Redner(in): Christina Weiss
Datum: 13.06.2003

Untertitel: Anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung "Widerstand und Opposition in der DDR" im Paul-Löbe-Haus in Berlin zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 erinnerte Kulturstaatsministerin Christina Weiss an die blutige Niederschlagung des Aufstandes in der DDR. Gleichzeitig würdigte sie den 17. Juni 1953 als Schlüsseldatum in der Geschichte von Widerstand und Opposition.
Anrede: Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, lieber Egon Bahr, sehr geehrter Herr Prof. Schäfer, sehr geehrter Herr Dr. Eckert, verehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/07/493207/multi.htm


meine Damen und Herren,

auf dem Kalenderblatt der Politik springt in diesem Jahr der 17. Juni besonders ins Auge. Der Tag des brutal niedergeschlagenen Arbeiteraufstandes in der DDR jährt sich zum fünfzigsten Mal, und wir werden dieses Jubiläum mit würdigen wie ritualisierten Gesten begehen. Wir werden Gedenkreden halten, Kongresse veranstalten und Kränze an den Gräbern der Opfer niederlegen. Das Fernsehen erinnert an die mutigen Frauen und Männer, die Verlage überschütten uns mit Neuerscheinungen.

Und doch hat dieser Tag im Gedächtnis der Deutschen leider keinen festen Platz mehr. Manche Historiker sprechen gar von einem verblichenen Datum, das sperrig und schwierig geblieben sei. Im Osten lange tabuisiert, als Angriff der Konterrevolution verfälscht und als faschistischer Putsch verleumdet, im Westen oft als Feiertag mit Badeausflug missverstanden, so schrieb sich das vielleicht wichtigste Datum ostdeutschen Freiheitsdranges ins kollektive Bewusstsein. Gerecht ist man diesem Tag nie geworden. Eine Revolution vollzog sich ohne politisch-taktische Ouvertüre, schwoll an, riss die Massen mit wie Sedimente von den Ufern. In diesen Stunden im Juni 1953 war die deutsche Einheit nahe wie nie, Ulbricht & Co. entpuppten sich als Marionetten von sowjetischen Gnaden, die die Feigheit vor dem eigenen Volk in die Kommandantur der Roten Armee trieb. Wenn wir über Widerstand und Opposition in der DDR sprechen, dann müssen wir von diesem Tag ausgehen. Um ihre Macht zu erhalten, tat die SED alles, damit sich die Szenen vom 17. Juni niemals mehr wiederholten. Man sperrte ein ganzes Volk ein, bespitzelte es, förderte die Duckmäuser und verhaftete die Aufmüpfigen. Das perfide Überwachungssystem verstümmelte die Seele der Menschen. Jeder Hauch einer Opposition wurde zerstört. Repressalien erlitt, wer nicht hymnisch auf den Sozialismus schwor. Es blieb der Rückzug ins Private, für einige aber auch die Hinwendung zum Widerstand von unten.

Dieser Widerstand kennt viele Beispiele, und es ist gut, dass diese Ausstellung das Widerstreben zum Thema hat, die Verweigerung, die Unterwanderung, den Freiheitssinn. Es stimmt eben nicht, dass nur überleben konnte, wer einfach hinnahm und sich heute nur noch an ein gutes, schönes, ruhiges Leben erinnert. Es gab sie, die Opposition in der DDR. Lange vor 1989, zu Zeiten, als Ungehorsam Lebensgefahr bedeutete. Wir eröffnen heute auch eine Ausstellung gegen die Verklärung, die immer neue Produkte produziert und sich dem geschlossenen Kosmos der DDR mit westlicher Gewissheit nähert. Jeder Fahnenappell, jeder DDR-Geburtstag kann heute auch als harmlose Partygeschichte erzählt werden, als ginge es darum, ein Reich der Belanglosigkeiten zu beschreiben. Mich macht froh, dass es gerade die "Zonenkinder" sind, die in Vorträge der Stiftung Aufarbeitung strömen, Webseiten der Birthler-Behörde anklicken, die Broschüren der Bundeszentrale für politische Bildung bestellen und Ausstellungen wie diese besuchen. Doch auch die West-Kinder sollten lernen, was die DDR wirklich war, jenseits von Honecker-Lounge, Spreewaldgurken und Multifunktionstischen. Die andere DDR ist ein Reich der Entdeckungen, ein aufregendes Beispiel dafür, welche Kraft die Sehnsucht nach Freiheit, Mündigkeit und Demokratie freisetzen kann. Gleichwohl darf man dabei nicht verkennen, welchen Preis die Mutigen und die Couragierten zu zahlen hatten. Man kennt die Berichte aus den Stasi-Gefängnissen, man weiß, in welch abscheulicher Weise Honecker auf Verhaftungen von Regimegegnern reagierte: "Weg mit dem Zeug!" Wer heute den damals eingekerkerten und später abgeschobenen Liedermacher Stephan Krawczyk danach befragt, was denn für ihn geblieben sei von der damaligen DDR, der erhält zur Antwort: "Das Gefühl der Angst. Immer wieder." Dann erzählt er die Geschichte, wie er im Stasi-Knast in Hohenschönhausen unter vergittertem Himmel seine Runden drehte, nebenan seine damalige Frau Freya Klier vermutete und voller Mut ausrief: "Freya, ich liebe dich." Die Angeflehte rief zurück: "Halte durch!" Der Posten hoch über seinem Kopf lud das Maschinengewehr durch - und führte ihn zurück in seine Zelle.

Meine Damen und Herren, seit nunmehr elf Jahren ist der 17. Juni leider kein Feiertag mehr. Man stelle sich einmal vor, die Franzosen würden den Jahrestag des Sturmes auf die Bastille nicht mehr feiern. Der 17. Juni wurde einfach abgeschafft. Noch immer existiert kein Denkzeichen in der Berliner Karl-Marx-Allee, wo der Aufstand einst begann und wo sich heute für Schulklassen etwas Authentisches über die Ereignisse, die vor fünfzig Jahren ein ganzes Land erschütterten, in Erfahrung bringen ließe. Wie ich höre, trägt sich der Deutsche Gewerkschaftsbund mit der Absicht, dort eine Steinzeile zur Erinnerung an die Menschen zu errichten,"die den Mut zum Streik und politischen Widerstand gegen die Diktatur hatten". Das wäre wirklich ermutigend.

In diesem Jahr bietet sich die Chance, den Deutschen diesen wichtigen Tag zurückzugeben. Mit Stolz sollte man sich dieses unbewaffneten Aufstandes erinnern, der gegen eine Regierung gerichtet war, die denjenigen das sozialistische Elysium versprach, die sich schön an die Regeln hielten. Aber die Demonstranten wollten nicht mehr gehorchen, sondern verlangten freie Wahlen und hofften auf ein geeintes Deutschland."Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein", erscholl der Ruf auf der Stalinallee und wurde durch ein ganzes Land getragen. Der Streik war in diesem Staat, der behauptete, für die Arbeiter und Bauern geschaffen zu sein, nicht vorgesehen, sondern verboten. Um so mehr sollten wir nicht nur in diesem Jahr den außergewöhnlichen Mut der Männer und Frauen des 17. Juni rühmen, von denen viel zu viele zu Unrecht vergessen oder namenlos geblieben sind.

Die Wanderausstellung "Widerstand und Opposition in der DDR", die vom Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig in enger Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte in Bonn vorbereitet wurde, zeigt ein Land im Ausnahmezustand, bettet das Datum aber ein in die Geschichte des Aufbegehrens gegen das kommunistische Regime in Ostdeutschland. Gerade weil der 17. Juni das Fundament für die friedliche Revolution von 1989 und für die deutsche Einheit darstellt, darf das, was sich vor einem halben Jahrhundert in Ost-Berlin, Magdeburg, Leipzig, Halle oder Jena ereignete, nicht nur die Ostdeutschen angehen. Die Chronik der SED-Diktatur ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Dafür sind nicht nur die neuen Länder zuständig. Ich kann es daher nur begrüßen, dass auch einige westdeutsche Städte diese Ausstellung zu sich eingeladen haben und vor allem junge Menschen unter den Besuchern waren. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses der Geschichte und insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig für diese Lehrstunde in Demokratie, ich danke dem Deutschen Bundestag dafür, dass er die Ausstellung in seinen Räumen zeigt.

Ich wünsche dieser Ausstellung ein breites wie aufgeschlossenes Publikum und uns, dass wir die namenlosen Aufständischen nicht nur in Sonntagsreden oder Schulstunden rühmen. Der 17. Juni 1953 zeigt uns, was es bedeutet, Demokratie zu wagen.