Redner(in): Christina Weiss
Datum: 11.06.2003
Untertitel: "Nur wer gelernt hat, wie selbst die alltäglich scheinenden Bilder gemacht werden, kann ein eigenes Verhältnis zu ihnen entwickeln, kann abwägen, kann die Chance zur Distanz ergreifen." Kulturstaatsministerin Weiss begrüßt den Erfolg der "Schulfilmwochen" und fordert den weiteren Ausbau von Film- und Medienerziehung.
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/492536/multi.htm
das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Kinos, und alles spricht dafür, dass die audiovisuellen Medien als legitime Kinder des Kinofilms auch das 21. Jahrhundert dominieren werden.
Das bewegte Bild prägt unsere Gesellschaft, deren Stolz es noch immer ist, auf den Fundamenten einer Schriftkultur zu ruhen. Und so stehen wir vor einem Paradoxon: Einerseits versucht unser Bildungssystem - ganz zu recht natürlich - , den Wert des geschriebenen Wortes an die nachfolgende Generation zu vermitteln. Andererseits ist gerade diese Generation wie keine vor ihr geprägt durch Fernsehen, Kino, Video und Internet. Das Handwerkszeug zur intellektuellen Verarbeitung dieses enormen Bilderstroms wird in unseren Schulen indes nicht, oder noch nicht ausreichend vermittelt. Im großen Missverständnis unserer Zeit, das die audiovisuellen Medien allein den Bereichen Konsum, Unterhaltung und Information zuordnet, zirkulieren die entscheidenden Fragen zum Medienverständnis und zum Medienumgang nur im kleinen Kreis: "Wie wird ein Film / ein Video gemacht?","Was zeichnet ihn aus?","Was macht er mit uns?", und vor allem: "Was bewirkt er in uns?". Die Syntax und die Semantik der internationalen Filmsprache bleiben den meisten Nutzern dabei ein Buch mit Sieben Siegeln. - Deutschland leidet unter einer gesamtgesellschaftlichen Film-Lese-Schwäche.
Wie wichtig es ist, die Filmkompetenz vor allem bei der Jugend auf- und auszubauen, verdeutlicht die Bedeutung, die den Neuen Medien, allen voran dem Film, in unserer Gesellschaft inzwischen zukommt. Als das populärkulturelle Leitmedium dominiert der Film unsere Informationsressourcen, gründet zentrale Orientierungsmuster unserer Gesellschaft und formt unsere Vorstellungen von sozialer Realität entscheidend.
Ich denke, die Vermittlung einer Filmkompetenz, die ich als Teil einer übergreifenden Medienkompetenz verstehe, muss unmittelbar am Film ansetzen, im lebensweltlichen Nahbereich, bei den alltäglichen, den standardisierten, den durchformatierten Bildern. Nur wer gelernt hat, wie selbst die alltäglich scheinenden Bilder GEMACHT werden, kann ein eigenes Verhältnis zu ihnen entwickeln, kann abwägen, kann die Chance zur Distanz ergreifen. Dieses Vermögen wird heute immer wichtiger, wird inzwischen doch bereits das Selbstgespräch unserer Gesellschaft zum Gutteil über filmische Bilder vermittelt: über Nachrichten, über "Infotainment" oder auch über Talkshows und Daily Soaps, die längst den Charakter ethnologischer Langzeitstudien angenommen haben.
In Zeiten der Globalisierung formen die Filmbilder aber auch unser Bild von der Welt grundlegend. Sie definieren mehr und mehr die Realität. Dabei werden Grenzziehungen zunehmend verwischt: zwischen Dokumentation und Simulation, zwischen Berichterstattung und Unterhaltung. Und auch hier kann ich nur noch einmal wiederholen: Nur wer etwas über die GEMACHTHEIT von Bildern weiß, kann differenzieren, kann Absichten erkennen, kann auf der Basis von Gründen urteilen.
Filmerziehung, wie ich sie verstehe, ist daher ein Wahrnehmungstraining in doppeltem Sinn: Sie muss dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche die Logik und die Technik der MEDIALEN INSZENIERUNG verstehen. Sie muss zugleich aber auch die Neugier auf neue und neu zu entdeckende Sichtweisen und "Handwerkstechniken" wecken, sie muss auf Formate aufmerksam machen, die nicht dem Mainstream entsprechen und auf die Gefahren manipulierter Weltsicht hinweisen. Filmische Bildung soll aber auch zur Akzeptanz und Einübung einer medialen Mehrsprachigkeit führen, sie soll neue Zugänge schaffen zu den Eigenheiten und Reizen der verschiedenen Dialekte innerhalb der Sprachfamilie des Films.
Ich begreife den Ausbau von Filmerziehung und Filmbildung vor diesem Hintergrund als Herausforderung, die sich gleichermaßen an Kultur- und Bildungspolitik richtet. Wir müssen - auf allen politischen Ebenen - filmische Bildung als Aufgabe der Vermittlung begreifen. Wir müssen für die Filmpädagogik werben und das Bewusstsein für deren Stellenwert schaffen und schärfen: innerhalb der Filmbranche, bei Schulbehörden und Ministerien, bei Rektoren, bei Lehrern und Schülern. Es geht darum, bereits bestehende Möglichkeiten zu nutzen, aber auch neue Wege zu finden. Wir müssen den Film in die Schulen und die Schüler in die Kinos bringen.
Nun bedarf die Vermittlung filmischer Bildung selbstverständlich nicht nur des Werbens, sondern konkreter Angebote. Ein hervorragendes Angebot ist das Projekt "Schulfilmwoche - Lernort Kino", dass das Kölner Institut für Kino und Filmkultur ( IKF ) im vergangenen Jahr zunächst in fünf Bundesländern realisiert hat.
Das Projekt überzeugt nicht zuletzt deswegen, weil es sich um ein flächendeckendes, in den Schulunterricht weitgehend integriertes und methodisch anspruchsvoll gestaltetes Angebot handelt. Es verhilft Kindern und Jugendlichen zu einer Perspektive auf das Medium Film, die über den bloßen Konsum hinausgeht und differenzierte Blicke für Stoffe, Aussagen, Bildersprache und den Kontext von Filmen eröffnet. Kurz: Die "Schulfilmwochen" leisten einen Beitrag zur Beantwortung der Frage "Wie wird Film gemacht?".
Im Pilotjahr 2002 haben in den fünf beteiligten Bundesländern über 160.000 Schülerinnen und Schüler und über 6.000 Lehrerinnen und Lehrer an den "Schulfilmwochen" teilgenommen. Dabei haben sich rund 250 Kinos beteiligt. Viele -gerade jüngere - Kinder gaben an, zum ersten Mal überhaupt im Kino gewesen zu sein. Das scheint mir ein durchaus bemerkenswerter Aspekt, denn das Kino ist als Wahrnehmungsort, als spezifischer Raum der Vermittlung integraler Bestandteil der Filmkultur.
Die große Resonanz, die die "Schulfilmwochen" gefunden haben, sind ein fulminanter Erfolg. Er belegt das Potenzial derartiger Projekte der Filmerziehung, zeigt aber zugleich auf, wie notwendig sie sind. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Personen und Institutionen zu danken, die gemeinsam mit meiner Behörde die "Schulfilmwochen" unterstützt haben: der Bundeszentrale für politische Bildung, der Filmförderungsanstalt, den Kino- und Verleihverbänden und den verschiedener Einrichtungen der Länder. Ich begrüße insbesondere, dass die Bundesländer politisch und finanziell hinter dem Projekt stehen. Ein Miteinander von Bund und Ländern ist Voraussetzung dafür, Vorhaben dieser Bedeutung und Reichweite zu einem dauerhaften Erfolg zu verhelfen.
Wir planen gemeinsam mit unseren Partnern das Projekt "Schulfilmwoche" deutschlandweit als kontinuierliche Institution zu etablieren. Wir beabsichtigen, eine Einrichtung aufzubauen, die als ständiges Netzwerk zwischen Schulen, Filmtheatern und dem Angebot der Filmverleiher fungiert. Neben den zeitlich begrenzt stattfindenden Schulfilmwochen würde dies Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit geben, das ganze Jahr über passend zum Lehrplan Filme auszuwählen und die Fortsetzung des Unterrichts mit den Mitteln des Kinos zu betreiben.
Eine derartige Einrichtung könnte später auch koordinierend und fördernd bei vielen weiteren Projekten der Film- und Medienerziehung wirken. Die Schulfilmwochen in ihrer heutigen Form könnten dann beispielsweise einmal im Jahr in einer besonderen Woche als gemeinsames, bundesweites Filmfest gefeiert werden, bei dem sich Schüler und Lehrer mit Filmemachern und Schauspielern im Kino treffen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass wir innerhalb eines solchen Rahmens Brücken zwischen Schulen und Filmhochschulen bauen, beispielsweise in Form von Partnerschaften. Das kreative Potenzial an unseren Filmhochschulen ist enorm und hat eine breite Aufmerksamkeit verdient. Und für Schülerinnen und Schüler wäre es sicherlich reizvoll, die Schreibwerkzeuge des Films - Kamera, Mikrofon und Schneidetisch -aus erster Hand kennen zu lernen.
Wenn wir in Deutschland - mit neidischem Blick auf Frankreich - den fehlenden Status des Films als Kulturgut beklagen, müssen wir auch bereit sein, Beiträge zur Entwicklung des Filmbewusstseins in unserem Land zu leisten. Dazu gehören Projekte wie die "Schulfilmwoche". In einigen Staaten Europas ist die Filmerziehung bereits fester Bestandteil des nationalen Bildungssystems geworden - mit zum Teil beeindruckendem Erfolg. Das sollte uns ermutigen, und ich werde mich dafür stark machen, dieses Thema auch auf die politische Agenda in Europa zu setzen. Kino soll Schule machen - nicht nur in Deutschland.