Redner(in): Christina Weiss
Datum: 16.06.2003

Untertitel: "In diesem Jahr bietet sich die große Chance, diesen Tag dem Gedächtnis der Deutschen zurückzugeben. Und zwar als das, was er war: als Erhebung eines Volkes gegen eine anschwellende Diktatur."
Anrede: Sehr geehrter Herr Dr. Knabe, sehr geehrter Herr Wiesehügel, sehr geehrter Herr Jeschonnek, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/14/493814/multi.htm


im Prinzip nähern wir uns heute dem 17. Juni 1953 von seinem Ende her. An diesen Ort, einem weißen Fleck auf der Landkarte der DDR, gelangten die Anführer des Aufstandes, des Marsches gegen das Unrecht. Hier wie in anderen berüchtigten Gefängnissen erduldeten sie die peinigenden Verhöre, überstanden die zersetzenden Methoden, mit denen ihnen abenteuerliche Geständnisse abgepresst werden sollten. Die Stasi versuchte die Lüge von der ferngesteuerten "Provokation" aus den Häftlingen herauszufoltern. Wer nur zu gestehen hatte, dieses vermeintliche Paradies der Arbeiter und Bauern abzulehnen, geriet in die Hölle. Wir lesen in diesen Tagen oft genug Berichte und Reportagen von Eingekerkerten, die sich erst jetzt trauen, ihr Schweigen zu brechen. Von tiefen Selbstzweifeln erzählen sie, von bitteren Depressionen und nicht selten auch vom Gedanken an den Freitod. Viele, sehr viele Demonstranten bezahlten für ihren Mut und ihren Freiheitssinn einen hohen Preis, einige sogar mit ihrem Leben. Der Aufstand offenbarte, wie sehr die Regierung das Volk verachtete, eine weltfremde Politik traf auf den sachkundigen Blick der Arbeiter. Heute weiß man, dass die Aufbruchparolen und Gerechtigkeitsutopien der jungen DDR die wahren Verhältnisse nur kaschierten. Unter der Tapete mit den frischen wie entschlossenen Gesichtern der kommunistischen Jugend bröckelte die Wand des Systems. Brutaler Terror trieb viele außer Landes, Zehntausende wurden Opfer willkürlicher Verhaftungen, das tägliche Leben forderte Verzicht - in jeder Hinsicht.

Wir nähern uns einem großen Tag in der deutschen Geschichte, über den der Hallenser Schriftsteller Jochen Ziem schrieb: "Ihr wisst, ich habe lange auf diesen Tag gewartet. Jetzt war er da und er ist vorbeigegangen, bevor mir auffiel, dass er es war, auf den ich gewartet habe." Im Jubiläumsjahr wird der Tag anders als sonst ins kollektive Bewusstsein zurückgeholt. Die Medien überschlagen sich mit Sonderausgaben, Verlage publizieren immer neue Geschichtsbücher, die Fernsehsender wetteifern mit Dokumentationen, Spielfilmen und Thrillern um ein aufgeschlossenes Publikum. Vor einem Jahr war das noch ganz anders, da sprachen Historiker schon von einem verblichenen wie sperrigen Datum. In diesem Jahr bietet sich die große Chance, diesen Tag dem Gedächtnis der Deutschen zurückzugeben. Und zwar als das, was er war: als Erhebung eines Volkes gegen eine anschwellende Diktatur. Es wäre schön, würde der 17. Juni 1953 nicht mehr länger nur in den Dienst von Parteipolitik gestellt. Dieses Datum eignet sich nicht dafür, nach Nützlichkeit untersucht zu werden, sondern dazu, Nachdenken zu provozieren: über den historischen Moment, über das Lawinenhafte der spontanen Selbstwehr, über den Mut zur eigenen Meinung, über die Kraft zum Widerspruch, über die Deutschen. Nach fünfzig Jahren lässt sich die Dimension dieses Tages langsam neu ermessen. Mit archäologischem Gespür versuchen wir die lässigen Überpinselungen historischer Legendenmalerei zu beseitigen und das Bild von Resten der Ratlosigkeit und der Irritation zu befreien. Stück für Stück bekommt das Bild eine neue Kontur. Es sind so viele Geschichten hinter den alt gewordenen Gesichtern, die zum ersten Mal erzählt werden, weil kein Verbot sie mehr blockiert. Es sind Erinnerungen, Erlebnisse und Eindrücke, die gegen eine einzige Deutungshoheit ins Spiel gebracht werden. Ein Volk hatte sich erhoben, enttäuscht von einem Staat, der ihm das sozialistische Elysium versprach. Der Osten bog sich skrupellos die Lüge vom faschistischen Putsch zurecht, im Westen sah man dahinter eine inszenierte Aktion, die von Moskau aus gesteuert sei. Der Erhabenheit des Augenblicks wurde kaum jemand gerecht, weil sich eben niemand vorstellen konnte, dass ostdeutsche Arbeiter von sich aus streikten, auf die Straße gingen, die Rücknahme der Normerhöhung verlangten, freie Wahlen forderten, Häftlinge aus Gefängnissen befreiten, SED-Funktionäre verprügelten und die rote Fahne vom Brandenburger Tor holten. Der Ruf "Kollegen, reiht euch ein, wir wollen freie Menschen sein" berührt uns noch heute tief. Heute kennen wir seine dynamische Wirkung, wir wissen auch, wie schwer sich die Intellektuellen mit diesem Datum taten. Zum Beispiel hängt auch Thomas Mann in seinem Tagebuch dem Gedanke an, die Arbeiter-Revolte sei nichts weiter als eine gezielte Provokation. Wir lesen bei Christa Wolf von befremdlichen wie erschrockenen Momenten aus Leipzig. Sie registriert "eine Kälte in allen Sachen. Die kommt von weit her, durchdringt alles. Man muss ihr entweichen, ehe sie an den Kern kommt." Erst Ende der achtziger Jahre beschreibt Christa Wolf ihre Wahrnehmung präziser: "Ich habe damals niemanden gefunden, der mir diesen Ausbruch von Destruktionslust, den ich am 17. Juni beobachtet habe, erklären konnte. Ich kam am Abend dieses Tages nach Hause mit einer Handvoll Parteiabzeichen, die ich von der Straße aufgelesen hatte. Mir wurde bewusst, auf einer wie dünnen Decke wir gingen." Mit ihrer Nachdenklichkeit hebt sich die Schriftstellerin noch ab von den Ergebenheitsadressen im "Neuen Deutschland", von den Beschimpfungen, die die Arbeiter zu erdulden hatten. Wer kann den Text des Dichters Kuba vergessen, der an die Adresse der Aufständischen folgendes schrieb: "Schämt ihr euch so, wie ich mich schäme? Da werdet ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird." Und Brecht antwortete dem eifernden Kuba: "Wenn das Volk das Vertrauen seiner Regierung verscherzt hat, wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählt ein anderes?"

Meine Damen und Herren, in der Bewertung der Ereignisse von vor fünfzig Jahren sind sich Dachdecker und Dichter noch immer nicht unbedingt einig. Es gibt Dichter, die immer noch von Agenten sprechen, die den Arbeitern damals den Kopf verdreht hätten. Und der Dachdecker schüttelt noch immer den Kopf, weil er doch eine ziemlich klare Vorstellung von einem Spion hatte und hat: "Solche haben doch zwei linke Hände, das hätten wir gemerkt."

Es freut mich sehr, dass sich die "Langen Nacht des 17. Juni" nicht nur der Dokumentation, sondern vor allem auch der Künste bedient. Kunst kann Wahrnehmung trainieren oder, wie Heißenbüttel sagt, etwas knackt auf im Gehirn und färbt nach innen. Vielleicht löst die Sinfonie, die wir heute abend hören werden, etwas in uns aus, vielleicht bleibt uns eine Spielszene im Gedächtnis, vielleicht packt uns die multimediale Erzählung der Ereignisse. Alles ist gut, um die Kühnheit dieses Tages in allen Facetten zu erfassen. Es ist Günter Jeschonnek zu danken, einen intellektuellen Zugang zu diesem Thema gefunden und in eine Konzeption umgemünzt zu haben. Danken möchte ich aber auch dem Komponisten Leon Buche, der Choreographin Heike Henning, Sebastian Fleitner für seine Videoinstallation. Ich danke allen, die mit Kreativität bei der Sache waren, um dem 17. Juni 1953 ein ungewöhnliches Denk-Mal zu setzen. Wir sollten uns an diesem Abend einlassen auf ein Kommunikationsspiel mit den Zeichen der Künstlerinnen und Künstler, die etwas anderes bedeuten können als die Zeichen unserer Alltagssprache. Auf Werke, die an Grenzen eröffnen, die Irritationen in uns auslösen. Auf die Chance zur Befreiung und darauf, dass uns die Begegnung mit der Kunst für einen Moment von unserer eigenen, fest gefügten Welt absehen lässt.

Ich danke aber auch Hubertus Knabe und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die mit ihrer Arbeit einen anderen Blick auf den geschlossenen DDR-Kosmos werfen. Es ist ermutigend, dass gerade junge Besucher dabei sind, unter den Schichten der verklärten Behaglichkeit nach Werten zu suchen, die die andere Gesellschaft im deutschen Osten ausgezeichnet haben: Mut und Freiheitssehnsucht, Phantasie und Energie, das Wagen von Demokratie, das Einfordern von Menschenrechten. Wir kennen die Geschichten derer, die die Frage nach der Zumutbarkeit für sich beantworteten. Wir kennen auch die gnadenlosen Reaktionen darauf. Was bleibt nach Jahren in Hohenschönhausen, das hat der Liedermacher Stephan Krawczyk beschrieben: "Das Gefühl der Angst. Immer wieder."

Erinnern wir uns also, werten wir vor allem die Mutigen von damals auf. Der 17. Juni 1953 ist kein Tag, der sich für verlegene Gesten eignet. Es ist ein Tag, den wir mit Selbstbewusstsein und mit Stolz begehen sollten. Es ist ein Anlass, der uns immer wieder klar werden lässt, wie wichtig der Mut zur eigenen Meinung auch in der Demokratie immer wieder ist. Wir sollten diesen Tag, an dem es um die Mündigkeit ging, feiern wie die Franzosen den Sturm auf die Bastille. Und dort, in Paris, sprach auch Albert Camus auf einer Kundgebung im Juni 1953 vielen aus dem Herzen und einigen aus der Seele: "Liebe Kameraden! Wir sind hier erschienen, weil Berliner Arbeiter riskieren, verraten zu werden, nachdem sie beschossen worden sind, und zwar von derselben Hand, von der sie doch Solidarität erwarten durften. Die Erhebung von Arbeitern, die in Berlin und in der Tschechoslowakei sich weigern, ihre Normen erhöhen zu lassen und die logischerweise freie Wahlen verlangen, diese Erhebung, sollte sie uns nicht eine Lehre sein. Und wenn irgendwo auf der Welt ein Arbeiter mit nackter Haut sich gegen einen Panzer stellt und ruft, er sei kein Sklave: Wer sind wir denn, um gleichgültig zu bleiben!"

Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Vielen Dank!