Redner(in): Christina Weiss
Datum: 10.05.2003

Untertitel: "Grenzen werden durch Übersetzen überbrückt": Kulturstaatsministerin Weiss betont in ihrer Rede die Bedeutung von Literatur-Übersetzungen als "wichtige kulturelle Leistung".
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/86/485086/multi.htm


Abgrenzung ist ein uraltes Bedürfnis des Menschen, Abgrenzung des Geschlechtes, der Hautfarbe, des Stammes, der Rituale und Zeichensysteme wie der Sprache.

Die Geschichte des Menschen und seiner Kultur ließe sich auch unter dem Leitgedanken "Ich" und "der Andere" schreiben. Das Eigene gegen das Fremde abzusetzen, Grenzen zu ziehen, Grenzen zu bestimmen und zu vermessen, zu sichern und zu verteidigen sind anthropologische Konstanten. Weil sie fundamentalen und archaischen menschlichen Bedürfnissen entsprechen, wäre es sinnlos und gefährlich, sie zu ignorieren."Abgrenzung" von dem, was uns krank macht und zerstört, ist ein zentrales Element von Psychotherapien. Und wegen der anthropologischen Fundierung hat es auch keinen Sinn, Grenzen einfach nur einreißen und abbrechen zu wollen. Das allmähliche Überwinden von Grenzen war und ist ein langwieriger, mühsamer Prozess und eine in ihrem Kern kulturelle und nicht politische oder gar militärische Leistung.

Eine Geschichte der Grenze aus kulturhistorischer Perspektive ist noch nicht geschrieben. Der Limes käme darin vor und die Chinesische Mauer, der Eiserne Vorhang und die Elektrozäune um die Konzentrationslager und der Archipel Gulag, die schreckliche Berliner Mauer natürlich und die Zäune, die Israel von den Gebieten der Palästinenser trennen. Grenzbefestigungen wurden abgebaut und eingerissen, nur um an anderer Stelle wieder neu emporgezogen zu werden.

Die Beseitigung ist stets ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung. Deren Medienwert ist enorm. Das weiß niemand besser als wir Deutschen. Die Kunst, vor allem die Literatur, hat in diesem Zusammenhang, jedenfalls im "alten Europa", immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt. Literatur ist Teil des gewaltfreien kulturellen Prozesses der Relativierung von Grenzen durch Diffusion, ohne dabei die anthropologisch notwendige und sinnvolle Funktion von Grenzen zu ignorieren.

Literatur ist durch ihre Sprachgebundenheit in gewissem Sinne durchaus abgrenzend. Aber diese Abgrenzung durch Sprache ist eine kulturell wichtige, weil politisch unbedenkliche. Wir brauchen die Vielfalt der Sprachen in Europa und in der Welt so, wie wir die Vielfalt der von ihnen getragenen Literaturen brauchen. Zugleich sollten wir aber auch möglichst viele Sprachen beherrschen. Es ist und bleibt ein unvergleichliches Erlebnis, Literatur in der Sprache ihrer Autoren lesen zu können. Da dies auch heute noch, trotz der Weltläufigkeit unserer Zeit und ihrer Bewohner, relativ wenigen gegeben ist, ist das Über-Setzen eine wichtige kulturelle Leistung. Deswegen ist mir die Übersetzungsförderung ein kulturpolitisch so wichtiges Anliegen. Ich freue mich, dass es in diesem Jahr gelungen ist, die Bundesmittel für den Übersetzerfonds nahezu zu verdoppeln. Eine gelungene Übersetzung ist ein Kunstwerk sui generis, eine gelungene Übersetzung ist eine Vermittlungsleistung, die das Fremde ins Eigene überführt oder umgekehrt. Übersetzung ist Grenzerfahrung und Grenzüberwindung.

Aber Grenzen werden durch Über-Setzen nicht gänzlich aufgelöst, sie werden überbrückt. Diese Brücken überstehen auch Zeiten staatlich verordneten Hasses und Zeiten des Krieges, sie überstehen auch viele Versuchen gegenseitiger Zerstörung und Vernichtung. Es gab in der Zeit des Dritten Reiches manche, vielleicht nicht viele, die misstrauten den Parolen ihrer Führer von den slawischen Untermenschen im Osten, die auszurotten oder doch mindestens zu unterjochen seien. Sie misstrauten, weil sie Tolstoi und Dostojewski, Osip Mandelstam und Anna Achmatowa gelesen hatten.

Auch zu Zeiten des Kalten Krieges gab es die großen Brückenbauer und Vermittler wie Karl Dedecius mit seinem Polen-Institut oder Verleger, die sicher waren, dass der Geist am Eisernen Vorhang nicht halt machte und auch jenseits der Todesstreifen und Minengürtel lebte. Manche von ihnen haben um 1990 tiefe Genugtuung erfahren, als die Welt damals erlebte, dass sie Recht gehabt hatten.

Schriftsteller und Poeten respektieren Grenzen und respektieren das andere und Fremde, gerade weil sie die Grenzen von Raum und Zeit ständig überschreiten. Was wir von fremden Ländern und Völkern, Sprachen und Kulturen wirklich erfahren, wissen wir auch in Zeiten der heißen und kalten Kriege nicht von den Massentouristen und aus den Presseämtern, sondern von Journalisten der internationalen Qualitätszeitungen und eben von den Schriftstellern.

Literatur ist ein Gedächtnis und Archiv besonderer Art. Deshalb ist die Vernichtung von Büchern und Bibliotheken ein Frevel, der keine, aber auch gar keine strategischen Vorteile bringt und zu keiner Zeit kriegsentscheidend war. Aber die Zerstörung und Vernichtung trifft ein Volk oder eine Sprachgemeinschaft in ihrem Kern und ihrer Substanz.

Sie werden verstehen, dass ich am 10. Mai in einem Haus der Literatur nicht davon absehen kann, an ein Ereignis zu erinnern, das wie kaum ein anderes unserer jüngeren Geschichte, den Holocaust ausgenommen, von vielen Deutschen und von der Welt als barbarischer Akt empfunden worden ist. Die "bárbaroi" waren für die Griechen übrigens alle diejenigen, die gewissermaßen jenseits der Grenze griechischer Sprache und Kultur lebten, sich also selber ausgrenzten, so wie am 10. Mai 1933 die Nationalsozialisten und die große Zahl ihrer Mitläufer und Sympathisanten Deutschland und die Deutschen für 12 Jahre ausgrenzten.

Diffamierung und Ausgrenzung aber ist niemals und zu keiner Zeit eine legitime Methode der Kulturpolitik. Ich setze als Literaturwissenschaftlerin und als Kulturpolitikerin auf Grenzüberwindung durch Brückenbau. Dazu braucht die Politik die Kunst, vor allem die Literatur, von der man in Zukunft nicht alles fordern, aber manches erwarten darf.