Redner(in): Christina Weiss
Datum: 01.03.2003
Untertitel: "Der sich immer rascher wandelnde Zeitgeist geht nicht spurlos an der Kunst vorüber": Kulturstaatsministerin Christina Weiss spricht in ihrem Eröffnungsvortrag zur Veranstaltungsreihe "Weimarer Reden" über die Rolle der Kunst, die Moderne und den Begriff der Avantgarde.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/90/469490/multi.htm
Am Abend des 28. Mai 1913 erlebt das vergangene Jahrhundert den wohl spektakulärsten Bühnenskandal seiner Geschichte. Igor Strawinskys Ballett "Sacre du Printemps" wird in Paris in der Choreographie des genialen Vaslav Nijinski uraufgeführt und evoziert einen unglaublichen Tumult. Es war nicht allein das heidnische Opferritual der Balletthandlung, es war vor allem die Urgewalt der in der Musik aufbrechenden Kräfte, die das Publikum zutiefst aufwühlte und verstörte. Das Stück entfesselte im Saal - gewissermaßen parallel zum Geschehen auf der Bühne - ein Inferno, das wir aus zeitgenössischen Berichten, u. a. von Jean Cocteau, nachvollziehen können. Aber das Skandalon folgt nur dem Schock, den Stück und Aufführung auslösen. Beurteilt werden kann nur dasjenige Kunstwerk, das sich einfügt in den Horizont des Bekannten. Das Unvergleichliche entzieht sich der Beurteilung. Deswegen steckt in jeder Uraufführung ein Risiko, an dem Zuschauer und Kritik scheitern können.
Szenenwechsel.
In einem Flugblatt veröffentlicht ein 26jähriger Berliner Arzt unter dem Namen eines Pariser Leichenschauhauses 1912 einen Gedichtzyklus, der in seiner brutalen Nüchternheit wie ein Schock wirkt. Die Gedichte treffen auf heftigste Ablehnung. Ein Kritiker nennt sie - in seiner sprachlichen Hilflosigkeit gar nicht einmal ganz unzutreffend - eine "Defäkation", ihr Verfasser wird als "Höllenbreughel" diffamiert. Ein "Requiem auf das bürgerliche Gesellschaftsvertrauen" hat Norbert Blüm einst Gottfried Benns Gedichtzyklus "Morgue" genannt, mit dem dieser die Bühne der Weltliteratur betrat. Endgültig und radikal wird hier der sich auf Goethe und Schiller berufende bürgerliche Humanismus des 19. Jahrhunderts zu Grabe getragen und im Bauch eines "ersoffenen Bierfahrers" beerdigt."Edel sei der Mensch, hilfreich und gut..." diesen kategorischen Imperativ Weimarer Provenienz, den das 19. Jahrhundert auf dem Banner seines moralischen Idealismus vor sich hertrug, zertrümmerte Benn durch die Vivisektions-Berichte von der Zerstörung und dem Verfall des Menschen und seiner Ordnung. Zurück bleibt das "gezeichnete Ich", einsam, schutzlos, aber mit geschärften Sinnen und nüchternem Blick auf die "Lage", die nach Benn es zu erkennen gilt.
Letzte Szene.
Berlin, Tiergartenstraße 34. In der Galerie mit dem programmatischen Namen "Der Sturm" wird am 20. September 1913 unter dem Titel "Erster deutscher Herbstsalon" eine Ausstellung eröffnet, die nicht erst im Rückblick als bedeutendste Übersicht der neuen Kunstströmungen vor dem ersten Weltkrieg Geschichte gemacht hat. Ein Jahr zuvor war in Köln einer Präsentation französischer Avantgarde-Kunst sensationeller Erfolg beschieden gewesen. 90 Künstler aus Frankreich, Deutschland, Russland, Holland, Italien nahmen an der sogenannten Sonderbund-Ausstellung teil und der Katalog liest sich noch heute wie ein "Who is Who" der Klassiker der modernen Kunst. Manche Inkunabel wie Franz Marcs "Turm der blauen Pferde" oder Wassily Kandinskys "Komposition Nr. 6" waren zu sehen. Eben jener Kandinsky datierte später die Geburtsstunde der abstrakten Kunst im Rückblick auf einen Abend im Jahr 1910, an welchem er eine seiner Leinwände im Atelier zufällig verkehrt herum abgestellt hatte und zu seiner Überraschung ein "Gemälde von außergewöhnlicher Schönheit sah, voll innerer Ausstrahlung". Das Echo der Medien über die Ausstellung war durchweg abfällig. Herwarth Walden, der Spiritus Rector des Unternehmens veröffentlichte im "Sturm" eine Auswahl der Rezension. So hieß es in der Frankfurter Zeitung: "Es wird die Vorstellung erweckt, als ob es in dieser Ausstellung etwas zu sehen gäbe in den Entwicklungsfortschritten. Nie war eine Prätension ( sic ) anmaßender, nie weniger begründet." Und die Hamburger Nachrichten geiferten: "Es ist in der Tat grober Unfug, diese Unsumme von Lächerlichkeiten, von blöden Schmierereien. Man glaubt aus der Gemäldegalerie eines Irrenhauses zu kommen". Freilich, das sei nicht unterschlagen, gab es wie bei Strawinsky und bei Benn auch andere, bedächtigere Stimmen, die eine Ahnung von der Bedeutung der Künstler und ihrer Werke erkennen ließen.
Drei Momentaufnahmen des Zustandes der Künste vor dem großen Sturm, der 1914 losbrach und das alte Europa in die größte Katastrophe seiner bisherigen Geschichte und an den Rand des Abgrunds trieb. Es sind die Künstler, die den Untergang der alten Weltordnung in den Schützengräben des 1. Weltkrieges vorwegnehmen, dabei angefeindet, verlacht, verhöhnt.
Strawinsky, Benn, die Maler des Expressionismus - sie gehören längst zu den Klassikern, werden in jeder Kunst- , Musik- und Literaturgeschichte erwähnt, sind an Schulen und Universitäten Teil eines verbindlichen Kanons, zählen zum "ewigen" und unverbrüchlichen kulturellen Erbe. Aber sie waren einmal verachtet und verfemt, weil sie schockierten und verstörten, bewegten und polarisierten. Erst im Abstand wurden ihre bahnbrechenden Leistungen für Kunst und Gesellschaft erkannt, für das "Projekt der Moderne" ( Habermas ) . Bild- , Sprach- und Klangmuster, die radikal mit der Überlieferung brachen, fanden sich Jahrzehnte später munter auf Tapeten, in Werbetexten und in der Pop-Musik wieder.
Aber nichts in der Geschichte der Menschen und ihrer Kultur ist ohne Voraussetzung, soweit wir auch zurückgehen ins Dunkel unserer Vergangenheit. Auch die Avantgarde von 1910 hatte ihre Väter und Vorläufer. Die Epoche, in der sie wurzelte, war jenes "lange Jahrhundert" ( H. A. Winkler ) von 1789 bis 1914, an dessen Ende in Europa die Lichter ausgingen. Die Voraussetzungslosigkeit der Moderne - seinerzeit von nicht wenigen Künstlern reklamiert - ist Mythos und Ideologie.
Es war das epochale Ereignis der bürgerlichen Revolution in Frankreich, die 1789 auch die Befreiung der Künste aus der jahrhundertelangen Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Kräften des "ancien régime" einleitete. Die Revolution ermöglichte Ihnen, an vorderster Front - "avant la garde" an der Gestaltung und Entwicklung der nachrevolutionären Gesellschaft mitzuwirken. Das Selbstbewusstsein der Künstler um 1800 speiste sich aus dem allgemeinen Bewusstsein eines unaufhaltsamen Fortschreitens in eine bessere Zukunft.
Die Herkunft des Begriffes der Avantgarde aus der Militärgeschichte ist im Hinblick auf nachfolgende Aspekte interessant. Im Orientierungsrahmen des Gefechtsfeldes operierte die aus mobilen Einheiten zusammengestellte avant-garde vor den eigenen Linien. Ihre Funktion war vor allem, feindliche Absichten frühzeitig aufzuklären. Clausewitz nannte die Avantgarden die "Augen des Heeres". Seit dem 1. Weltkrieg wurden diese "Augen" im Zuge der technischen Entwicklungen durch technische Geräte ersetzt, die heute mit einer Leistungsfähigkeit operieren, die der des Menschen um ein Vielfaches überlegen ist. Es liegt im Wesen der Avantgarde - wenn sie sich nicht unversehens hinter den Linien wiederfindet und den Rückzug decken muss - dass sie Positionen besetzt, die später von der Hauptstreitmacht eingenommen werden. Avantgarde ist also immer da, wo der große Tross erst ankommen soll oder umgekehrt: Wo die Masse angekommen ist, war immer irgendwann vorher Avantgarde.
Der Begriff "Avantgarde" taucht erstmals bei Gabriel Laverdant auf, der 1845 schrieb: "Die Kunst... drückt in ihrem höchsten Aufschwung die fortschrittlichsten sozialen Tendenzen aus, sie ist Wegbereiter und Verkünder. Folglich ist es, um zu wissen, ob die Kunst ihre Rolle als Initiator entsprechend erfüllt, ob der Künstler wirklich zur Avantgarde gehört, notwendig zu wissen, wohin die Menschheit marschiert..."
Seit den Tagen des französischen Frühsozialismus war Avantgarde auch eine ästhetische Kategorie."Mir scheint", so schreibt 1825 der Graf von Saint-Simon in seinen "Opinions litteraires, philosophiques et industrielles","dass die Reihenfolge, in der die Dinge marschieren müssen, die wäre, dass die Künstler an der Spitze sind, dann die Wissenschaftler, und die Industriellen nur nach diesen beiden Klassen", und zwar deshalb, weil "die Macht der Künste die unmittelbarste und schnellste" sei. An dieser "Macht" waren die Künstler nur bedingt interessiert und fühlten sich der Rolle einer "Vorhut der Gesellschaft" nicht immer gewachsen. Sie strebten vielmehr nach Unabhängigkeit, nicht nur von den alten, sondern von allen Autoritäten, von Staat und Gesellschaft, von Religion und Philosophie, vom ästhetischen Diktat der Kunstakademien und von der Verpflichtung auf den sozialen Fortschritt, wie ihn Karl Marx in seiner Gesellschaftstheorie formulierte.
Das Interesse der Künstler richtete sich auf die Grundlagen ihrer Kunst. Schon um 1800 arbeiteten zum Beispiel Francisco Goya, Caspar David Friedrich, Etienne Louis Boullée, Ludwig van Beethoven oder Heinrich von Kleist an einem Programm der Moderne. Die Abkehr von der Illusion, der Verzicht auf benennbare Gegenstände, die Selbstwertigkeit der künstlerischen Mittel, die Lösung aus historischen Bezügen erscheinen als Fernziele am Horizont, dem sich das 19. Jahrhundert schrittweise nähert. Dem Bürgertum als der treibenden und gestaltenden gesellschaftlichen Kraft des Jahrhunderts fiel es schwer, mit den Künstlern Schritt zu halten. Avantgarde war suspekt, ein Buch mit sieben Siegeln.
Der erste Theoretiker der Avantgarde, Charles Baudelaire, formulierte in seinem Bericht über die Ausstellung des Pariser Salons von 1859 in wenigen Sätzen deren Programm: "Wir suchen Wortbedeutungen, Wortwurzeln und Ableitungen darin ( im Wörterbuch ) , wir entnehmen ihm alle Bausteine für einen Satz oder eine Erzählung, aber niemand hat je ein Wörterbuch als Komposition im künstlerischen Sinn des Wortes verstanden. Die Maler, die der Einbildungskraft folgen, suchen in ihrem Wörterbuch die Bausteine, die zu ihrem Entwurf passen, und selbst diesen Bausteinen leihen sie ein ganz neues Aussehen, in dem sie sie kunstvoll einsetzen. Wer keine Einbildungskraft hat, kopiert das Wörterbuch..." Weder Baudelaire noch andere Theoretiker der Avantgarde von Walter Benjamin über Georg Lukács bis zu Theodor Adorno bemerkten jedoch, dass in den Äußerungen der Avantgardisten selbst bei aller kriegerischen Metaphorik der Begriff der Avantgarde selbst gar nicht auftaucht, nicht einmal bei denen, die mittels ihrer Kunst die gesellschaftliche Entwicklung mit aller Gewalt vorantreiben wollten.
Zentrales Anliegen der ästhetischen Avantgarden seit etwa 1800 war die Besinnung auf die künstlerischen Mittel Farbe, Form, Laut, Klang. Dieses Konzept der Autonomie und Entpflichtung wurde immer wieder in Frage gestellt von den ästhetischen Dogmen totalitärer Systeme, deren Auftrag die Künstler aber nur vereinzelt und oft auch nicht zur Zufriedenheit der Herrschenden annahmen. Dem hielt Eduard Beaucamp ( 1995 ) entgegen, die Avantgarde sei "nicht so unbefleckt" gewesen, wie gerne behauptet."Heikle Beimischungen" hafteten vielen Meisterwerken von der Renaissance bis zur Französischen Revolution an, und "Verstrickungen" durchziehen auch die Moderne. Dass die deutsche Avantgarde kaum in Versuchung kam, liegt vor allem daran, dass Hitler seinen erzreaktionären Kunstgeschmack zur Kunstdoktrin erhob und die Avantgarde zum persönlichen Todfeind erklärte. Dabei sind die vorsichtigen Annäherungsversuche mancher Bauhaus-Meister, die Bekenntnisse eines Emil Nolde und andere Sündenfälle längst bekannt.
Das Konzept der ästhetischen Autonomie setze sich aber am Ende, das heißt nach der zweiten Katastrophe des vorigen Jahrhunderts, durch und eroberte die Welt vor allem über die Bildmedien und über die Mechanismen des Marktes bis in den letzten Winkel. Wo die Avantgarde dies nicht oder nur eingeschränkt leisten konnte, in Diktaturen und totalitären Regimes, verweigerten Ihr die Apologeten des "freien Westens" lange, zu lange, die Aufmerksamkeit. Dabei wurde verdrängt, dass auch die freie Kunst des freien Westens nicht immer so frei, sondern auch gefährdet und verstrickt war. Denn Markt und Zeitgeist waren stets Korrektive, denen sich längst nicht alle bildenden Künstler, Dichter, Architekten oder Komponisten entziehen wollten oder konnten. In unguter Erinnerung sind die seriellen Produktionsmethoden etwa des späten Dalí , der massenweise Blätter signierte, die erst noch bedruckt werden sollten.
Nach 1945 galt Avantgardismus als Ausweis von Demokratie und wurde Teil der offiziellen Kunstideologie. Für Adorno war das avantgardistische Werk der einzig mögliche authentische Ausdruck des Weltzustandes und Antithese zu dem,"was der Fall ist" ( Noten zur Literatur ) . Dabei leitete schon 1957 Richard Chase mit dem Aufsatz "it ist the custom nowadays to pronounce the avantgarde dead" die Diskussion um den Tode der Avantgarde ein. 1964 behauptete Hans Egon Holthusen, dass der Begriff überleben werde, wie missverständlich und unzutreffend er auch sei.
Heute verstehen wir in einem allgemeinen Konsens "Avantgarde" als jede traditionskritische, normverletzende, Erwartungen zumindest irritierende, oft konterkarierende Ausrichtung der Künste. Signatur der Avantgarde ist das Neue, das mit dem Wandel des Zeitgeistes jedoch jeweils überholt und - zumindest teilweise - entwertet wird. Dabei sind die Künste ihrem Selbstverständnis nach anderen Objektivationen des Zeitgeistes stets voraus, sie bleiben also in einem zivilen Sinne "avant garde", Spähtrupp in einem noch nicht kartografierten Gelände, der Landmarken setzt, Wege durch das Dickicht zukünftiger Möglichkeiten bahnt, Aussichtspunkte entdeckt, von denen aus der Zeitgenosse zurück, vor allem aber nach vorn blicken kann. Die Suche nach neuen Welten und Wirklichkeiten treibt die Spähtrupps der Künste ebenso voran wie die der Wissenschaften. Seit 200 Jahren konfrontieren Künstler uns mit ihrer Sicht der Dinge, mit ihren Visionen und Vorstellungen. Sie sehen das, was wir noch nicht sehen, finden Worte für das, was wir nicht sagen können und hören etwas, das wir noch nie gehört haben. Sie sind der Linie, auf der sich die Masse bewegt, ein Stück voraus, und der jeweilige Abstand zur rückwärtigen Frontlinie ist ein Gradmesser für die Kühnheit ihrer Ideen. Sie leihen uns gewissermaßen ihr Auge, ihr Ohr, ihr Sprachvermögen, und das heißt: das wichtigste, was der Mensch neben seinem Verstand und Erkenntnisvermögen besitzt - ihre Wahrnehmungsfähigkeit und Sinnlichkeit.
Wer einmal Landschaftsbilder von Caspar David Friedrich oder Edouard Manet gesehen hat, der wird reale Landschaft nicht mehr ohne die Licht- und Raumerfahrungen der Romantiker oder Impressionisten wahrnehmen können. Wer Gedichte von Gertrude Stein oder Ernst Jandl gelesen oder besser noch: gehört hat, der ist sensibilisiert für das Eigenleben und die Klangqualitäten der Wörter und Sätze unserer Sprache. Wird ein Wort in einen offenen Zusammenhang aus Wörtern, Rhythmen, Klängen gestellt, kann es in uns frühere Kontexte aktivieren. Dichtkunst geht der Sprache auf den Grund, so wie Musik den Klängen, Malerei den Farben und Bildhauerei den Formen.
Was für eine Verführungskraft geht von Farben und Formen, Klängen und Wörtern aus, wenn man sie auf sie wirklich einlässt. Dabei tragen sie eine Geschichte, i h r e Geschichte in sich. Unsere Wahrnehmung ist immer auch historisch geprägt und geschult. Wörter, Formen, Klänge tragen den Ballast der Bedeutungen mit sich, der objektiv-lexikalischen und der subjektiv- persönlichen, die sich aus den Erfahrungen der je eigenen Biographie speisen. Das Gedächtnis wird geprägt durch die Mischung aus Vernunft und Emotion, aus Wissen und Assoziation, aus Entziffern und Erinnern, aus Wiederentdecken und Variieren, kurz, aus dem Memorieren der Passagen durch Kulturlandschaften und Lebenserfahrungen. Künstlerinnen und Künstler schaffen Objekte oder sagen wir lieber Prozesse, die eine ästhetische Erfahrung in uns auslösen. Wir sind zuhörend, zuschauend, wahrnehmend Teil des Kunstwerks. In jedem von uns realisiert sich das Werk anders und immer wieder neu.
Dabei gibt es Grenzen der Wahrnehmung so wie es Grenzen des Verstehens gibt. Nicht jeder kann jedes Kunstwerk wahrnehmen oder verstehen. Die Geschichte des Einzelnen mit der Kunst und den Kunstwerken ist immer wieder auch eine Geschichte des Scheiterns an ihnen. So bedeutet die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, das Einlassen auf sie und ihre Sicht der Menschen und der Dinge ein Training unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Kunst führt uns immer auch in Grenzbereiche des noch nicht oder nicht mehr Wahrnehmbaren. Erst locken die Kunstwerke uns, dann packen sie uns wie Undine und ziehen uns in die Tiefe unserer Subjektivität, um uns zu verunsichern und zu festigen. Die Künste haben das Instrumentarium einer solchen Ausbildung der Subjektivität parat. Sie erschließen Wahrnehmung, Emotion und Denkvermögen."Du mußt dein Leben ändern", raunt uns der "Archaische Torso Apolls" von Rilke zu, und so tun es alle Kunstwerke, so können es alle Kunstwerke tun, wobei jeder von uns sich seine individuelle und persönliche Auswahl, seinen Kanon lebenslang erarbeiten muss.
Bei ihrer großen Herausforderung, eingeübte Wahrnehmungsmuster in Frage zu stellen und zu verändern, kann die Avantgarde ihre Normen weder aus der Nachahmung der Natur noch aus Anleihen von der Geschichte beziehen. Ihr Wesensmerkmal ist die Selbstbezüglichkeit: Die vom Künstler ins Werk gesetzte Realität bezieht sich auf kein Äußeres, sondern ruht in sich selbst. Dabei ist die Aufgabe ihrer Selbstbezüglichkeit - von ihrem Selbstverständnis her - eine Gefährdung der Kunst der Avantgarde. Der sich immer rascher wandelnde Zeitgeist geht nicht spurlos an der Kunst vorüber. Denn die Moderne und ihre Speerspitze, die Avantgarde, haben das Fortschritts-Postulat der Aufklärung, so wie unsere Gesellschaft insgesamt, verinnerlicht. Der Geist der Moderne und ihrer Kunst ist mehr, als die Avantgarde es sich eingestehen mag, vom "Geist der protestantischen Ethik" ( M. Weber ) geprägt. Der Weg der Moderne ist vom Selbstverständnis der Avantgarde her ein nach vorwärts und immer nur dorthin gerichteter Weg ohne Ende und Ziel.
Und doch hat die Avantgarde auch Rückzüge angetreten, indem sie eines ihrer essentiellen Dogmen, das der Selbstbezüglichkeit in Frage stellte oder in Frage stellen ließ. Ist also der linear fortschreitende Weg der Moderne, die Eroberung immer neuer Welten der Wahrnehmung und Erkenntnis am Ende oder verlangsamt die Avantgarde nur ihr Schritttempo? Die Aufgabe des zentralen Dogmas der Avantgarde ist nicht zuletzt eine Folge eben dieses Dogmas. Denn gewissermaßen "unterhalb der Geschichte" bezog sich die Moderne von Anfang an durchaus auf Potentiale außerhalb ihrer selbst, die ihre Formerfindungen bestimmten."Der Aufklärungsprozess der Moderne", schrieb Heinrich Klotz, Gründer des Frankfurter Architekturmuseums und des Karlsruher Zentrums für Medientechnologie, zugleich einer der Apologeten der postmodernen Kunst, dieser Aufklärungsprozess also,"der die Geschichte immer als das überwundene zurücklässt und sich selbst als das immer neue und sich selbst legitimierende zur Herrschaft gebracht hat, pluralisiert sich in der Lebenspraxis in einer Vielfalt geschichtsfreier Programme, bis schließlich die Vielfalt selbst zum Programm wird - und den Geschichtsbezug als einer der pluralen Möglichkeiten wieder zurückholt. Die Folge sind Eklektizismus und Historismus ( ... ) So entlässt die Moderne die Postmoderne aus sich selbst heraus und opfert ( ... ) die Maxime der steten Neusetzung dem im Pluralitätssog wieder zugelassen Historismus."
Ist die Moderne in unseren Tagen an ihr Ziel gekommen und treten die Avantgarden zurück in Reih und Glied? Die Krise der Moderne wird seit Jahrzehnten beschworen. Hans Sedlmayrs Diktum vom "Verlust der Mitte" wurde bereits 1948 formuliert. Damals schickten sich die Avantgarden gerade erst an, ihren weltweiten Siegeszug anzutreten, zuerst in Mitteleuropa, von wo sie nach 1933 - als "entartet" gebrandmarkt - vertrieben worden waren. Viele Weggefährten einstiger Avantgarden kehrten aus dem Exil zurück. Nun begann, begünstigt durch die historische Situation - die Zeit ihrer Wirksamkeit in Deutschland.
Erst in den letzten zwei Jahrzehnten ist die Moderne - ich bleibe in der militärischen Terminologie - ins Schussfeld einer - nicht nur konservativen - Kritik geraten. Kurzweilig liest sich die Abrechnung des Berliner Malers Klaus Fußmann, der 1991 von der "Schuld der Moderne" sprach, mit welcher der "Ausverkauf" der Kunst begonnen habe. Für Günter Kunert besteht dieser Ausverkauf im "unseligen Einfluß" des Marktes auf das künstlerische Schaffen. Die Freiheit des "anything goes" setze den Künstler unter den Druck, seine Erzeugnisse zu Markenzeichen zu formen, die er unter dem Druck der Gesetze des Marktes nie mehr aufgeben könne. Der langjährige Leiter einer der bedeutendsten Sammlungen moderner Kunst in Deutschland, Werner Schmalenbach, der nun gewiss nicht im Verdacht steht, dogmatischer Ignorant zu sein, räumte schon 1992 resigniert ein, dass "der große Atem... weg ( sei )" und beklagte einen "neuen Konformismus". Der Vorwurf der leeren Betriebsamkeit und einer auf den "event" ausgerichteten Kulturlandschaft ist seit längerem aus verschiedenen Richtungen zu vernehmen, nicht zuletzt angesichts eines nach wie vor boomenden Musik- , Literatur- und Ausstellungsbetriebes. Keiner hat das Geschichtlichwerden der künstlerischen Avantgarde pointierter beschrieben als H. M. Enzensberger schon in den 60er Jahren: "Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug".
Die Avantgardisten von einst sind heute Klassiker der Moderne, sie sind sich selbst vorbildlich und damit historisch geworden. Die Stürme, die sie entfachten, haben sich längst gelegt, die Sensationen von einst sind kaum noch nachzuvollziehen. Was eben noch widerspenstig war und quer stand, ist zum kulturellen Erbe, womöglich mit Unesco-Gütesiegel, mutiert. Wer kann sich noch vorstellen, dass die erste Gruppenausstellung der Impressionisten 1874 in Paris mit folgendem larmoyantem Spott überzogen wurde: "Oh, es war ein anstrengender Tag, als ich mich in Gesellschaft des Landschaftsmalers Joseph Vincent... in die erste Ausstellung am Boulevard des Capucines wagte. Der Unvorsichtige war, ohne an Böses zu denken, dorthin gegangen. Er dachte, wie überall gute und schlechte Malerei zu finden, aber nicht solche Vergehen gegen die künstlerischen Manieren, gegen die großen Meister und die Form." Ein anderer Kritiker über Manets "Frühstück im Freien" : "Das sollen Furchen sein? Das soll Rauhreif sein? Das sind doch Farbkleckse, eintönig auf einer schmutzigen Leinwand angeordnet". Kaiser Wilhelm II. mokierte sich höchstpersönlich über die Impressionisten der Berliner Sezession und pries den Stil der Berliner Akademie und ihres Präsidenten Anton von Werner.
Und heute? Bilder der Impressionisten erzielen bei Auktionen weltweit Höchstpreise und stehen in der Gunst des Publikums ganz oben. Millionenfach schmücken Reproduktionen der Impressionisten Wohnzimmer aller sozialen Schichten. Ihre Bilder werden als "schön" empfunden ( "Die konnten noch malen" ) . 960.000 Besucher strömten 1996 allein in Chicago in die große Claude-Monet-Ausstellung. Unsere Wahrnehmung hat sich längst an derjenigen der Künstler abgearbeitet, deren Vorsprung eingeholt und die Frontlinie vorgeschoben. Die Avantgarde aber ist weiter gezogen. Die Beispiele lassen sich leicht und beliebig vermehren. Dabei birgt der Prozeß der "Klassifizierung" nicht geringe Risiken."Cives classici" waren im antiken Rom die Bürger der höchsten Vermögens- und Steuerklasse und repräsentierten die "oberen Zehntausend". Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff erstmals für vorbildhafte, mustergültige, künstlerisch für vollkommen gehaltene antike, dann auch deutsche und europäische Schriftsteller und ihre Werke verwendet.
Wie ließe sich heute Klassizität definieren und verstehen?
Vielleicht ist beziehungslose Ehrfurcht eines ihrer Kriterien. Vielleicht sind es auch die kollektivierten und kanonisierten individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen in ihrer Subjektivität und Ausdrucksfähigkeit außergewöhnlicher Persönlichkeiten, die Klassizität konstituieren. Martin Walser benannte 1984, nach den Kriterien für Klassizität befragt,"Brauchbarkeit" : "Die uns beleben, die können wir brauchen, das sind Klassiker", schrieb er in einem Essay, der das Jahrhundertunternehmen Siegfried Unselds einer Bibliothek deutscher Klassiker präludierte. Sind die Impressionisten und Künstler des Bauhauses, sind Brecht und Kafka, sind Schönberg und Webern unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit Klassiker? Folgt man Walsers individualistischer Definition, lässt sich die Frage nicht so einfach beantworten Denn was der Einzelne brauchen kann, ist nur von ihm und vielleicht auch nur im Laufe eines Lebens zu beantworten - oder aber immer wieder neu."Brauchen können" - was bedeutet das in diesem Zusammenhang? Ich denke, es ist der Gebrauch von Erfahrungen und Wahrnehmungen, die andere vor uns schon ausgedrückt haben, die uns helfen, unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen zu begreifen."Erfahrungen" verstehe ich dabei mit Fichte als das "System der vom Gefühl der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen". Nach Walser hätte also jeder von uns seine eigenen Klassiker. Jeder müsste für sich die Kunst- , Musik- und Literaturgeschichte durchwandern und durchstöbern, immer auf der Suche nach dem, was unsere Lebenskräfte stärkt oder sogar weckt. Anregungen mögen da hilfreich sein, ob sie nun von Reich-Ranicki oder Schwanitz kommen. Orientierungshilfen, Angebote, mehr aber auch nicht. Die Erfahrungen, die der Einzelne mit der Kunst machen kann, muss er selber machen, die Wahrnehmungen müssen seine eigenen sein. Intensiv erlebte Wahrnehmung von Gehörtem, Gelesenem, Gesehenem, Geschmecktem, Gespürtem bleibt dem eigenen Körper einverleibt, ob gewollt oder nicht, ob er diese Erfahrung bewusst speichert oder nicht. Formen und Farben der Bilder, sprachliche Erinnerungen, Klänge, sinnliche Erfahrungen und die davon ausgelöste Reflexion, das alle sickert ins innere Lexikon der Wahrnehmungen ein, prägt das Selbst-Bewußtsein und das Ich-Gefühl, bleibt also auf Dauer wirksam. So generiert sich jeder sein eigenes Lexikon, seinen eigenen Kanon der Klassiker, und nicht ein Kulturminister, eine Akademie, ein Großkritiker oder ein Professor. Walsers Klassiker-Begriff hat noch einen anderen, aparten Aspekt. Unter dem Gesichtspunkt der Brauchbarkeit kann ich auch ganz junge, ganz unbekannte und unetablierte Dichter, Maler, Bildhauer oder Komponisten zu Klassikern erheben, die ich mit niemandem teilen muss, Künstler, die nach landläufiger Vorstellung noch keine Klassiker sind und vielleicht niemals werden.
Natürlich gibt es noch eine andere, verbreitete Verwendung des Klassikerbegriffes, die hier nicht ausgespart werden kann. Es ist die Sphäre des Konsenses, der Übereinstimmung, der gemeinsamen Festlegung. Die Kanonisierung erfolgt hier nicht durch individuelle Entscheidung, sondern als langwieriger Prozess, vielleicht dem Verfahren einer kirchlichen Heiligsprechung vergleichbar. Erst einmal im Stande der Klassizität, können die Konkurrenzkämpfe einer jeweils neuen und aktuellen Gegenwart die Klassiker nicht mehr in Frage stellen. Dass es dabei sogar so etwas wie einen internationalen Klassenkampf um die Klassiker und Strategien in demselben gibt, dass es imperialistische Kulturen und kolonialisierte gibt, hat eine lesenswerte Untersuchung der französischen Literaturwissenschaftlerin Pascale Casanova gezeigt.
Die kollektiven Klassiker also haben identitätsstiftende und identitätswahrende Funktion. Klassiker dieser Kategorie gibt es auf verschiedenen, gewissermaßen topographischen Ebenen. Städte haben ihre Klassiker, Regionen und Landschaften, Völker und Nationen. Der Dichter Ernst Reuter etwa ist sicher kein nationaler, eher ein norddeutscher Klassiker, der Maler Wilhelm Leibl ein süddeutscher. Klassiker nationalen Zuschnitts sind vielleicht: Friedrich Hölderlin, Theodor Fontane, Emil Nolde, Carl Maria von Weber.
Schließlich gibt es Klassiker, die auch in Europa als solche gesehen werden, einigermaßen regelmäßig gehören die Nobelpreisträger dazu oder die Träger der großen internationalen Preise. Schließlich gibt es die Weltklassiker, so wie es ein Weltkulturerbe gibt. Es sind die ganz großen Namen der Kunst- und Kulturgeschichte: Bach und Beethoven, Rembrandt und Raffael, Shakespeare und Dante, Tolstoi und Strindberg. Es sind dies natürlich die Klassiker des alten Europa, der Beitrag der alten Welt zum Weltkulturerbe, das aber - immer wieder wird es beklagt - europalastig ist.
Wie wird nun der Avantgardist zum Klassiker und damit von der Sternschnuppe zum Fixstern? Das ist nicht leicht zu beantworten. Der Begriff wird nach einem frühen Gebrauch im 18. Jahrhundert erst ab Mitte des 19. in den historischen Wissenschaften fest etabliert und zur Klassifizierung vor allem von Dichtern und Schriftstellern verwendet. Zum Klassiker taugen zunächst diejenigen Künstler, die einst als Avantgarde ihrer Zeit die Grenzlinien der Wirklichkeitserfahrung ein gutes Stück in unbekanntes Terrain vorgeschoben haben, die Entdecker neuer Sprach- , Klang- und Bilderwelten, die Neuerer und Veränderer.
Aber das allein genügt nicht. Es ist der breite, mit zunehmendem zeitlichen Abstand wachsende Konsens über das Werk eines Künstlers, die allseitige zustimmende Anerkennung. Weder taugt der heftig umstrittene Künstler noch der Geheimtip zum Klassiker. Klassiker, literarische jedenfalls, sind zitierfähig, sie helfen uns, wenn wir die eigenen Gedanken legitimieren und in der Tradition verankern möchten. Die Geschichte der Kultur des Zitierens ist noch nicht geschrieben. Man hat das Gefühl, ein Klassikersatz füge sich in die Folge der eigenen Gedanken - und verleibt ihn seinem Text ein. Die ganz großen Klassiker sind vielleicht diejenigen, bei denen man immer einen passenden Satz findet, für jedes Problem, in jeder Lebenslage, zu jedem Thema oder von denen jedes Kunstmuseum, das auf sich hält, wenigstens ein Werk besitzen möchte.
Der Aufstieg in den Klassikerhimmel ist aber nicht ohne Risiken - für die Künstler und für uns. Denn das, dessen wir uns sicher wähnen, was unser fester, unverrückbarer Besitz zu sein scheint, fordert uns immer weniger ab und verfällt dem oberflächlichen Konsum. Der gelungene Vers verkommt zum geflügelten Wort,"schöne Stellen" der Musik werden als Potpourri aneinander montiert, Werbung und Design verleiben sich Bilder ein. Der multimediale Einsatz und Verbrauch klassisch gewordener Kunstwerke im Kontext industriell organisierten Kulturkonsums zerstört oder verfälscht doch zumindest die eigentliche Funktion der Kunst.
Nicht, dass die Kunst es gar nicht vertrüge, auch mal oberflächlich konsumiert zu werden. Nur das, was die Künste können, die Entwicklung, Stärkung und Schärfung der Subjektivität, lässt sich im bloßen Konsum nicht mehr entfalten. Das was mit dem Siegel der Klassizität versehen ist, vermag uns kaum noch aus der Reserve zu locken. Aber das Widerständige und Widerspenstige, Herausfordernde und Provozierende ist den Klassikern doch meist abhanden gekommen. Klassizität birgt für Künstler und Werk nicht mehr ein Risiko des Scheiterns, der Ablehnung, des Nicht-Verstanden-Werdens, nein schlimmer: des wirkungslosen Vergessens, der Entsorgung in Prachtmonographien, Lederausgaben und Jubiläumseditionen.
Vom Ge, Miss- und Verbrauch wäre an diesem Ort, vor dem das Denkmal der beiden größten literarischen Klassiker der Deutschen steht, einiges zu sagen. Wir gedenken ihrer: 1949 - 1955 - 1982 - 1999 und demnächst 2005. Wir berufen uns auf sie, wir führen sie im Munde, aber der Hinweis sei erlaubt: Die Mächtigen haben sich ihrer bedient, haben ihr Tun mit Klassikersätzen legitimiert und diese Sätze manchmal wie Kreuze auf Kanonenrohre appliziert. Sie sind gefeiert worden, diese Klassiker, zuweilen mit einer Intensität, die an Heiligenverehrung nicht nur erinnert, wenn man an die Enthüllungen über die nächtlichen Hantierungen an Goethes Gebeinen in Jahre 1970 denkt. Die Geschichte der Rezeption dieser beiden Klassiker ist ein spannendes Kapitel deutscher Literatur- und Geistesgeschichte. Zu dieser Rezeption gehören auch Sätze aus jüngerer Zeit wie der Günter Kunerts, der 1982 konstatierte: "Keiner von all jenen Autoren, die wir mit der Bezeichnung'Klassiker'brandmarken und somit dem allgemeinen Desinteresse anheim zu geben pflegen, ist vielen Gegenwärtigen so fremd wie unser berühmtester: Johann Wolfgang von Goethe."
Vielleicht bedürfen unsere Klassiker verstärkter Hinwendung, und das heißt: intensiverer Bemühung unserer Sinne, um sie lebendig zu erhalten oder wieder zum Leben zu erwecken. Ihre Werke bergen, wie alle große Kunst, auch nach Jahrhunderten noch etwas, das unsere Neugier herausfordern kann und sich dem bloßen Konsum querstellt, denn sie tragen noch immer die avantgarde, die sie einmal waren, mit sich.
Wenn wir die beiden wichtigsten Haltungen, Neugier und Spielbereitschaft, auch unseren Klassikern entgegenbringen, wenn wir mit ihnen experimentieren, ausprobieren und jonglieren, dann erfahren wir vielleicht wieder, warum sie einmal Avantgarde waren und an der Spitze der Suchbewegung der Künste standen. Dann erleben wir vielleicht auch die Klassiker wieder als einen Ort, der eine ganzheitliche Ausbildung des Individuums im lebenslangen kreativen Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst ermöglicht. Für die Künstler selbst ist der Umgang mit den Klassikern ihrer Zunft selbstverständlich. Sie beziehen sich auf sie in ihren Werken, zerstören diese, um sie neu zu erfinden und lassen sie auf diese Weise am Ende wieder zur Avantgarde werden.
Nicht nur die Werke der Avantgardisten, sondern auch die der Klassiker, die es neu zu entdecken und zu erobern gilt, schärfen Verstand und Sinne. Es ist die große Herausforderung der Kunst, vor die beide uns stellen. Sie anzunehmen, bedeutet zunächst weder Erbauung noch Genuss, sondern Mühe, Anstrengung, Frustration und ( manchmal ) Verzweiflung, wenn sie sich uns verweigert. Am Ende aber steht ein Zugewinn an Selbsterkenntnis und Sinnlichkeit, der größerer Genuss sein kann.
Was Francois Lyotard über den Rezipienten von Avantgardekunst schrieb, kann - bei richtiger "Handhabung" - womöglich auch für die Rezeption der Klassiker gelten: Er "empfindet kein einfaches Vergnügen, er zieht keinen ethischen Gewinn aus seinem Umgang mit den Werken, er erwartet von Ihnen eine Intensivierung seines Gefühls- und Begriffsvermögens, einen zwiespältigen Genuss" ( "Das Erhabene und die Avantgarde" )
Ich möchte sie alle ermuntern, das Wagnis der Kunst und mit der Kunst immer wieder einzugehen. Was sie uns verheißt und was sie uns geben kann, lohnte diese Mühe und Anstrengung allemal.