Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.05.2003

Untertitel: Wir dokumentieren die Rede des Bundeskanzlers zum 40-jährigen Jubiläum des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Anrede: Herr Prof. Wiegard, sehr geehrter Herr Reich, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/483331/multi.htm


Vielen Dank, verehrter

Herr Wiegard hat es gesagt: Den Rat gibt es seit 40 Jahren, und er ist in ganz besonderer Weise etabliert worden, nämlich durch jenes Gesetz, auf das Sie verwiesen haben, das einstimmig durch den Deutschen Bundestag beschlossen worden ist. Gleichwohl wurde unter den Fraktionen über dieses Gesetz gestritten. Gestritten wurde über die Frage, wer zuerst auf diese vorzügliche Idee gekommen sei. Soweit ich weiß, ist dieser Streit nie ganz entschieden worden.

Mit der Bildung dieses Gremiums wollte man die - ich will das zitieren - "babylonische Sprachverwirrung in der damaligen Beurteilung wirtschaftlicher Probleme" beseitigen, und statt dieser babylonischen Sprachverwirrung, von der heute natürlich überhaupt keine Rede sein kann, wollte man eine solide und sachliche Grundlage schaffen. Bezogen auf den Rat ist das gelungen, jedenfalls der eine Teil, was die Solidität und die Sachlichkeit angeht. Was die Verwirrung angeht, habe ich so meine Zweifel, wenn ich die immer schnellere Abfolge der unter das Volk gebrachten Gutachten oder gutachterlichen Stellungnahmen zur Kenntnis nehme.

Unbestritten ist also: In seiner 40jährigen Geschichte hat sich der Sachverständigenrat wirklich nicht nur Anerkennung in den Fachkreisen, bei Ihren Kolleginnen und Kollegen, sondern sicherlich auch ganz besonders in der Politik erarbeitet. Das gilt, soweit ich das übersehen kann und soweit es mich betrifft, ganz sicherlich auch für die Ratschläge, die wir nicht oder noch nicht haben verwirklichen können beziehungsweise wollen.

Wenn man sich fragt, woran das liegt, dann ist natürlich zunächst einmal auf die wirklich herausragende fachliche Qualifikation der Mitglieder des Rates zu verweisen. Ich nehme an, dass das der Grund ist, warum sie inoffiziell - Herr Reich hat darauf hingewiesen - auch "die fünf Wirtschaftsweisen" genannt werden. Als solche gelten sie übrigens in dieser Begrifflichkeit weit über das Fachpublikum hinaus, denke ich. Dass ein wissenschaftliches Gremium dieser Qualität und dieser Besetzung nicht nur Anerkennung bei den zu Beratenden und im Kreis der Kolleginnen und Kollegen findet, sondern auch wirklich ein Begriff für Menschen geworden ist, die nicht Ökonomen, professionelle Beobachter von Politik oder aktive Politiker sind, spricht, denke ich, auch für dieses Gremium. Es wird gehört, weit über den engeren Kreis von Fachleuten in allen Lagern hinaus.

Dieser Rat analysiert nicht nur die wirtschaftliche Lage. Seine Arbeit bildet oder soll auch die Grundlage für politische Urteilsfindung, Urteilsbildung und natürlich für politische Aktivitäten bilden. Ich denke, das wird in der Gründungszeit des Sachverständigenrates, also den Jahren des Wirtschaftswunders, einfacher gewesen sein, als das heute der Fall ist, vielleicht auch angenehmer; keine Frage. Angesichts von damaligen Wachstumsraten von 7 Prozent und Arbeitslosenzahlen von weniger als 200.000 mag der Blick auf die Realität in der Wirtschaft sehr viel problemloser und ungetrübter gewesen sein, als das heute der Fall ist. Aber jedes Ding hat seine zwei Seiten: Dafür ist die Arbeit heute gewiss umfassender und - wenn ich die Weisen richtig verstanden habe - deswegen auch attraktiver, als es jemals zuvor der Fall war; denn mit der Größe der Probleme wächst auch die Notwendigkeit, sehr problembezogen, sehr entschieden und sehr entscheidend zu arbeiten.

Wir sind nicht nur weit von den damaligen Wirtschaftsdaten entfernt. Die Zusammenhänge, die Sie analysieren müssen, die der Rat zur Kenntnis zu nehmen und der Politik zu unterbreiten hat, werden immer komplexer und sehr viel internationaler als je zuvor. Als Folge dessen gibt es immer weniger einfache ökonomische Lösungen für die komplexen Probleme, mit denen wir es zu tun haben. Deswegen sind die ökonomischen Bewertungen der fünf Weisen in der Politik und bei den wirtschaftlichen Akteuren - es geht ja nicht nur um Politik - vielleicht nicht weniger umstritten als früher. Aber jedenfalls werden sie heute allemal so ernst genommen, wenn nicht - aufgrund der Komplexität unserer Gesellschaft - sogar ernster.

Vielleicht kann man das an einem, wie ich finde, ganz witzigen Beispiel klar machen: Ludwig Erhard hatte - wäre Herr Giersch hier, könnte der sich vielleicht noch daran erinnern - das erste Gutachten des Sachverständigenrats nicht etwa selbst entgegengenommen, sondern der Pförtner seines Hauses hatte es ordentlich mit Empfangsbestätigung quittiert, und dann ging das seinen Gang bis hin zu Ludwig Erhard selbst. Ob das acht Wochen gedauert hat, weiß ich nicht. Jedenfalls musste er damals noch nicht Stellung für die Bundesregierung nehmen. Heute machen wird das wirklich in einer ernsthaften und diskussionsfreudigen Begegnung. Man könnte sich höchstens für den Fall, dass die Kritik zunehmen sollte, vorbehalten, zu den alten Zeiten zurückzukehren. Aber das wollen wir einmal dahingestellt sein lassen.

Anders als in vielen anderen Ländern, in denen es natürlich Politikberatung dieser Art gibt, genießt der Sachverständigenrat in Deutschland eine gesetzlich geschützte Unabhängigkeit. Das ist Ihnen, die Sie hier versammelt sind, gewiss bekannt, nicht unbedingt der deutschen Öffentlichkeit. Ich finde, nicht zuletzt diese Tatsache macht seine Qualität und vielleicht auch die Attraktivität seiner Arbeit aus, aber auch der Mitgliedschaft im Rat. Seine Funktion ist also die einer wirklich unabhängigen wissenschaftlichen Politikberatung und als Folge dessen nicht nur Politikberatung; das ist keine Frage. Die Weisen sind im weitesten Sinne unserem Land und dem Wohlergehen des Landes, also dem Gemeinwohl verpflichtet, aber sie werden dabei weder von der Regierung noch vom Parlament kontrolliert. - "Was ist das für eine schöne Arbeit?", sagt man sicherlich.

Der Rat ist ganz und gar nicht das geworden, was manche Skeptiker bei seiner Gründung befürchtet haben. Er ist nicht das geworden, was auch diskutiert wurde - eine Art Hilfsorgan der Bundesregierung, eine Art vorweg genommene Vollstreckung dessen, was die Bundesregierung so tut - , sondern wirklich ein Widerpart in einer intensiven und notwendigen Diskussion. Unabhängig soll der Rat auch gegenüber den einzelgesellschaftlichen und den wirtschaftlichen Interessengruppen sein. Ich glaube, dass man sagen kann: Auch das ist realisiert worden und bestimmt die Arbeit des Rates.

Regierung und Parlament, auch Interessengruppen in unserer Gesellschaft, haben überhaupt keine Chance, die Arbeit des Rates zu beeinflussen. Dass zwischen den Ratsmitgliedern und gesellschaftlichen Gruppen intellektueller Austausch und Kommunikation stattfindet, ist natürlich vernünftig und soll auch so sein. Von daher gibt es auch hierbei natürlich viele Berührungspunkte. Der Rat existiert also nicht außerhalb unserer Gesellschaft, sondern als Teil dessen, aber, wie gesagt, ausgestattet mit einer gesetzlich garantierten Unabhängigkeit. Das einzelne Ratsmitglied - auch das ist, denke ich, einer Öffentlichkeit klar zu machen - unterliegt überhaupt keinem Zwang, auch keinem Konsenszwang im Rat selbst, ist also frei und kann jederzeit eine eigene Meinung nicht nur äußern, sondern auch kommunizieren, wenn sich der Rat auch insgesamt bemüht, eine einheitliche Position darzustellen, was meistens auch gelingt. Andererseits ist es, wie gesagt, jederzeit jedem Mitglied möglich, Minderheitenvoten in das Gutachten zu schreiben.

Die Ratsgutachten zeichnet aus, dass sie sich nicht in der aktuellen Tagespolitik verlieren dürfen und verlieren. Sie sind in einen größeren Rahmen mit langfristigen Perspektiven eingebettet, und dies - das kann man wirklich sagen - auf der Grundlage großer wissenschaftlicher Aktualität. Auch deshalb heben sich die Bewertungen des Rates, jedenfalls nach meiner Auffassung, wohltuend von dem ab, was uns ansonsten nicht an babylonischer Sprachverwirrung - die ja überwunden ist - , aber an Ähnlichem begegnet.

Dass der Gesetzgeber dem Rat politisches Gehör verschafft hat, verstärkt dessen Bedeutung zusätzlich. Die Bundesregierung ist verpflichtet - und sie entspricht dem auch - in ihrem Jahreswirtschaftsbericht auch und gerade zu den Jahresgutachten Stellung zu nehmen. Natürlich ist das auch eine Verpflichtung für den Rat, die ohnehin angenommen worden ist, zu besonders sorgfältiger Analyse.

Beratung durch kompetente Dritte ist für jeden handelnden Politiker eine wertvolle Unterstützung, gerade, wenn sie unter den Bedingungen von Unabhängigkeit in einem öffentlich auch kritischen Diskurs vermittelt wird. Ich sage das ausdrücklich: Das gilt auch dann, wenn einem - was gelegentlich schon vorgekommen sein soll - die Gutachten nicht in den, wie man so schön sagt, Kram passen. Auch dann sind sie wertvolle Anregungen, die eigene Urteilsfähigkeit zu schärfen; denn so leicht ist es nicht, politisch gegen die Empfehlungen zu agieren. Deswegen versucht man, sich in der politischen Diskussion immer auf die Stellen des Jahresgutachtens zu beziehen, die einem besonders gut gefallen, und die anderen höflich zu verschweigen. Das macht man aber um des eigenen Interesses Willen, nicht etwa, weil man der Auffassung wäre, dass das, was man verschweigt, einen geringeren wissenschaftlichen Wert hätte. Das ist einfach eine Frage geschickter Kommunikation, um es einmal so auszudrücken.

Aber im Ernst: Wir brauchen gerade in Zeiten, in denen es schwieriger wird, insbesondere wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen durchzusetzen, eher mehr Beratung durch unabhängige Gremien als weniger. Insofern, glaube ich, ist das, was der Rat über seine offiziellen Stellungnahmen kommuniziert, wichtig für die Bewusstseinsbildung in unserem Volk und damit auch wichtig für die Durchsetzung politischer Vorhaben. Wir brauchen nicht nur kurzfristige Unterstützung, sondern insbesondere das, was Sie leisten, nämlich Hilfe dabei, einen mittel- und langfristigen Rahmen zu erstellen.

Wir müssen unser Land zurzeit gründlich modernisieren, und dies in einer guten Balance von wirtschaftlicher Dynamik auf der einen Seite und sozialer Balance auf der anderen Seite. Dass das nicht ohne Friktionen in einer Gesellschaft geht, die gelegentlich nicht beweglich genug ist, verspüre ich jedenfalls gerade in den letzten Tagen und Wochen. Ohne den Sachverständigenrat dabei instrumentalisieren zu wollen, wünsche ich mir, dass der unabhängige Ratschlag des Sachverständigenrats auch in die Öffentlichkeit hinein wirkt und auf diese Weise, die Akzeptanz notwendiger politischer Maßnahmen größer werden lässt und hilfreich dabei ist, partikulare Interessen im Sinne des Gemeinwohls zurückzudrängen. Nicht allein die Bundesregierung sollte also Adressat sein, sondern auch Bürgerinnen und Bürger, soweit sie Interesse daran haben, und vor allen Dingen diejenigen, die den politischen Diskurs entscheidend mitbestimmen.

Gerade deshalb kann es nur gut sein, wenn die Berater in ihrer öffentlichen Präsenz ihre Verantwortung für eine klare Debatte, aber auch für deren Versachlichung, wirklich wahrnehmen. Ein wachsendes Verständnis gerade auch von wirtschaftlichen Zusammenhängen schafft mehr demokratische und politische Legitimation für notwendige Vorhaben, und das können wir sehr gut brauchen, insbesondere bei der erforderlichen Modernisierung unserer Gesellschaft.

Das aktuelle Jahresgutachten des Sachverständigenrates zeigt in - man kann das zitieren - "20 Punkten für Beschäftigung und Wachstum" Wege auf, wie wir die wirtschaftliche Basis unserer sozialen Marktwirtschaft zukunftsfest machen können und müssen. Die Gutachter mahnen Reformen der sozialen Sicherungssysteme und des Arbeitsmarktes an und plädieren für eine wachstumsfreundliche Finanzpolitik. Der Rat hat damit die zentralen Handlungsfelder einer jeden Reformpolitik für die Modernisierung und das Wachstum in unserer Gesellschaft benannt. Gerade deshalb ist es natürlich zwangsläufig so, dass die Fragen, die der Rat behandelt hat, auch für die Bundesregierung in ihrem konkreten Handeln im Mittelpunkt stehen.

Die Reformpolitik, die wir in der vergangenen Legislaturperiode - ich nenne das Stichwort kapitalgedeckte Rente - begonnen haben und bei der wir gelegentlich vom Rat gescholten worden sind, zu zögerlich zu sein, wird nun mit der "Agenda 2010" fortgesetzt. Sie ist übrigens auch ein eindeutiger Beleg dafür, dass die Kommunikation zwischen Politik und wissenschaftlichem Sachverstand doch klappt und wie beides einander beeinflusst, auch wenn das nicht von Anfang an so gesehen worden ist.

Wir sind uns mit dem Sachverständigenrat darüber im Klaren, dass die grundlegenden Wahrheiten der Wirtschaftswissenschaft eben nicht ignoriert werden können. Wir müssen gesellschaftlichen Gruppen klar machen, dass es eine wirklich einfache Faustregel bei der Herstellung sozialer Gerechtigkeit gibt, die wir wollen. Wir müssen klar machen, dass nur das verteilt werden kann, was da ist, und nicht das, was nicht da ist. Es ist nur das da, was produziert und was in Form von Dienstleistungen auf den Markt gebracht worden ist. Diese Erkenntnis schmerzt den einen oder anderen immer noch, aber sie ist schlicht wahr. Man muss nicht einmal studierter Ökonom sein, um das zu verstehen.

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen und ein investitionsfreundliches Steuersystem, das der Rat bereits in den 70er Jahren empfohlen hat, erfahren heute trotz der Schwierigkeiten im Grunde mehr Zustimmung als jemals zuvor. Zu hohe Beschäftigungskosten gefährden Arbeitsplätze. Deswegen müssen wir mit diesen Kosten herunter und Fehler in der Vergangenheit - zum Beispiel die Finanzierung der Einheit über Arbeitskosten - Schritt für Schritt korrigieren. Wir tun das mit all den Schwierigkeiten, die damit verbunden sind.

Ich sage es noch einmal: Tatsache ist, dass wirtschaftliche Wertschöpfung unabdingbare Voraussetzung für soziale Transferleistungen ist. Wer das übersieht, begibt sich auf einen falschen Weg, der mit Sicherheit in einer Sackgasse endet.

Die demografische Entwicklung, die veränderten Erwerbsbiografien und die fortschreitende Globalisierung zwingen uns zu nachhaltigen Veränderungen insbesondere im System der sozialen Sicherung. Deswegen sage ich hier sehr deutlich auch gegenüber den Kritikern: Wer nichts tut, ruiniert die sozialen Sicherheitssysteme über kurz oder lang. Wer wirklich will, dass die Substanz sozialer Sicherung in Deutschland erhalten bleibt, muss sich an die große Aufgabe der Neujustierung dieser Systeme machen. Es wird genau umgekehrt ein Schuh daraus: Diejenigen, die vorwerfen, mit Veränderung schaffe man weniger Sicherheit, haben Unrecht. Recht haben diejenigen, die sagen, dass Sicherheit für eine Vielzahl von Menschen nur durch Veränderung herstellbar ist. Denn überall dort, wo sich die ökonomische Basis einer Gesellschaft in diesem Tempo und Ausmaß wie jetzt verändert, ist es ständige Aufgabe von Politik zu schauen, ob die darauf aufbauenden Sicherungssysteme, Transfersysteme noch in Ordnung sind, ob sie dem rapiden Tempo der Veränderung an der ökonomischen Basis noch entsprechen oder ob sie gegenläufigen Charakter haben.

Es geht also darum, diese Systeme so effizient und so flexibel zu gestalten, dass sie mit dem radikalen Wandel an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft mithalten können. Dabei geht es auch darum, die Funktionsfähigkeit dieser Systeme in Zukunft sicherzustellen. Für diesen Ansatz haben wir in wirtschaftswissenschaftlichen Kreisen immer Unterstützung beim Rat gefunden. Keine Frage. Wir haben häufig diskutiert, was geht, was von den Erkenntnissen sofort umsetzbar ist und was angesichts der Schwierigkeiten in einer so verfassten Gesellschaft wie unserer und auch in einem so verfassten politischen System wie unserem möglich ist. Ich denke nur an die Machtbalance zwischen Zentralstaat und Ländern. Was ist also in welchen Zeiträumen von den Erkenntnissen und Vorschlägen umsetzbar? Ich glaube, dass wir im Prinzip wissen, dass die Analyse, die Sie gemacht haben, stimmt und die Folgerungen, die Sie daraus gezogen und uns vorgeschlagen haben, in die richtige Richtung gehen. Wir versuchen, damit Schritt zu halten.

Die Forschungsinstitute haben in ihrem Frühjahrsgutachten die "Agenda 2010" als Schritt in die richtige Richtung bewertet. Mitglieder des Sachverständigenrats haben das auch getan. Internationale Organisationen unterstützen diesen Ansatz ebenso. Wir werden ihn wirklich durchsetzen müssen und durchsetzen können, weil die Notwendigkeit einfach unabweisbar ist. Übereinstimmend wird dabei der Senkung der Lohnnebenkosten eine zentrale Rolle zugemessen.

Gelegentlich hat man die Sorge, dass das in aktuellen Auseinandersetzungen übersehen wird, wenn ich etwa an aktuelle Auseinandersetzungen im Osten unseres Landes denke. Ich habe nicht vor, mich in Tarifauseinandersetzungen einzumischen. Das ist nicht meine Aufgabe. Aber ich will wenigstens andeuten, dass es Entwicklungen gibt, die angesichts der Arbeitsmarktlage im höchsten Maße besorgt machen. Ich hoffe, dass die Tarifparteien zu einer Regelung kommen, die gesamtwirtschaftlich verträglich ist. Das gilt für das ganze Land. Das gilt allemal in besonderer Weise natürlich für den Osten des Landes.

Die Arbeitnehmer empfinden im Übrigen ebenso wie die Arbeitgeber die Lohnnebenkosten als ein Problem. Es ist ein großer Irrtum, bei dem einen oder anderem Kritikpunkt an der "Agenda 2010" zu denken, dass die Senkung der Lohnnebenkosten nur eine Herzensangelegenheit der Unternehmen und ihrer Vertreter sei. Das ist ganz falsch. Wenn man nicht will, dass die aktiv Beschäftigten - und das ist Gott sei Dank die übergroße Mehrheit unseres Volkes - wirklich im wahrsten Sinne des Wortes sauer über den stetigen Anstieg ihrer Beitragsleistungen werden, wenn man nicht will, dass sie sich überlegen, ob sie aus den solidarischen Sicherungssystemen nicht durch alle möglichen Instrumente fliehen sollen, dann muss einem klar sein, dass die Senkung der Lohnnebenkosten auch im wohlverstandenen Interesse der aktiv Beschäftigten in den Betrieben und Verwaltungen ist. Auch diese wollen ganz schlicht gesagt, vom Bruttogehalt netto mehr in der Tasche behalten. Das ist ein Wunsch und eine Erwartung, die dazu beiträgt, Leistung in Deutschland zu fördern und nicht das Gegenteil dessen.

Wir müssen und werden deshalb alles daran setzen, die Bürde der Sozialausgaben deutlich zu senken. Zudem werden wir rechtliche Beschäftigungshürden abbauen und für mehr Flexibilität und Bürokratieabbau insbesondere zugunsten der kleinen und mittleren Unternehmen sorgen. Das ist auf den Weg gebracht, und wird durchzusetzen sein.

Zusammen mit den bereits beschlossenen Steuersenkungen der nächsten Stufen der Steuerreform wollen wir so die Bedingungen für Wachstum verbessern. Die Bundesregierung geht in ihrer aktuellen Projektion davon aus, dass wir in diesem Jahr auf einen - wenn auch verhaltenen - Wachstumspfad zurückkehren. Nach rund drei Viertel Prozent in diesem Jahr rechnen wir wie auch viele wissenschaftliche Akteure im nächsten Jahr mit einem Wachstum von rund 2 Prozent. Das dürfte erreichbar sein.

Ungeachtet dessen wird die Lage auf dem Arbeitsmarkt aber schwierig bleiben. Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit wird sich deswegen unabhängig von den Wachstumserwartungen und unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung die Reformfähigkeit unseres Landes beweisen müssen. Das von mir vorgelegte Maßnahmenbündel der "Agenda 2010" zielt im Kern darauf ab, Wachstum und Beschäftigung wieder auf Dauer stärker miteinander zu verkoppeln. Wirtschaftliches Wachstum muss künftig rascher und stärker auf dem Arbeitsmarkt Früchte tragen, ohne nicht erreichbare Größenordnungen abzufordern. Dem dienen die strukturellen Reformen, die wir auf dem Arbeitsmarkt in Gang gesetzt haben und weiter durchsetzen wollen.

In der Sprache der Ökonomen heißt das: Die Beschäftigungsschwelle des Wachstums muss dauerhaft gesenkt werden. Das ist unsere zentrale Aufgabe, wenn wir unserer Verpflichtung wirklich nachkommen wollen, im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit Fortschritte zu erreichen. Das ist das eigentliche Ziel der "Agenda 2010" ebenso wie die bereits umgesetzten Vorschläge von Peter Hartz und seiner Kommission.

Für die Umsetzung unserer Reformpolitik braucht es die Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte. Es braucht die Zusammenarbeit mit der Opposition. Es braucht die Zusammenarbeit mit den Verbänden, wenn es denn geht, ohne dass die "Agenda 2010" in Frage gestellt wird. Ein Preis für die Unterstützung dessen, was nötig ist, kann redlicherweise nicht gefordert werden. Es ist an sich eine Verpflichtung eines auf Gemeinwohl orientierten Verbandes, das zu unterstützen, was nach dem Urteil keineswegs nur der Regierung, sondern auch aller Sachverständigen objektiv richtig ist. Wieso man dafür - in welcher Form auch immer - einen politischen Preis einfordert, vermag ich nicht einzusehen. Aber das muss an mir liegen.

Für die Umsetzung brauchen wir also die Unterstützung aus der Gesellschaft. Umfragen zeigen im Übrigen, dass die Menschen eigentlich wissen, dass das, was wir jetzt tun, notwendig ist. Sie wollen es auch. Natürlich wird es immer so sein, dass jemand, der unmittelbar selber negativ betroffen ist, nicht zu den entschiedensten Unterstützern eines solchen Reformkurses gehört. Deshalb ist es ja gerade Aufgabe der kulturellen, der wissenschaftlichen, der ökonomischen, der politischen Eliten eines Landes, unabhängig von der eigenen Betroffenheit Führungsaufgaben wahrzunehmen und zu sagen: Dies muss jetzt sein, und deswegen wird es auch gemacht.

Wir brauchen also eine gemeinsame Kraftanstrengung. Ich bin sicher, dass wir das auch miteinander hinbekommen. Dabei kann und muss die wissenschaftliche Politikberatung ihre Dienste leisten. Das tut sie, und zwar insbesondere der Sachverständigenrat. Ich finde, dass wir deswegen mit Fug und Recht sagen können, dass dieser Sachverständigenrat - und Sie haben auf die Stabilität seiner rechtlichen Grundlagen hingewiesen - in den unterschiedlichen Zusammensetzungen, die er gehabt hat, bis heute wirklich wertvolle Hinweise für Politik gegeben hat. Er hat bis heute auch international beachtete Arbeiten geleistet. Ich bin ziemlich sicher, dass er auch noch in den nächsten 40 Jahren - ich fürchte, dann auch wieder in anderer Zusammensetzung - Hinweise für die Politik geben wird.

Ich habe neulich in einer Zeitung einen wunderschönen Satz von Heinrich Heine gelesen, der mein Verhältnis zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt-wirtschaftlichen Entwicklung in sehr präziser Art wiedergibt: "Anfangs wollte ich fast verzagen, und ich glaubt' , ich trüg es nie. Und ich hab es doch ertragen, aber fragt mich nur nicht wie." In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch! * * * *