Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.06.2003

Untertitel: Bundeskanzler Schröder: "Aber es ist kein Zustand, wenn ein Ausbildungssystem, das Betriebsräte wie Unternehmensleitungen, das Politiker wie Pastoren als weltweit vorbildlich hinstellen, nämlich das duale Ausbildungssystem, dadurch kaputtgemacht wird, dass nur 30 Prozent der Betriebe wirklich ausbilden und sich 60 Prozent bis 70 Prozent vor dieser Verpflichtung gegenüber unseren jungen Leuten drücken."
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/495613/multi.htm


Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Betriebsversammlung von "Ford" am 23. Juni 2003 in Köln

lieber Dieter Hinkelmann,

sehr geehrter Herr Mattes,

herzlichen Dank für die Möglichkeit, meinen Geburtstagsgruß persönlich abzuliefern. Ich tue das gerne, weil ich natürlich auch neugierig bin, was sich in den letzten drei Jahren seit meinem ersten Besuch hier im Werk verändert hat. Ich meine dies nicht nur personell, sondern auch im Hinblick auf die Produkte und auf die Chancen und Fähigkeiten für die Beschäftigten in diesem Unternehmen, für sich und vielleicht für die, die danach kommen, vernünftige wirtschaftliche Perspektiven hier in Köln, hier bei Ford, zu erhalten.

Dieter Hinkelmann hat bei seiner Begrüßung auf eines stolz hingewiesen, was ich unterstreichen will, was aber zum Nachdenken anregen dürfte. Er hat ganz stolz darauf hingewiesen, dass Betriebsrat und Unternehmensleitung in den 90er-Jahren zwei Investitionssicherungsverträge ausgehandelt, unterschrieben und umgesetzt haben. Ich habe mich gefragt: Was ist eigentlich Kern eines solchen Investitionssicherungsvertrages? Den macht man - so denke ich jedenfalls - als Betriebsratsvorsitzender, als Betriebsrat, wenn man spürt, dass ohne einen solchen Investitionssicherungsvertrag die Perspektiven für das Werk schlechter und nicht besser werden, wenn man spürt, dass in einem weltweit tätigen Unternehmen, wie Ford das ja ist, ansonsten Produktion von hier weg- und anderswohin geht. Das ist also der Sinn eines solchen Investitionssicherungsvertrages.

Das heißt im Klartext: Man macht aus dem Standort Köln einen Bewegungsort Köln, in dem sich Geschäftsleitung, Betriebsrat und Beschäftigte hinbewegen zum Ziel, Investitionen hier zu ermöglichen, es zu ermöglichen, dass die Investitionen nicht in anderen Betrieben in der Welt eines global tätigen Konzerns, sondern hier in Köln entstehen.

Warum sage ich das? Nicht nur, um mein Lob für einen solchen Vertrag auszudrücken, der ja geholfen hat, die Beschäftigtenzahl zu halten, sondern auch um deutlich zu machen, dass wir, dass ich im Moment nichts anderes versuchen und durchsetzen muss. Einen Investitionssicherungsvertrag für Deutschland macht man natürlich in anderer Zusammensetzung, aber man ist dabei genauso darauf angewiesen, dass verstanden wird, warum, und dass geholfen wird, dass es gelingt, einen solchen Investitionssicherungsvertrag für Deutschland zu schließen, damit die Investitionen aus dem Inland, aber auch aus dem Ausland in Deutschland stattfinden und nicht anderswo. Genauso wie Ford global tätig ist, ist die Volkswirtschaft Deutschlands, unser aller Volkswirtschaft, einer weltweiten Konkurrenz ausgesetzt. Daher brauchen wir einen Investitionssicherungsvertrag für Deutschland, daher muss Deutschland von einem Standort zu einem Bewegungsort werden. Ich will erklären, was damit gemeint ist.

Der Herr Ministerpräsident hat darauf hingewiesen: Wir machen das nicht, weil uns nichts anderes einfiele, sondern weil wir es tun müssen. Wir haben zwei Entwicklungen, die Druck auf unsere sozialen Sicherungssysteme ausüben:

Erstens. Herr Steinbrück hat es deutlich gemacht - wird unsere Gesellschaft älter, die Menschen leben länger. Wenn man wie ich fast 60 Jahre alt ist, dann ist das eine schöne Perspektive. Aber das hat natürlich Auswirkungen auf die Sicherungssysteme. Bislang stand ein Aktiver mit seinen Beiträgen und denen, die das Unternehmen zahlt, für drei Rentner gerade. In zehn Jahren werden es zwei sein. Die Belastungen werden also größer, weil die Gesellschaft älter wird.

Zweitens. Wir haben uns internationaler Konkurrenz in einem Maße zu erwehren, wie das niemals zuvor der Fall war, und zwar nicht, weil wir schlechter geworden wären - das ist überhaupt nicht der Fall - , aber schon, weil die anderen besser geworden sind. Nicht Deutschland hat verloren, sondern die anderen haben gewonnen, an Fähigkeiten und an wirtschaftlichen Möglichkeiten. Das drückt auf die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Wenn man an Investitionen hier im Lande denkt, muss die Konsequenz daraus sein, für Deutschland das durchzusetzen, was eure Betriebsräte mit eurer Unterstützung im Unternehmen durchgesetzt haben.

Was ist Ziel? Damit komme ich auf seine Forderungen zurück. Ziel ist es, die sozialen Sicherungssysteme, also Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung, für diejenigen, die sie brauchen, sicher zu machen und für diejenigen, die aktiv beschäftigt sind - das ist Gott sei Dank die Mehrheit in unserem Land - , bezahlbar zu halten. Ziel ist es, für die Aktiven dafür zu sorgen, dass nicht über die Steigerung der Lohnnebenkosten, die sie durch ihre Beiträge zur Hälfte bezahlen, vom Brutto, das sie verdienten, netto immer weniger übrig bleibt. Das ist der Punkt, um den es uns gehen muss und gehen wird. Wenn man sagt: Wir wollen für die aktiv Beschäftigten, für die, die in den Fabriken und in den Verwaltungen ihre Pflicht tun, die Lohnnebenkosten ebenso senken wie aus internationalen Wettbewerbsgründen für die Unternehmen, dann führt kein Weg daran vorbei, das zu tun, was wir uns vorgenommen haben und was ich durchsetzen werde, nämlich den Umbau der sozialen Sicherungssysteme, nicht um sie loszuwerden, sondern um sie wirtschaftlich erhalten zu können; denn das ist die Voraussetzung.

Was bedeutet die Tatsache, dass dabei die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe und die Interessen der aktiv Beschäftigten im Vordergrund stehen müssen? Das bedeutet z. B. , dass man nicht sagt: Wir schröpfen die aktiv Beschäftigten, indem wir die Steuerfreiheit, die es bei der Nacht- und Schichtarbeit gibt, beschneiden. Diese Nacht- und Schichtarbeit ist ja gerade Ausdruck von Beweglichkeit der Beschäftigten, denn sie verrichten sie ja bzw. müssen sie verrichten. - Das werden wir also nicht tun. Ich jedenfalls will das nicht, meine Damen und Herren.

Aber wenn wir das nicht tun, dann kann ich nicht einfach einen Strich unter eine andere Forderung machen. Ich habe verstanden - ich bin darauf in allen Unternehmen der Automobilbranche angesprochen worden - , dass wir eine andere Situation haben, seitdem das Rabattgesetz gefallen ist. Ich habe verstanden, dass sich diejenigen, die hier direkt beschäftigt sind und ihre Autos direkt vom Unternehmen kaufen, ungerecht behandelt fühlen, wenn sie erfahren, dass es inzwischen üblich ist, mit dem Händler Rabatte auszuhandeln, die dann natürlich nicht als geldwerter Vorteil besteuert werden, dass das aber mit dem eigenen Unternehmen nicht möglich ist.

Wir wollen darangehen. Ich habe das mit dem Finanzminister auch besprochen. Ich kann jetzt keine Zusage machen, dass wir das über Nacht ändern. Denn ich weiß natürlich, welche Schwierigkeiten er hat. Er hat, wenn z. B. die andere Sache so bleiben soll, wie sie ist - und sie soll bleiben - , enorme Schwierigkeiten, den Haushalt auszugleichen. Aber wir müssen Wege finden, dass diese Ungerechtigkeit, die in dem besteht, was ich eben erläutert habe, jedenfalls nicht auf Dauer bestehen bleibt. Mehr an Zusagen sollte ich fairerweise nicht geben; denn ich will in drei Jahren wieder kommen und dann das gehalten haben, was ich gesagt habe, und nichts anderes.

Ich rede von dem Investitionssicherungsvertrag für Deutschland. Was heißt das? Das heißt, dass wir z. B. ausufernde Kosten im Gesundheitswesen in den Griff bekommen müssen. Wir müssen diesbezüglich zu Sparsamkeit kommen, und das wird alle betreffen. Das betrifft natürlich die Patienten, aber genauso klar ist - da unterscheiden wir uns von der anderen Seite - : Das muss auch diejenigen betreffen, die sich als Ärzte oder Apotheker ebenfalls dem Markt aussetzen. Man darf nicht sagen: Alle sind dran, die Beschäftigten, die Unternehmen, aber diejenigen, die als Ärzte und Apotheker Leistungen erbringen, werden außen vor gelassen. Das genau wird nicht geschehen. Wir werden also das Gesundheitssystem so in Ordnung bringen, dass die Kassenbeiträge, von denen Sie ja auch die Hälfte zu zahlen haben, nicht weiter steigen, sondern dass sie sinken. Das nutzt der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie und das nutzt Ihnen, was die Nettoeinkommen angeht.

Ich komme zu dem zweiten Punkt, den wir uns vorgenommen haben. Das ist die Frage: Wie kommen wir in Deutschland als dem Land, das am meisten für die Finanzierung von Arbeitslosigkeit ausgibt, endlich dahin, dass wir diese Hunderte von Milliarden eben nicht mehr zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit ausgeben müssen, sondern zur Finanzierung von Arbeit ausgeben können? Um das zu erreichen, müssen wir die Bundesanstalt für Arbeit umbauen. Im Mittelpunkt dessen, was sie tut, muss Vermittlung in Jobs stehen, und derjenige, der einen Job angeboten bekommt und ihn nicht annimmt, der muss auch mit Folgen rechnen, was die Zahlung von Arbeitslosengeld angeht. Dies werden wir durchsetzen, weil das im Interesse der Beschäftigten und in niemandes anderen Interesse ist, meine Damen und Herren.

Außerdem müssen wir aus der Sozialhilfe, die die Kommunen zahlen, und aus der Arbeitslosenhilfe, die das Arbeitsamt zahlt, eine Leistung machen. Das schafft bessere Möglichkeiten. Und wir müssen in diesem Zusammenhang auch zu Einsparungen kommen, um aus Wettbewerbsgründen auch hier in der Perspektive die Lohnnebenkosten nicht ansteigen zu lassen, sondern sie zu senken.

Der dritte große Bereich, den wir vor uns haben, ist das, was wir Flexibilisierung der Arbeitsmärkte nennen. Wir müssen dazu kommen, dass z. B. mit Hilfe der Betriebsräte festgelegt werden kann, wer bei einer sozialen Auswahl, wenn sie denn sein muss, was zu sagen hat.

Wir haben also drei riesige Bereiche vor uns, in denen wir Veränderungen anpacken müssen, nicht um diese Bereiche zu zerstören, sondern weil wir und im Grunde alle im Volk erkannt haben, dass, wenn nichts reformiert wird, die Sicherungssysteme an ihrer Unfinanzierbarkeit kaputtgehen werden.

Ich will, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, gerade vom Europäischen Rat in Thessaloniki in Griechenland kommend, zwei Dinge sagen, die auf das antworten, was Herr Mattes hier an Rahmenbedingungen eingefordert hat.

Wir haben in Griechenland, nachdem wir zuvor in Kopenhagen die Erweiterung der Europäischen Union beschlossen hatten, dieser erweiterten Union - jedenfalls in den Grundzügen - eine neue Verfassung gegeben. Vor dieser Erweiterung muss niemand Angst haben. Worum es dabei geht, ist, dass es auch in Osteuropa wachsende Märkte gibt, die es ganz gut vertragen, wenn hier in Deutschland und anderswo gebaute Automobile dort gekauft werden können. Europa zusammenzuhalten, ist eine Frage friedlicher Entwicklung auf unserem Kontinent, ist aber vor allen Dingen eine Frage der ökonomischen Entwicklung. Denn wo denn sonst, wenn nicht in den relativ entwickelten Märkten Ost- und Südosteuropas sollen künftige Absatzchancen liegen?

Diese Märkte werden wir aber nur für unsere Produkte erschließen können, wenn die Europäische Kommission in Brüssel versteht, dass es nicht nur Aufgabe Europas ist, sich um einen ordentlichen Umweltschutz zu kümmern - das ist hier eine Selbstverständlichkeit - und sich um integrierte Finanzmärkte zu kümmern. Nein, es gilt zu wissen - das muss in die Köpfe der Bürokraten in Brüssel hinein - , dass die Produktion z. B. von Automobilen, aber auch von anderem in der Chemie, in der Grundstoffindustrie, im Maschinenbau, die Basis dessen ist, was unser ökonomisches Wohlergehen ausmacht.

Das ist der Grund, warum ich zusammen mit Tony Blair und Jacques Chirac der Kommission mitgeteilt habe, dass Deutschland als die größte Volkswirtschaft Europas darum kämpfen wird, dass in Brüssel eben nicht nur Umwelt- und Finanzpolitik gemacht wird, sondern verstanden wird, dass eine differenzierte Industrieproduktion, eine differenzierte Automobilindustrie nicht durch ewig neue Vorschriften kaputtgemacht werden darf, sondern dass sie unterstützt werden muss, zum Wohle der Unternehmen und zum Wohle der Beschäftigten in den Unternehmen.

Ein Weiteres betrifft Fehler, die nicht hier gemacht worden sind, die allerdings in anderen Unternehmen sehr wohl gemacht worden sind. Dabei geht es um Ausbildung, besser: um unterlassene Ausbildung. Ich habe mir aufschreiben lassen und gelernt, dass die Ausbildungsanstrengungen von Ford gut sind. - Übrigens, Herr Mattes, nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser werden könnte. Das muss man in diesem Zusammenhang auch einmal sagen. - Aber es ist kein Zustand, wenn ein Ausbildungssystem, das Betriebsräte wie Unternehmensleitungen, das Politiker wie Pastoren als weltweit vorbildlich darstellen, nämlich das duale Ausbildungssystem, dadurch zerstört wird, dass nur 30 % der Betriebe wirklich ausbilden und sich 70 % vor dieser Verpflichtung gegenüber unseren jungen Leuten drücken.

Das kann nicht so bleiben, meine Damen und Herren, und deshalb fahren wir den Kurs, den Unternehmen zu sagen: Wenn ihr eure Pflichten nicht freiwillig erfüllt, dann muss die Politik im Interesse unserer jungen Leute handeln. Für diesen Kurs bitte ich um Unterstützung in den Betrieben, in den Unternehmen, aber auch in unserer Gesellschaft. Denn wir sind es unseren jungen Leuten schuldig, dass sie nach der Schule eben nicht auf der Straße stehen, sondern durch Ausbildung und spätere Arbeit eine Perspektive bekommen. Das sollte uns gemeinsam verbinden, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

Ich will zum Abschluss sagen: Das was wir uns jetzt als Investitionssicherungsvertrag für Deutschland vorgenommen haben, so wie ihr es in eurem Unternehmen gemacht habt, das ist keine vergnügungssteuerpflichtige Veranstaltung. Aber es ist eine notwendige Veranstaltung. Sie dient den Unternehmen in Deutschland, sie dient vor allen Dingen den aktiv Beschäftigten in Deutschland. Und deren Interessen und deren Arbeitsmöglichkeiten stehen für uns, für mich nach wie vor im Vordergrund.

Das wollte ich Ihnen versichern. - Und im Übrigen: Bis demnächst in drei Jahren.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.