Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 11.04.2003
Untertitel: Der Bundeskanzler würdigt die Rolle der Firma Siemens als Symbol für die engen Wirtschaftsbeziehungen und die Wirtschaftsgeschichte von Deutschland und Russland.
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident Putin, sehr geehrter Herr von Pierer, liebe Mitarbeiter der Firma Siemens, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/48/479248/multi.htm
Herr von Pierer hat erwähnt, wie Werner von Siemens und Johann Georg Halske vor 150 Jahren hier in Sankt Petersburg die erste Auslandsfiliale der Firma gründeten, weil sie die Streitereien mit der preußischen Telegrafenverwaltung leid waren. Das war sicher einer der seltenen Fälle, in denen das Telefon- und Telegrafenmonopol eher segensreiche Auswirkungen hatte.
Dass neue Technologien von ein und demselben Unternehmen in internationaler Zusammenarbeit und an verschiedenen Orten der Welt entwickelt und erprobt werden, ist heute eine Selbstverständlichkeit. Insofern war damals die Firmengründung in Sankt Petersburg eine Pioniertat.
Für solche weit in die Zukunft weisenden Anfänge war die Stadt seit ihrer Gründung vor 300 Jahren ein geradezu idealer Ausgangspunkt. Nicht nur Siemens & Halske, sondern auch zahlreiche andere deutsche Unternehmen errichteten hier ihre ersten Zweigstellen und Produktionsstätten.
Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte Siemens bereits mehr als 4000 Mitarbeiter in Russland. Und die intensiven Geschäftsbeziehungen mit Russland haben auch russische Revolution, zwei Weltkriege und die nachfolgenden Jahrzehnte von Kaltem Krieg und Eisernem Vorhang überdauert. 1991 schließlich konnte das Büro in Sankt Petersburg wiedereröffnet werden.
Auch die Projekte des Unternehmens hier in der Stadt zeugen von Kontinuität: So wurde an gleicher Stelle auf der Petersburger Prachtstraße, an der Siemens bereits 1883 die erste Straßenbeleuchtung eingerichtet hatte, die automatische Ampelsteuerung installiert. Und das neue internationale Kongresszentrum Konstantinovskij Palast, dessen Beleuchtung das Unternehmen schon besorgt hatte, als das Gebäude noch Winterpalast des Zaren war, wurde wiederum von Siemens elektronisch ausgestattet. Heute sind sämtliche Geschäftssparten des weltweiten Siemens-Konzerns in Russland vertreten.
Sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, tragen mit Ihrer täglichen Arbeit ganz maßgeblich zu den beeindruckenden Erfolgen von Siemens und zu diesem Beispiel russisch-deutscher Zusammenarbeit bei. Ihr Können, Ihr Engagement und Ihre Erfahrung sind das entscheidende Kapital dieses Unternehmens. Besonders freut es mich - das werden Sie mir nicht verdenken - , dass Siemens damit auch unter Beweis stellt, wie modern und wettbewerbsfähig die deutsche Wirtschaft ist.
Meine Damen und Herren,
das zunehmende Engagement der Firma Siemens in Russland geht einher mit der wachsenden wirtschaftlichen und politischen Verflechtung Russlands mit Deutschland und der Europäischen Union insgesamt.
Darüber hinaus haben wir ein gemeinsames Interesse an enger und vertrauensvoller politischer Abstimmung. Heute Nachmittag sind namhafte Vertreter des öffentlichen Lebens beider Länder zum dritten "Petersburger Dialog" zusammen gekommen.
Die Zahlen von rund einhundert Städtepartnerschaften und Tausenden von russisch-deutschen Bürgerinitiativen machen deutlich, wie tief die Beziehungen inzwischen kulturell und gesellschaftlich verwurzelt sind. Niemals in den letzten 100 Jahren waren die Beziehungen zwischen unseren Ländern so eng, aber auch so reich an Substanz wie heute.
Das findet seinen Niederschlag auch in der dynamischen Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Deutschland ist heute der wichtigste Außenhandelspartner der Russischen Föderation. Im letzten Jahr konnte die deutsche Wirtschaft die Ausfuhren nach Russland erneut um mehr als 10 Prozent auf rund 11,3 Milliarden Euro steigern.
Das ist eine Größenordnung, die von unseren Exporten nach Japan - immerhin das zweitgrößte Industrieland der Welt - nur knapp übertroffen wird. Spielraum für künftige Steigerungen sehe ich dennoch, zum Beispiel im Ausbau der Energiepartnerschaft oder bei Investitionen im konsumnahen Bereich.
Die enge Verflechtung zwischen unseren Ländern ist auch das Ergebnis unserer partnerschaftlichen Bemühungen, die Rahmenbedingungen der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen zu verbessern. Dazu zählen die Lösung der bilateralen Verschuldungsfragen und die Verbesserung bei den Ausfuhrbürgschaften genauso wie die umfangreichen wirtschaftlichen Reformen in Russland selbst.
Vier Jahre kräftigen Wachstums in Folge sind eine beeindruckende Bilanz, Herr Präsident. Sie haben diese Zeit genutzt, Ihr Reformprogramm weiter umzusetzen. Positive Folgen der engagierten Reformpolitik für den Staatshaushalt und den Arbeitsmarkt werden bereits sichtbar.
Ich betone aber gern: Eine florierende russische Volkswirtschaft ist auch im deutschen und europäischen Interesse. Wir wollen unsere partnerschaftliche Zusammenarbeit weiter ausbauen. Dazu erhoffe ich mir vom russisch-europäischen Gipfeltreffen Ende Mai hier in Sankt Petersburg weitere wichtige Impulse.
Nach der Erweiterung der Europäischen Union nach Osten im Jahr 2004 werden mehr als die Hälfte der russischen Exporte in die Europäischen Union gehen. Allein schon aufgrund der geographischen Nähe werden auch die meisten Auslandsinvestitionen aus der Europäischen Union kommen. Aber wenn wir das Potential voll ausschöpfen wollen, das aus diesen Entwicklungen resultiert, müssen wir gemeinsam die Weichen richtig stellen.
Wirtschaftlich schafft ein zügiger Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation Stabilität und Vorhersehbarkeit des Handelsregimes für die Handelspartner. Für Russland selbst wird der Marktzugang weltweit auf eine verlässliche Grundlage gestellt.
Mittelfristig können unsere beiden Länder enorm von der Verwirklichung eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraums profitieren, wie ihn EU-Kommissionspräsident Prodi auf dem EU-Russland-Gipfel im Mai 2001 vorgeschlagen hat. Dabei würde die freiwillige Übernahme europäischer Normen, Produkt- und Sicherheitsstandards in Russland den Handel mit der Europäischen Union erleichtern und um ein Vielfaches steigern helfen.
Politisch müssen wir weitere, für die Menschen sichtbare und spürbare Schritte zur Vertiefung unserer partnerschaftlichen Zusammenarbeit machen. Dazu zählt zum Beispiel die weitere Vereinfachung des Reiseverkehrs, bis hin zur Abschaffung der Visumspflicht, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen sind. Dazu zählt auch die Abstimmung zu außenpolitischen Fragen außerhalb Europas und, wo immer möglich, ein koordiniertes Verhalten in internationalen Belangen.
Meine Damen und Herren,
das Jubiläum der Firma Siemens ist ein Symbol für die enge Wirtschaftsgeschichte, die unsere beiden Länder verbindet. Ich wünsche dem Unternehmen und seinen Mitarbeitern auch weiterhin den Erfolg, den sie bei ihrem vielfältigen Engagement in diesem Land und in dieser Stadt zu Recht verdienen.