Redner(in): Christina Weiss
Datum: 16.04.2003

Untertitel: Die Berliner Staatsbibliothek präsentiert am 16. April 2003 Teile von aus Russland zurückgekehrten historischen Zeitungen der Jahrgänge 1845 bis 1945, die im Februar nach Deutschland zurückgegeben worden waren. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg nach Moskau gebracht, wo sie in der jetzigen Russischen Staatsbibliothek lagerten. Staatsministerin Weiss spricht in ihrem Grußwort von Zeitungen als "verblichenes Familienbild unserer Gesellschaft" und würdigt deren Wert als "unerschöpflichen Quell der Wissenschaft".
Anrede: Sehr geehrte Frau Schneider-Kempf, sehr geehrter Herr Professor Lehmann, sehr geehrter Herr Professor Winnacker, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/34/479934/multi.htm


ich freue mich sehr, dass Sie heute so zahlreich in die Berliner Staatsbibliothek gekommen sind, um gemeinsam mit mir eine kleine Doppelsensation zu feiern: eine ganz große und eine nicht ganz kleine.

Die große und wahrlich bedeutende Sensation ist vier Tonnen schwer und könnte einen kleinen, 11 Kubikmeter fassenden Raum ganz ausfüllen: Ich spreche von den 86.000 Zeitungen, die vor wenigen Wochen aus Moskau in die Staatsbibliothek gebracht worden sind. Ein paar dieser publizistischen Schatzstücke können wir heute gemeinsam zum ersten Mal in Augenschein nehmen, und sicher sind auch Sie wie ich fasziniert und gerührt zugleich, diesen Zeitzeugen längst gelebten Lebens zu begegnen. Titel wie "Gnädigst privilegiertes Leipziger Intelligenzblatt","Jenaische Zeitungen von gelehrten Sachen" oder "Gothaische gelehrte Zeitungen" sprechen schon allein, ohne dass man sich ihrem Inhalt auch nur genähert hätte, von einem längst historisch gewordenen, gänzlich anderen publizistischen Verständnis, in dem wir trotzdem die Wurzeln unserer Mediengesellschaft erkennen können.

Und in diesem Zusammenhang steht dann auch die zweite - kleine - Sensation, die ich Ihnen versprach, auch wenn es sich dabei nur um eine Korrektur handelt. Aber: Volksmund irrt!

Sie alle kennen den Spruch, dass nichts uninteressanter sei als die Meldung von gestern. Nicht wenige von Ihnen verdienen mit diesem Motto sogar ihr Geld. Und dennoch stimmt diese "Weisheit" nicht. Es kommt nämlich darauf an, das "gestern" genauer zu definieren. Mit genügend großem Abstand sind die Zeitungen, die ein paar Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alt sind, nämlich ganz hervorragende, spannende Zeugen des Lebens: politisch, soziologisch, sprachlich, moralisch, ja sogar meteorologisch, wenn Sie so wollen. Alte Zeitungen und Zeitschriften sind nicht nur ein unerschöpflicher Quell der Wissenschaft. Mit dem, was sie sagen, wie sie es sagen und in welchem Zusammenhang sie es sagen, helfen sie uns - dem neu gewonnenen "Zweitleser" - uns in der Zeit zu verorten. Sie sind wie ein verblichenes Familienbild unserer Gesellschaft, das unverhofft in einer Schublade auftaucht, und das uns mehr zurückgibt als die pure Information, weit mehr sogar, als die Autoren einst glaubten hineinlegen zu können. Hier tritt die europäische Geschichte ganz unvermittelt zu Tage und zeigt uns erneut ihren verhängnisvollen Januskopf, der auf der einen Seite von der Kultur und auf der anderen von Krieg und Zerstörung kündet.

Nichts ist also so spannend wie die Meldung von gestern, zumindest unter dem Blickwinkel der Geschichtsforschung, und so sind die 86.000 Zeitungen eine wunderbare Bereicherung vieler deutschen Sammlungen. Denn obwohl die Staatsbibliothek zu Berlin seit Ende des 17. Jahrhunderts systematisch Zeitungen sammelt und heute eine umfangreiche Sammlung historischer Zeitungen besitzt, werden viele der aus Russland eingegangenen Bestände Berlin schon bald wieder verlassen. Sie kehren in jene Bibliotheken zurück, in denen sie einst verzeichnet waren, und deren Inventarstempel sie sehr oft noch tragen. Bis alle Eigentümer ermittelt sind, bleibt die Staatsbibliothek zu Berlin allerdings genau der richtige Ort zur Aufbewahrung der Zeitungen, die - das kann nicht hoch genug eingeschätzt werden - trotz eines natürlichen Alterungsprozesses in sehr gutem Zustand sind. Hier hat die Staatsbibliothek in Moskau eine ganz hervorragende Vorarbeit geleistet, für die ich mich hier herzlich bedanke.

Mein Dank will sich aber nicht auf technische Details beschränken, denn die Moskauer Bibliothekarinnen und Bibliothekare haben uns auch inhaltlich überrascht: Von den 180 nach Deutschland gelangten Zeitungstiteln waren 30 bisher weder in der Staatsbibliothek zu Berlin noch in einer anderen deutschen Einrichtung verzeichnet! Diese Zeitungen aus dem Altbestand der Russischen Staatsbibliothek werden vor allem die Zeitungsabteilung der Berliner Staatsbibliothek am Moabiter Westhafen bereichern. Und ich bin mir sicher, dass einige dieser Zeitungen auch an andere Einrichtungen abgegeben werden können, wenn dadurch eine Lücke im entsprechenden Bestand geschlossen werden kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte erlauben Sie mir, dass ich meinen Dank auf eine weitere Institution ausdehne: Ohne die Deutsche Forschungsgemeinschaft nämlich wäre es überhaupt nicht möglich gewesen, einen Zeitungsschatz diesen Ausmaßes zu sichern und nach Deutschland zu überführen. Seit vielen Jahren bereits unterhält die DFG unter dem Titel "Literaturversorgungs- und Informationssysteme" ein so interessantes wie erfolgreiches Projekt, dessen Aufgabe es ist, den wissenschaftlichen Informationsaustausch auch zwischen Deutschland und Russland lebendig zu gestalten. Konkret bedeutet das, dass die Russische Staatsbibliothek beständig Literatur aus Deutschland erhält, während deutsche Forschungseinrichtungen mit wissenschaftlicher Literatur aus Russland versorgt werden. Und auf der Basis dieser Zusammenarbeit wuchs eben jenes Vertrauensverhältnis zwischen deutscher und russischer Seite, deren Früchte wir heute wieder bewundern können. Ganz herzlichen Dank dafür, denn die DFG hat hier bereits eine jener Beziehungen zwischen Deutschland und Russland geknüpft, die der Bund gerade durch das Jahr der "Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen" fördern will. Hier geht es um Kooperation statt um Konkurrenz, um Verständnis und Annäherung, um Ausgleich und Vertrauen - um jene Fundamente also, auf denen wir alle Bereiche deutsch-russischer Zusammenarbeit entwickeln wollen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein paar Worte zur Rückführung der so genannten Baldin-Sammlung. - Den anwesenden Journalisten kann ich diese Frage ohnehin längst an der Nasenspitze ablesen:

Wie sie alle wissen, war geplant - und mit dem russischen Kulturminister fest verabredet - die nach dem zweiten Weltkrieg von Viktor Baldin in die Sowjetunion verbrachten Kunstschätze aus dem Besitz des Bremer Kunstvereins - 364 Zeichnungen und zwei Gemälde - noch im März nach Deutschland zurückzuführen und am 29. März in der Bremer Kunsthalle auszustellen. Sie wissen aber auch, dass an eben jenem 29. März eine Ausstellung der Werke eröffnet wurde und sich enormen Zuspruchs erfreut - allerdings nicht in Bremen, sondern im Moskauer Architekturmuseum, dem Baldin viele Jahre vorgestanden hatte.

Die Frage, die nun alle - vor allem natürlich die Medien - beschäftigt, lautet: Ist mit dieser Ausstellung und dem juristischen Tauziehen in Russland der Rückführungsprozess beendet? Und ich beantworte Ihnen diese Frage ganz aufrichtig mit NEIN. Ohne mich in die innerrussischen Angelegenheiten einmischen zu wollen, kann ich feststellen, dass die so genannte Baldin-Sammlung selbst nach russischer Einschätzung nicht zum Bereich der so genannten "Beutekunst" gehört, da sie eben nicht von der russischen Trophäenkommission aus Deutschland verschleppt worden ist. Ebenso unstrittig ist für mich, dass der Bremer Kunstverein Eigentümer der Werke ist, die erst in St. Petersburg und nun in Moskau lagern. Und da ich über diese grundsätzlichen Fragen mit meinem hoch geschätzten Amtskollegen in Moskau, Herrn Schwydkoi, längst Einigkeit erzielt habe, besteht für mich keinen Zweifel daran, dass die Baldin-Sammlung nach Bremen zurückkehren wird. Ich hoffe, dass dies schon sehr bald geschieht, zumal die Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Regierung ausgesprochen gut, stabil und hoffnungsgebend sind. Das haben die Präsidenten beider Länder bei der Eröffnung der "Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen" im Februar diesen Jahres ausdrücklich hervorgehoben. Wie die Rückführung der Zeitungsbestände wird auch die Rückführung der "Baldin-Sammlung" dazu beitragen, ein neues Kapitel partnerschaftlicher Kooperation zwischen Deutschland und Russland zu öffnen. Freuen Sie sich mit mir darauf und genießen sie vorerst das große Glück, das uns die so wundervoll bewahrten Zeitungen aus längst vergangener Zeit bescheren. Vielen Dank.