Redner(in): Christina Weiss
Datum: 18.08.2003

Untertitel: Als Patin eines Konzertes des Gustav-Mahler-Jugendorchesters im Konzerthaus am Gendarmenmarkt beschreibt Kulturstaatsministerin Weiss in ihrer Einführung die Rolle der musischen Bildung für Jugendliche.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/55/512755/multi.htm


Sehr geehrte Frau Dr. Minz sehr geehrter Herr Dr. Steul, liebe Musikerinnen und Musiker, lieber Ingo Metzmacher, verehrtes Publikum... mag auch die Gegenwart, nämlich das heutige Konzert des Gustav-Mahler-Jugendorchesters unter der Leitung von Ingo Metzmacher, uns Schönes, Anregendes, Aufregendes bescheren - so möchte ich Sie doch bitten, mit mir in die Vergangenheit zu schauen. Genauer gesagt: in das Jahr 1937. In diesem Jahr nämlich erscheint ein Roman, der deutlich wie kaum ein zweiter die gefährlichen politischen Tendenzen seiner Zeit beschreibt - und quer durch den moralischen Weltzustand schnitt.

Ich spreche von Ödön von Horvaths Erzählung "Jugend ohne Gott". Es ist dies, viele hier im Saal werden das bestätigen können, ein packendes, aufgrund seiner Schonungslosigkeit niederschmetterndes Buch. Der Humanist Horvath begibt sich darin, gleichsam ex negativo, auf die Suche nach den Idealen der Menschheit. Diese Ideale, wir wissen das, wurden in jener Zeit brutal mit Füßen getreten; sie wurden beschmutzt, letztlich desavouiert. Folgerichtig findet sie Horvath nicht. Aber er stellt schroff und unvermittelt eine Frage, die bis heute ohne Antwort geblieben ist: Wie konnte es dazu kommen, dass so viele junge Menschen in diesen Höllenschlund gezogen wurden? Wie konnte es dazu kommen, dass die Jugend derartig verrohte?

Noch heute suchen wir nach einer plausiblen Antwort und wissen doch nur zweierlei. Erstens: Es fehlten dieser Jugend die richtigen Vorbilder. Und zweitens: Es hat zur Zeit des NationalsozialismusŽ immerhin einige Menschen gegeben - unter ihnen nicht wenige Künstler - , die nicht zu Mitläufern und Mitmördern wurden, die Vorbildfunktionen übernahmen, indem sie politisch-ästhetische Gegenpositionen formulierten. Diese Menschen, diese Künstler versuchten - sie wagten den Widerstand! Auch wenn dieser Weg sie nur in die innere Emigration trieb...

Einer von diesen Künstlern war der Komponist Karl Amadeus Hartmann. Wer einmal seine aufwühlenden Symphonien, die Streichquartette oder auch das Opus "Ghetto" gehört hat - der weiß, wie sehr Hartmann die Zustände seiner Zeit klingend reflektierte. Hartmanns Musik reagierte - und agierte - stets direkt, mit aller denkbaren Schroffheit: ganz so, wie es Horvath mit Worten unternahm. Das "Concerto funebre" für Solo-Violine und Streichorchester, das wir heute Abend hören werden, ist ein Beispiel für diese Direktheit.

Hartmann komponierte das Werk 1939 und widmete es seinem damals vierjährigen Sohn Richard. Seinen heutigen Titel erhielt das Violinkonzert zwar erst 1959, als der Komponist es revidierte. Doch schon in der ersten Fassung nannte sein Schöpfer es eine "Musik der Trauer". Damit jedoch ist nur eine Seite der Medaille geschaut. Denn diese "Musik der Trauer" ist mehr, ist anderes noch als ein Menetekel in vier Sätzen. Diese Musik ist ein klares Bekenntnis zur Humanität. Sie ist ein Appell!

Mögen auch manche Skeptiker meinen, dass solche musikalischen Bekenntnisse nicht vermittelbar seien damit von zweifelhaftem Wert... Ich bin überzeugt, dass genau das Gegenteil wahr ist. Wie anders, als durch solche nationenübergreifende, sprachlose Sprachgewalt, sollte man humanistische Botschaften in diese so vielsprachig-sprachlose Welt entsenden? Kein empfindsamer Mensch kann sich der Eindrücklichkeit einer solchen Botschaft verschließen, wie sie Hartmanns Opus birgt. Vor allem dann nicht, wenn sie von solch hochmögenden Interpreten überbracht wird, die wir gleich bewundern dürfen.

Als Patin dieses Konzertabends bin ich in der glücklichen Lage, das Lob schon vorab ohne Wenn und Aber verteilen zu dürfen. Gar nicht glücklich bin ich hingegen über eine Entwicklung, die nicht nur der famosen Grundidee des Festivals "Young Euro Classics", sondern dem tradierten Kulturbegriff selbst zuwiderläuft. Alle beklagen die Bildungsmisere in unserem Land - aber nur wenige tun etwas dagegen. Ein Beispiel: Die jungen, hochbegabten Musiker, die heute abend für uns spielen, haben eine sehr gute Ausbildung genossen. Wäre dies nicht der Fall gewesen, sie säßen nicht hier. Wie aber sollen solche Leistungen möglich sein, wenn der Musikunterricht an vielen Schulen bereits ab der sechsten Klasse schlicht nicht stattfindet? Wie soll der Nachwuchs des Nachwuchses motiviert werden, wenn nicht einmal die Grundbedingungen einer solchen Motivationshilfe gewährleistet sind? Wie, um es drastischer zu formulieren, soll man die Musik eines Karl Amadeus Hartmann, eines Olivier Messiaen oder eines Gustav Mahler verstehen, wenn man sie nicht kennen lernt?

Ich denke, wir müssen diesen Circulus vitiosus durchbrechen, und das möglichst schnell! Die Initiative dazu muss in den Kommunen selbst entstehen. Denn Kultur ist Ländersache, so schreibt es das Grundgesetz nun einmal vor. Doch Kultur ist zugleich weit mehr als eine institutionalisierte Angelegenheit: Kultur ist, und das zuallererst, Menschensache. Ohne Kultur, also auch ohne Musik, wäre unser Leben arm. Arm an Schönheit, arm an Reiz, arm an Dialogstoff. Und genau darum, meine Damen und Herren, muss es uns gehen: mit aller Macht, mit allen Mitteln zu verhindern, dass unsere Jugend ohne Bildung, ohne Kultur aufwächst. Ein Höllenschlund könnte auch sie verschlingen!

Ich wünsche Ihnen ein so schönes wie aufrüttelndes Konzert.