Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.05.2003

Untertitel: Bundeskanzler Schröder: "Wirtschaftliche, technologische und beschäftigungspolitische Höhenflüge sind im wahrsten Sinne des Wortes ohne eine innovative Luft- und Raumfahrt­industrie nicht denkbar. Sie gibt Impulse in viele weitere Branchen und hat damit - ebenso wie der Fahrzeugbau, der Maschinenbau und andere große Industriezweige - eine wichtige Wachstumsfunktion."
Anrede: Sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, sehr geehrter Herr Bischoff, sehr geehrter Herr Hertrich, sehr geehrter Herr Forgeard, sehr geehrter Herr Humbert, meine sehr geehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/73/488073/multi.htm


meinen letzten Besuch hier am Standort Finkenwerder vor gut eineinhalb Jahren habe ich noch in bester Erinnerung. Damals war die Montagehalle an dieser Stelle allenfalls zu erahnen. Ich freue mich, dass in der Zwischenzeit hier so vieles vorangekommen ist. Heute feiern wir mit der Übergabe der Halle den Abschluss einer wichtigen Etappe auf dem Weg zur A380 -Produktion in Hamburg.

Die A 380 setzt zu Beginn des 21. Jahrhunderts neue Maßstäbe für die moderne Luftfahrt. Dabei ist es noch nicht viel mehr als 100 Jahre her, da machte ein deutscher Ingenieur namens Otto Lilienthal erste Flugversuche mit selbstgebauten Hängegleitern. Damit hat er die Menschheit der Realisierung ihres Traums vom Fliegen ein entscheidendes Stück näher gebracht.

Heute ist die Luftfahrt hoch entwickelt und aus unserem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Sie führt die Menschen innerhalb weniger Stunden in weit entfernte Länder und Kontinente. Sie ist als Voraussetzung für das weltweit vernetzte Wirtschaften im Zeichen der Globalisierung unverzichtbar geworden. Und aus eigener Erfahrung als Vielflieger weiß ich, dass der Terminkalender eines Bundeskanzlers ohne Flugzeug und Hubschrauber reines Wunschdenken wäre.

Aber der Fortschritt der modernen Luftfahrt geht weiter, getrieben von den Kräften des globalen Marktes und dem steigenden Bedarf nach immer leistungsfähigeren, immer sparsameren und letztlich immer komfortableren Flugzeugen.

Und in diesem Kraftfeld zeichnet sich für die A 380 eine erfolgreiche Zukunft ab.

Was mich besonders freut, ist, dass schon jetzt über 100 verbindliche Bestellungen für die A380 vorliegen. Die A380 schafft Perspektiven für weitere neue zukunftsfähige Beschäftigung hier in Hamburg-Finkenwerder, am größten Airbus-Standort in Deutschland. 2000 neue Arbeitsplätze sollen direkt bei Airbus entstehen und weitere 2000 im Kreis der Zulieferer, davon etliche in den neuen Ländern. Nicht zuletzt aus diesem Grunde waren ja die Bundesregierung und die Landesregierung von Hamburg gerne bereit, Finkenwerder als A380 -Standort politisch und auch finanziell zu unterstützen.

Meine Damen und Herren,

in den letzten Jahrzehnten hat sich Airbus zu einem Musterbeispiel einer erfolgreichen industriellen Kooperation in Europa entwickelt. Was vor 30 Jahren mit einem lockeren "Joint Venture" zum Bau eines Flugzeugs begann, ist heute ein schlagkräftiges Luftfahrtunternehmen mit einer Modellpalette von eindrucksvoller Vielfalt. Auf dem Weltmarkt für zivile Flugzeuge konnte Airbus zuletzt sogar die Führungsposition übernehmen.

Sicher, die momentane Krise der internationalen Luftfahrt geht auch an Airbus nicht spurlos vorüber. Der internationale Terrorismus stellt nach wie vor eine Gefahr dar. Und ob SARS zu einem globalen Problem wird, kann heute noch niemand genau einschätzen. Aber die internationale Staatengemeinschaft setzt alles daran, dieser Gefahren Herr zu werden.

Auf der anderen Seite steht fest, dass der Globalisierungsprozess unaufhaltsam weitergeht und das Bedürfnis nach Mobilität - denken wir nur an die wirtschaftliche Entwicklung Chinas - weiter zunehmen wird. Bei seiner augenblicklich guten Marktposition und fortschrittlicher Modellpolitik dürfte dieser Trend auch Airbus zuversichtlich stimmen.

Zudem ist Airbus mit dem A400M nun auch der Einstieg in die militärische Luftfahrt gelungen. Ohne der Entscheidung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags vorgreifen zu wollen, bin ich doch zuversichtlich, dass er in seiner heutigen Sitzung grünes Licht für den A400M geben wird. Ein positives Votum wäre ein gutes Signal für Europa, für seine technologische Leistungsfähigkeit und nicht zuletzt für die gemeinsame Verteidigungspolitik. Die kürzlich von Airbus getroffene Entscheidung, den Unterauftrag für die Triebwerke des A400M an das europäische Konsortium zu vergeben, war sicherlich eine wichtige Weichenstellung für eine endgültige politische Zustimmung. Die Triebwerkvergabe an den europäischen Bieter hat mich auch persönlich gefreut, denn sie schafft Beschäftigung in Deutschland, in besonderem Maße in Ostdeutschland. Mit der Auftragserteilung wird die hohe Leistungsfähigkeit der in Brandenburg ansässigen Triebwerkindustrie honoriert.

Aber noch ein anderer Aspekt ist mir von zentraler Bedeutung: Der Zuschlag für das europäische Triebwerk sichert Europas Kompetenz in einem wichtigen Hochtechnologiesektor und hat daher strategische Bedeutung. Er stärkt die Bündelung industrieller und technologischer Kapazitäten in Europa - dies ist ja auch das Konzept, das Airbus selber nach vorne gebracht hat. Was in den Anfängen noch wie ein ordnungspolitischer Sündenfall aussah, hat in den letzten drei Jahrzehnten sein volles Synergiepotenzial entfaltet. Dass Synergien nicht unbedingt an einem Ort gebündelt werden müssen, zeigt das eingespielte Zusammenwirken der 16 Airbus-Standorte in Frankreich, Deutschland, Großbritannien und Spanien eindrucksvoll.

Meine Damen und Herren,

die EADS ist seit ihrer Gründung ein international respektabler Luft- und Raumfahrtkonzern mit über 100.000 Mitarbeitern geworden. Aber noch haben sich die Strukturen nicht in allen Bereichen optimal eingespielt. Dies wird uns derzeit vor allem in der Raumfahrtindustrie bewusst.

Das europäische Ariane-Projekt macht im Augenblick eine schwierige Phase durch. Daher geht es jetzt darum, ein tiefgreifendes Reformkonzept in der europäischen Trägerraketenindustrie gemeinsam umzusetzen. Es ist eine gemeinsame Aufgabe, Ariane wieder zukunftsfähig zu machen und einen eigenen europäischen Zugang zum Weltraum weiterhin zu sichern. Hierfür wird sich die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten nachdrücklich einsetzen.

Meine Damen und Herren,

wirtschaftliche, technologische und beschäftigungspolitische Höhenflüge sind im wahrsten Sinne des Wortes ohne eine innovative Luft- und Raumfahrtindustrie nicht denkbar. Sie gibt Impulse in viele weitere Branchen und hat damit - ebenso wie der Fahrzeugbau, der Maschinenbau und andere große Industriezweige - eine wichtige Wachstumsfunktion. Ich finde es daher bemerkenswert, dass sich nach dem Abflauen der "New Economy" nun wieder verstärkt die Erkenntnis durchsetzt, dass die Industrie der Kern unserer Wirtschaft ist und bleibt.

Die stark arbeitsteilige industrielle Produktion mit immensen Investitionen in Sachwerte schafft ja erst den großen Bedarf nach Dienstleistungen, der allenthalben spürbar ist. Ich habe mich besonders gefreut, dass Industriepolitik auch in Europa wieder zunehmende Aufmerksamkeit erhält, nachdem ich vor gut einem Jahr in Brüssel hierfür verstärkt geworben habe. Die Kommission hat diese Impulse in einer industriepolitischen Mitteilung Ende letzten Jahres aufgenommen, die von den Mitgliedstaaten große Zustimmung erfahren hat. Zuletzt hat der Europäische Rat im März die KOM aufgefordert, ein neues industriepolitisches Konzept zu entwerfen.

Wir müssen europaweite Rahmenbedingungen schaffen, die Europas Industrie zum Blühen bringt, nicht solche, die sie stranguliert. Nur dann werden wir die Lissabon-Ziele erreichen und Europa zum dynamischsten Wirtschaftsraum weltweit machen. Dafür werde ich mich weiterhin im Kontakt mit der Kommission und unseren europäischen Partnerstaaten einsetzen.

Aber der Einsatz für eine gute europäische Industriepolitik ist nur glaubwürdig, wenn wir auch in Deutschland die Rahmenbedingungen entscheidend verbessern. Bei der gegenwärtigen weltweiten Konjunkturschwäche werden die strukturellen Probleme unserer Volkswirtschaft besonders deutlich erkennbar. Gerade in der jetzigen Situation ist klar, dass wir nachhaltige Reformen in Deutschland nicht länger aufschieben können.

Daher habe ich mit meiner Regierungserklärung im März die Agenda 2010 angestoßen, die wir jetzt konsequent umsetzen werden. Die Agenda 2010 ist nicht nur ein Programm für den notwendigen Umbau unserer sozialen Sicherungssysteme. Sie ist vor allem ein Programm, mit dem wir Vertrauen bei Investoren und Verbrauchern schaffen und Deutschland wieder auf Wachstumskurs bringen wollen. Zentrales Ziel der Agenda 2010 ist es, einen neuen kraftvollen und nachhaltigen Beschäftigungsaufbau einzuleiten.

Im Mittelpunkt steht dabei die Senkung der Lohnnebenkosten. Zur Senkung der Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung werden wir das Gesundheitswesen grundlegend modernisieren und dem Wettbewerbsprinzip stärker Geltung verschaffen. Um Spielräume für eine Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu gewinnen, wollen wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verkürzen. Mit der maßvollen Reform des Kündigungsschutzes wollen wir die Hürden für Neueinstellungen zusätzlich senken, ohne die Schutzrechte der derzeit Beschäftigten in Frage zu stellen.

Die in unserer Wirtschaft so wichtigen kleinen und mittleren Unternehmen werden durch niedrigere Lohnnebenkosten und die nächsten Stufen der Steuerreform besonders entlastet. Ferner setzen wir mit dem Small-Business-Act positive Impulse für Kleinstunternehmen. Aber im Gegenzug zu den genannten Veränderungen erwarten wir von der Wirtschaft künftig mehr Flexibilität.

Die Wirtschaft ist in der Pflicht, mehr betriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Es kann nicht sein, dass sich 70 Prozent aller Unternehmen ihrer Verantwortung entziehen und nicht ausbilden. Sollte es hier in den nächsten Monaten keine spürbare Besserung geben, werden wir über gesetzliche Regelungen ernsthaft nachdenken müssen.

Meine Damen und Herren,

ich bin mir sicher, dass die Agenda 2010 in Deutschland eine breite Unterstützung erfährt. Die Menschen spüren, dass Veränderungen notwendig sind, und sie sind auch bereit, Opfer zu bringen. Sie spüren, dass wir nicht immer weiter zu Lasten kommender Generation leben können. Daher bin ich vom politischen, aber auch vom wirtschaftlichen Erfolg der Agenda 2010 überzeugt. Sie wird unsere Wachstumsdynamik stärken, neue Beschäftigungschancen eröffnen und nicht zuletzt - und das ist mir besonders wichtig - unserem Sozialstaat zu einem nachhaltig soliden Fundament verhelfen.

Meine Damen und Herren,

so wie es meine Aufgabe - und die der Bundesregierung - ist, in der Politik innovative Konzepte vorzulegen, müssen Sie dies im Markt für Flugzeuge tun. Man könnte sich an dieser Stelle vielleicht fragen, welches Umfeld die größere Herausforderung bietet. Doch dies will ich Ihnen und mir an dieser Stelle ersparen.

Fest steht, dass schwierige Bedingungen besonders kreative Kräfte freisetzen können. Ich denke, Sie haben mit der Idee für die A380 bereits viel Kreativität bewiesen, und hoffe, dass Sie diesen Kurs bei der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung dieses Flugzeugs beibehalten werden.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und dem Standort Hamburg-Finkenwerder alles Gute für eine erfolgreiche Zukunft.