scheint, setzt das unter vielen Mühen realisierte Halberstädter Cage-Projekt auf dieser wundervollen, 1361 gebauten und jetzt wieder restaurierten Orgel dieser zum Teil unreflektierten Vorwärtsbewegung einen Moment der Stille, der Kontemplation, des Innehaltens entgegen. Und wer weiß, vielleicht liegt in dieser Art von musikalisch-spiritueller Aufführung eine Utopie. Es ist die Utopie, dass es eine Zukunft gibt, es ist die Utopie des Optimismus. Und den können wir, sehr verehrte Damen und Herren, in der Tat gut gebrauchen.

Ich habe mit einem Zitat über das Kühne begonnen, ich möchte enden mit einem Zitat über die Musik. Wie sagt der Humanist Settembrini in Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" ? : "Die Musik ist unschätzbar als letztes Begeisterungsmittel, als aufwärts und vorwärts reißende Macht, wenn sie den Geist für ihre Wirkungen vorgebildet findet." Das ist hier in Halberstadt der Fall.

Vielen Dank für Ihre Zeit!