Redner(in): Christina Weiss
Datum: 04.08.2003

Untertitel: Kulturstaatsministerin Weiss begrüßt die Teilnehmer des 69. Weltkongresses der International Federation of library association and institutions (IFLA) in Berlin und würdigt dabei die Rolle der Bibliotheken als Zentren der Wissensvermittlung und der Wissenschaft.
Anrede: Sehr geehrte Frau Deschamps, sehr geehrter Herr Dr. Ruppelt, sehr geehrter Herr Bürgermeister, verehrte Gäste aus aller Welt, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/37/505837/multi.htm


im Namen der Bundesregierung begrüße ich Sie herzlich zu dieser Tagung in Berlin. Ich freue mich sehr, dass die IFLA ( IFLA = International Federation of library association and institutions ) mit ihrem 69. Weltkongress zu Gast bei uns in Deutschland ist. Sie haben sich mit Berlin einen idealen, sehr inspirierenden Tagungsort ausgesucht: An jeder Straßenkreuzung, an und in den vielen historischen Gebäuden und Plätzen ist hier die deutsche Geschichte mit all ihren Brüchen und Widersprüchen erkennbar und ablesbar. Ich möchte Sie also alle einladen, die wenigen Kongresspausen für Erkundungszüge zu nutzen und mit offenen Augen durch diese Stadt zu gehen. Ich kann Ihnen versprechen, es lohnt sich!

Auch in der Entwicklung des deutschen Bibliothekswesens haben ja die Verwerfungen der deutschen Historie Spuren hinterlassen. So kam es erst sehr spät zur Gründung einer Bibliothek, die für die Sammlung der nationalen Literatur verantwortlich war - nämlich erst 1912, als die Deutsche Bücherei Leipzig gegründet wurde. 1990 wurde sie - auch das ein Spiegelbild der deutschen Geschichte - mit der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main zu der Einrichtung "Die Deutsche Bibliothek" vereinigt. Ein weiteres Beispiel ist die Staatsbibliothek zu Berlin, die Sie auch besuchen und kennen lernen werden - eine geteilte, nun vereinigte Bibliothek, deren Standorte sich räumlich über all die Jahre des geteilten Deutschlands so nahe waren wie eben auch die Menschen der Stadt und der beiden deutschen Staaten.

Seit 13 Jahren ist Deutschland wiedervereinigt und ein mitteleuropäischer Staat mit offenen Grenzen, in dem zahlreiche ausländische Bürgerinnen und Bürger leben und arbeiten. Wir haben gelernt, über staatliche Grenzen hinweg zu denken und wachsen in ein gemeinsames Europa hinein. Bei diesem Prozess kann die Rolle und Bedeutung der Kultur gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als Literaturwissenschaftlerin und als Kulturpolitikerin bin ich überzeugt, dass Austausch und Kommunikation, die Verständigung auch über Sprachbarrieren hinweg, im Kern kulturelle Leistungen sind. Daran sind auch die Literatur als Informationsträger und somit auch die Bibliotheken als Institution beteiligt.

Die deutschen Bibliotheken sind längst auf dem Weg in ein bibliothekarisches Europa - sie können auf erprobte Zusammenarbeit und gemeinsame Projekte zurückblicken. Schon lange findet ein Erfahrungsaustausch im internationalen Rahmen statt, gefördert unter anderem von der EU. Zahlreiche Entwicklungen sind überhaupt nur durch kooperative Lösungen möglich geworden, und gerade in unserem Zeitalter, in dem elektronisch, netz- und weltweit verfügbar publiziert wird, spielen die partnerschaftlichen Strukturen eine immer größere Rolle. Für Bibliotheken ist die Kooperation im europäischen und internationalen Kontext heutzutage - im Zeitalter der Globalisierung - selbstverständlich.

Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass Bibliotheken auch lokal, vor Ort wirken und auftreten, sei es als Stadtbücherei für die Bürgerinnen und Bürger einer Stadt oder als Universitätsbibliothek für die Studierenden und Lehrer. Sie halten Informationen bereit und beraten den Informationssuchenden. Doch es steckt mehr dahinter als die Vermittlung einer Ansammlung von Buchstaben - Literatur bringt die Welt zum Denken, sie regt die Fantasie an. Ich erinnere daran, dass Thomas Mann das Buch ein Gefäß des Geistes nannte. Bibliotheken in aller Welt vermitteln nicht nur Informationen, sondern zugleich Lesekompetenz. Sie legen das Fundament, auf dem sich Bildung und Orientierung entwickeln, gerade auch für Kinder und Jugendliche.

Daneben stehen Archivbibliotheken, die z. B. als Nationalbibliothek das "Gedächtnis der Nation" sein sollen und das Schrifttum eines Landes für künftige Generationen aufbewahren. Umso schlimmer, wenn, wie gerade im Irak geschehen, die Nationalbibliothek geplündert und brutal zerstört, niedergebrannt wird! Die Zerstörung und Vernichtung trifft ein Volk, eine Sprachgemeinschaft in ihrem Kern und in ihrer Substanz. Denn in Büchern und Bibliotheken, in der Literatur liegen unsere kulturelle Intelligenz und unsere kulturelle Identität.

Bibliotheken sind Zentren des Wissens und der Wissensermittlung. Sie, die Sie als Bibliothekarinnen und Bibliothekare in aller Welt arbeiten, stehen für eine Institution, die freien Zugang zu einer Vielfalt an Informationen, Meinungen und Ideen bieten kann, die ihren Lesern ermöglicht, Lesekompetenz als Kulturtechnik mit Schlüsselfunktion zu entwickeln. Sie beraten und sorgen für die Qualitätskontrolle, Sie reduzieren die Menge des Informationsangebots für den Einzelnen so sinnvoll, dass er nicht Hilflosigkeit empfindet, sondern seine persönlichen Interessen aufgehoben sieht.

Goethe sagte: "Welchen Leser ich mir wünsche? Den unbefangensten, der mich, sich und die Welt vergisst und in dem Buche nur lebt." Der verständliche Wunsch eines Autors und deutschen Nationaldichters. Sie als Bibliothekare leben nicht versunken im Buch, sondern suchen den Austausch, sonst wären Sie nicht zu dieser Konferenz gekommen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich hier austauschen und weiterbilden können, neue Impulse bekommen. Lernen Sie in Berlin ein Stück Deutschland kennen, das Sie, wie ich hoffe, so fasziniert, dass Sie gerne einmal wiederkommen.

Vielen Dank!