Redner(in): Christina Weiss
Datum: 16.05.2003

Untertitel: "Bei der Begegnung mit anderen Kulturen begreifen wir, dass unser Blick auf die Welt auch ganz anders ausfallen könnte": Kulturstaatsministerin Christina Weiss betont in ihrem Grußwort, dass die Fähigkeit des Umgangs mit anderen Kulturen wichtigste Tugend der Gesellschaft und wichtig für die Zukunft sei.
Anrede: Sehr geehrte Frau Bermúdez, sehr geehrter Herr Botschafter, sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister, lieber Herr Sartorius, lieber Herr Professor Schuster, verehrte Gäste aus Mexiko, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/05/485805/multi.htm


im Jahre 1790 entdeckten Arbeiter auf dem Marktplatz von Mexiko-Stadt unter dem Straßenpflaster ein Kunstwerk, das für die Ewigkeit gemacht schien und dann vergessen worden war: den sogenannten Sonnenstein oder aztekischen Kalender. Der mächtige Basaltblock aus dem 15. Jahrhundert stellt die fünf Weltalter der Azteken dar und diente im prähispanischen Mexiko als Kultobjekt und als Grundlage astronomischer Studien.

Der spektakuläre Fund wurde nach der Ausgrabung in die Turmfassade der Kathedrale eingesetzt, um für die Öffentlichkeit weithin sichtbar zu sein. Fast 100 Jahre trotzte der Sonnenstein dort als Teil der Kirche Wind und Wetter und den Schießübungen von Soldaten, bevor er Ende des 19. Jahrhunderts ins Museum kam. Er ist übrigens einer der wenigen Kulturschätze der Azteken, die heute im Martin-Gropius-Bau nicht zu besichtigen sind. Wegen seines Tonnengewichts wäre der Transport zu kompliziert gewesen.

Schon 1792, zwei Jahre nach der Entdeckung, erschien die erste wissenschaftliche Studie über den Sonnenstein. Seitdem haben sich unzählige Wissenschaftler mit der Skulptur beschäftigt und bereiteten den Boden für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Werk.

Octavio Paz hat 1957 dem Sonnenstein ein literarisches Denkmal gesetzt. In einem Gedicht gleichen Titels verbindet der Dichter die aztekischen Mythen mit den surrealen Bildwelten der europäischen Moderne. Den zyklischen Zeitbegriff der Azteken spiegelt Octavio Paz in der Form seines Werkes: Die sechs letzten der insgesamt 590 Verse wiederholen die sechs ersten. Am Ende beginnt das Gedicht wieder von vorn.

Meine Damen und Herren, die Kunst überlebt die Gesellschaften, von denen sie geschaffen wurde. Sie führt uns vom Hier und Jetzt zum Dort in einer anderen Zeit. Und sie öffnet uns Tore zu einer anderen Wirklichkeit.

Die Kunst des alten Mexiko war jahrhundertelang vergessen. Erst die Archäologie und die historische Forschung ebneten ihr den Weg in die Museen und weckten unser ästhetisches Verständnis für ihren Wert. Heute stehen wir staunend und neugierig vor den Zeugnissen der prähispanischen Kulturen Mittelamerikas und sind fasziniert von ihrer Fremdartigkeit. So ist auch das Schicksal des Sonnensteins die Geschichte einer Rehabilitation.

Auch wenn wir heute nur erahnen können, was ein Azteke damals im Angesicht des Steins empfunden haben mag, erkennen wir den Kalender als großartiges Werk der Kunst an. Und wie immer bei der Begegnung mit anderen Kulturen begreifen wir, dass unsere Ordnung der Dinge, unser Blick auf die Welt auch ganz anders ausfallen könnte. Wie sähe wohl unser Begriff von Zeit, wie sähe unser Alltag, unser Arbeitsleben aus, wenn statt des Papstes Gregor der Aztekenherrscher Moctezuma Begründer unseres Kalendersystems geworden wäre? Hätte uns die Verwendung der aztekischen Bilderschrift anstelle unseres Alphabets möglicherweise eine andere Sprache beschert, eine andere Literatur, ein anderes Denken gar? Und wäre sie vielleicht sogar den Anforderungen des Internet und der globalen Waren- wie Informationsströme besser gewachsen gewesen? Auch der Sonnenstein ist übrigens kein reiner Text, den wir einfach lesen könnten, sondern eine Text-Skulptur, ein Werk, das betrachtet und gelesen werden kann.

Meine Damen und Herren, die Beziehungen zwischen Deutschland und Mexiko sind traditionell von herzlicher Verbundenheit geprägt. Kulturbotschafter wie Alexander von Humboldt, Anna Seghers und Egon Erwin Kisch haben uns Mexiko nahe gebracht, deutsche Altamerikanisten haben viel zur Erforschung der Azteken beigetragen. Projekte wie das Kulturfestival mexArtes haben uns auch die zeitgenössische Kunst des Landes präsentiert. Mit der Azteken-Ausstellung werfen wir nun wieder den Blick zurück in Mexikos Vergangenheit. Ich möchte besonders Ihnen, Frau Bermúdez, und unseren mexikanischen Partnerinstitutionen dafür danken, dass sie diese einzigartige Ausstellung in Berlin ermöglicht haben.

Die Azteken-Ausstellung führt uns in ein Land, das der Suche nach Identität und Herkunft mit großer Leidenschaft und Intensität nachgegangen ist. Weil hier nach 1492 zwei völlig verschiedene Kulturkreise zusammentrafen, können wir von Mexikos Weg in die Gegenwart viel lernen für den Umgang mit Differenz, für den Umgang mit dem, was Octavio Paz "Andersheit" nennt. Denn die Fähigkeit, mit "Andersheit", mit anderen Kulturen und Ethnien zu leben, umgehen und kommunizieren zu können, ist eine der wichtigsten Tugenden in unserer Gesellschaft und wird für die Zukunft immer wichtiger werden.

Octavio Paz, Mexikaner und Weltbürger, hat uns für die Herausbildung dieser Tugend ein wunderbares Rezept verschrieben. In einem seiner berühmten Essays schreibt er: "Die Anerkennung der Andersheit bedeutet den Beginn des wahren Verständnisses. Die Brücke zwischen dem Ich und dem anderen bedeutet nicht Ähnlichkeit, sondern Verschiedenheit."

Vielen Dank!