Redner(in): Christina Weiss
Datum: 04.04.2003

Untertitel: Der erste Konvent der Baukultur mit rund 1200 Fachleuten befasst sich neben Chancen und Perspektiven für eine Baukultur als Symbiose aus Architektur und Umwelt auch mit der zu gründenden Bundesstiftung "Baukultur". Kulturstaatsministerin Christina Weiss betont in ihrer Rede auf dem Konvent, dass eine Stiftung "Katalysator bewussten, kulturvollen Bauens" sein solle.
Anrede: Sehr geehrter Herr Bundespräsident, sehr verehrter Herr Kollege Stolpe, sehr verehrter Herr Vesper, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/83/477583/multi.htm


erlauben Sie mir eine Bitte: Sehen Sie sich um! Ich weiß, Sie alle haben dieses Haus, diesen "alten neuen" Plenarsaal schon oft und sicher viel genauer angesehen als ich. Aber dennoch: Schauen Sie sich auch jetzt noch einmal um. Erinnern Sie sich daran, wie Sie in diesen Saal gekommen sind, wie Sie die Gebäudehülle geradezu durchgleiten konnten?! Sehen Sie das Glas, den Stahl, das feine Holz; Plenum und Podium im Gleichgewicht zwischen Schwung und hartem Strich. Sehen Sie Ihren Nachbarn an und Ihr Gegenüber, und ich bin sicher: Ihnen sind sofort all die Schlagworte präsent, mit denen dieses Haus einst stilisiert worden und auf Dauer in die bundesdeutsche Architekturgeschichte eingegangen ist: Von gläserner Demokratie war da die Rede, von der festen Verbindung zwischen architektonischem und parlamentarischem Stil, nicht zuletzt von der Demokratie als Bauherr.

Doch ich frage Sie: Wäre unsere Demokratie besser oder schlechter, wenn der Plenarsaal des Deutschen Bundestages anders ausgesehen würde? Hat sich unsere Demokratie verändert, als das Hohe Haus von der Pädagogischen Akademie, aus dem Plenarsaal Schwippers, in diesen Raum und dann weiter in den Berliner Reichstag zog? Herrscht in Sachsen eine andere Demokratie als in Brandenburg, Hamburg oder Hessen, nur weil die Parlamente jeweils in Gebäuden tagen, die aus ganz unterschiedlichen Epochen stammen?

Ich will diese provokanten Fragen hier gar nicht weiter vertiefen. Sie dienen mir nur dazu, Ihnen die Beziehungen, die Dialoge zwischen Architektur und Gesellschaft bewusst zu machen, die ein Bauwerk im Extremfall entweder zur BauKUNST oder eben zur BauSÜNDE werden lassen. Es geht mir um die Definition einer BauKULTUR, die weit mehr meint als kulturvolles Bauen, eine Baukultur, die sich nicht auf nachträgliches Erklären und Bewerten beschränkt - und die vor allem etwas ganz anderes ist als die Applikation von Kunst am Bau. Im Gegensatz zur Baukunst nämlich, die man noch immer gern in Albertis Dreischritt von utilitas ( Nutzen ) , voluptas ( Vergnügen ) und dignitas ( Ansehen ) definiert, verstehe ich unter BauKULTUR eine aktive Auseinandersetzung mit der gestalteten Umwelt und mit deren gestalterischer Zukunft. Baukultur kann nie ein Monolog der Steine sein. Baukultur ist vielmehr ein lebendiger Dialog, das Sprechen, Schreiben und Streiten über Bauwerke und Städte mit dem Ziel, die planerische, technische und gestalterische Qualität unserer Architektur zu erhöhen. Dabei beschreibt und bestimmt die Baukultur gleichermaßen, wie wir mit Architektur und Städtebau leben. Sie ist wandlungsfähig, sie ist lebendig und ihr sensibelster Teil ist eben jene Schnittstelle zwischen gebauter Umwelt und Gesellschaft, an der in Zukunft die Stiftung Baukultur agieren soll. Eine Stiftung, die ich weder als Richter über gute und schlechte Architektur verstehe, noch als Interessenvertreter rein stilistischer oder politischer Präferenzen. Eine Stiftung Baukultur sollte vielmehr Katalysator bewussten, kulturvollen Bauens sein, Anstifterin zu gebauter Kultur, Zeichen unseres kulturellen Bewusstseins und gesellschaftspolitische Dolmetscherin, die nicht nur die Frage umtreibt, was wir zu einem Haus zu sagen haben. Sie sollte auch thematisieren, was das Haus, der Raum, die Stadt zu uns, vor allem aber über uns zu sagen hat, über unsere gestalterischen Fähigkeiten, über unsere kulturelle Verfasstheit und über den Stand der Baukultur an sich.

Meine Damen und Herren, ich habe zwar damit begonnen, Sie an die Qualität und die Bedeutung politischer Architektur zu erinnern. Da diese Baukunst per se jedoch den Anspruch erhebt, ja erheben muss,"kultur-voll" zu sein, beschreibt sie nur eine - gleichwohl glänzende - Seite unserer Baukultur. Wollen wir mit deren Weiterentwicklung ehrlich und erfolgreich sein, dürfen wir unsere Analysen weder inhaltlich noch zeitlich begrenzen. Uns muss ein Parlamentsgebäude so bedeutsam sein wie ein Reihenhaus; ein Hochhauscluster so wichtig wie ein Landschaftspark, ein Schloss so wertvoll wie ein Fachwerkhaus. Wer es mit der Baukultur ernst meint, darf sich nicht auf die wortreichen Visionen der Bauträger und die Computersimulationen der Architekten verlassen. Er muss es wagen, das reale Bauergebnis immer wieder neu zu betrachten und neu zu bewerten. Er darf den Neubau nie ohne das städtische Ensemble betrachten, den städtebaulichen Entwurf nie ohne die Stadt als Gemeinschaftsort. Er muss den Mut haben, sich zu neuen, zu modernen, ja auch zu rein künstlerisch gedachten Projekten zu bekennen, für sie zu werben und für sie zu kämpfen. Zugleich muss er sich selbst jedoch immer wieder klar machen, dass auch die aktuellste Architekturdebatte, der Streit um Fassaden und Traufhöhen, um hightech und Handwerk, um Innovation und Tradition, um historistische Neuinszenierung alter Stadtzentren und die Schrumpfung der modernen Stadt längst eingebettet sind in eben jene Baukultur, die auch eine Streitkultur ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich mich auf diesem Konvent so stark dafür einsetze, Baukultur als übergreifendes Ideenprojekt zu beschreiben, so will ich nochmals betonen, dass Baukultur keine PR-Maßnahme ist nach dem Motto "Baue Gutes und rede darüber!". Bauen UND Reden sind vielmehr integraler Bestandteil einer Baukultur, deren Zusammenspiel für das ( kulturelle ) Gemeinwohl allerdings oft besser gelingen würde, käme das Reden noch viel öfter vor dem Bauen. Diesen Bruch zu überwinden ist die große Chance, aber auch die große Herausforderung für die Stiftung Baukultur. Ihre Vermittlung könnte dafür sorgen, dass unsere Städte und Gemeinden bewusster, kulturvoller gestaltet werden und weder unter Schematismus noch unter einem Geniekult leiden müssen. Es geht mir um einen Dialog zwischen Auftraggeber und Architekt, zwischen Architekt und Ingenieur, zwischen Bau und Umwelt, der einmünden könnte in eine gesellschaftspolitische Debatte, die sich mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Baukultur beschäftigt, ohne dabei auf Hinterzimmer und Feuilletons beschränkt zu bleiben. Eine Debatte, die ihren Weg in das öffentliche Bewusstsein, in Schulen und Nachbarschaften findet und sich selbst von den Bollwerken unseres Planungs- und Baurechts nicht abschrecken lässt. Denn nur eine große Dynamik, Pluralität und Mut garantieren uns eine nachhaltige Baukultur, bei der die Bewahrung des Bauerbes so wichtig ist wie die Weiterentwicklung der Baustile und der Bautechnik. Gemeinsam mit der Geschichte bilden die Landschaft, die Siedlung, die Stadt und all ihre Gebäude jene Ressourcen, auf deren Basis jene "gute" - oder sagen wir lieber "kulturvolle" - Architektur gedeiht, die aus sich selbst heraus genügend Kraft hat: Kraft für das Bauwerk, Kraft aber auch für dessen Umgebung, für dessen Um-WELT sozusagen, für die der Bauherr zukünftig viel mehr Verantwortung tragen wird als heute.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man Baukultur als nachhaltigen Prozess begreift, der durchsetzt ist von Traditionslinien und geprägt ist von sozialer, ökonomischer, ökologischer und nicht zuletzt ästhetischer Verantwortung, muss man nicht automatisch den künstlerischen Entwurf, die große Geste oder die gestalterische Innovation verneinen, im Gegenteil. Der Architekt wird uns weiterhin als Künstler, der Künstler wird uns auch als Architekt erhalten bleiben. Ein neues Verständnis von Architektur und Stadt, neue Lebens- und Wohnideale, neue Baustoffe und Bautechniken werden uns auch weiterhin avantgardistische Entwürfe bescheren, die allesamt um Verständnis und Vermittlung werben werden. Völlig verändern wird sich wohl lediglich das landläufige Verständnis von Denkmalschutz, wenn wir selbst im radikalsten, anscheinend traditionslosesten Neubau bereits das zukünftige Arbeitsfeld der Denkmalpfleger entdecken. Zwar sind für diesen Wandel die rechtlichen Grundlagen durch die Denkmalschutzgesetze der Länder längst gegeben, und die meisten Fachleute vor Ort wissen längst um den historischen Wert des Neuen. Für die Stiftung Baukultur jedoch wäre es eine lohnende Aufgabe, der Allgemeinheit wie der Bauwirtschaft zu vermitteln, dass sich Denkmalpflege als essentieller Teil der Baukultur nicht auf längst vergangene Epochen beschränken darf, während zugleich Gebäude verschwinden, weil - nicht obwohl! - weil sie erst 20, 30 oder 40 Jahre alt sind. Wenn ich sehe, wie heute noch zahllose Bau- und gar nicht so wenige Meisterwerke der 50er, 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts ohne Not einfach so aus den Städten verschwinden, kann ich das nur als Vergehen an unserer Baukultur verstehen. Ein Vergehen, dem die Bau- und Kulturverwaltungen gemeinsam entgegentreten könnten, wenn es ihnen gelänge, die Auseinandersetzung über den Sinn und die Werte unserer Baukultur auch im Alltag konstruktiv zu führen. Zu oft nämlich sind es nur die Denkmalschützer, die sich vor Ort für ein neues Verständnis von Baukultur stark machen, und auch sie brauchen für ihre Arbeit jenen öffentlichen Diskurs, den die Stiftung Baukultur schon bald initiieren will.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Schutz und die Entwicklung der Baukultur sind selbstredend auch für den Bund eine wichtige Herausforderung. Das Bekenntnis zur Stiftung Baukultur darf hier als sicheres Zeichen gelten, dass der Bund in Zukunft, und ganz sicher noch viel intensiver als bisher, seine Verantwortung bei der Bewahrung und Bereicherung der Baukultur wahrnehmen wird. Als Kulturstaatsministerin wünsche ich mir sogar, dass der Bund eine Vorreiterrolle bei der Weiterentwicklung der bundesdeutschen Baukultur einnimmt, als Bauherr und als gesetzgebende Instanz, damit die Kreativität unserer Ingenieure, Architekten und Städtebauer weder an konjunkturellen Schwächen noch im Dickicht von Gesetzen und Verordnungen scheitert. Vielleicht kann es uns trotz aller berechtigter Bedenken sogar gemeinsam gelingen, auf der Basis einstiger finanzieller Garantien das Programm "Kunst am Bau" für Bundesbauten wiederzubeleben und die Hälfte der entsprechenden Mittel - das wären immerhin 1 Prozent der Gesamtbausumme - für die Aufwertung des städtischen Raums zur Verfügung zu stellen, um die Verantwortung des neuen Gebäudes für die Stadt zu demonstrieren und die Ideale einer übergreifenden Baukultur sichtbar zu machen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, dass kulturvoll gestaltete Städte und Dörfer die beste Grundlage für eine kulturvolle - und letztlich auch friedvolle - Gesellschaft sind. Das mag vielen utopisch klingen, oder mit dem Blick auf Bruno Taut oder Hans Scharoun längst überholt. Doch ich bin mir sicher: Wir können Gebäude und Städte zwar nach unseren Plänen formen; Gebäude, vor allem aber Städte, formen auch uns. Es kommt daher darauf an, Mittel und Wege zu finden, die Bedeutung unserer Baukultur zu steigern und den nachfolgenden Generationen nutzbar zu machen. Die Stiftung Baukultur ist für diese Aufgabe ein gutes Instrument. Wir können mit Stolz auf eine große Bautradition zurückblicken, die bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Die Baukultur ist nicht nur integraler Bestandteil unserer Kultur. Sie ist eines ihrer tragfähigsten Fundamente. Oder lassen Sie es mich abschließend an Carl Spitzwegs berühmtem Bild "Der Arme Poet" erklären: Wenn man sich beim Dichten und Denken nur noch mit einem Regenschirm vor den Unbilden des Wetters schützen kann, und es im Haus nur aushält, wenn man den Ofen mit Lyrik füttert, hat nicht nur die Baukunst versagt. Unsere gesamte Kultur ist in Gefahr. Dass es soweit nie kommen mag, sollte auch ein Ziel der Stiftung Baukultur sein, auf deren Arbeit ich mich ehrlich freue. Eine solche Stiftung tut der Architektur gut, sie tut unseren Städten und Gemeinden gut - und sie tut vor allem der Kultur gut.