Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 26.08.2003

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Eröffnung der Ausstellung "Gerhard Kettner – Zeichnungen" am 26. August 2003 Dresden (Villa Eschebach)
Anrede: Sehr geehrte Frau Giebe, sehr geehrter Herr Giebe, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/14/517214/multi.htm


Gerhard Kettner wäre am 10. August dieses Jahres 75 Jahre alt geworden. Er starb vor fast genau zehn Jahren. Gerhard Kettner gehört ganz zweifellos zu denjenigen, die in Deutschland die Kunst des Zeichnens nachhaltig geprägt haben.

Kettner hat seine Kunst in der Tradition von Otto Dix und Hans Theo Richter entwickelt und diese Tradition, vor allem auch als Lehrer, lebendig erhalten und weiter getragen.

Die Arbeiten seiner Dresdner Meisterschüler - Stefan Plenkers, Johannes Heisig, Ellen Fuhr, um nur einige zu nennen - sind Zeugnis für den bleibenden künstlerischen Einfluss Gerhard Kettners.

Und sicher ist es ganz wesentlich auf Kettners Wirken zurückzuführen, dass Dresden einen solch herausragenden Platz als Heimat und Schule des Zeichnens einnimmt.

Heute haben wir es seiner Tochter Marlies Giebe, ihrem Mann Hubertus sowie der Volksbank / Raiffeisenbank Dresden zu verdanken, dass das Publikum sich ein Bild von dem reichen Werk des Künstlers machen kann.

So entsteht ein sehr beeindruckender Überblick über das, was Kettner mit den sparsamen Mitteln des Zeichnens seinen Motiven "abgerungen" hat.

Es ist ja oft darauf hingewiesen worden, welche Reduktion auf das Wesentliche der Zeichner zu betreiben hat. Manche haben das Zeichnen deshalb auch als "die Tugend in der Kunst" bezeichnet.

Denn der Zeichner kann nicht in Farbe schwelgen oder sich in Andeutungen ergehen. Plastische Wirkung muss er mit wenigen, strengen Mitteln erzielen. Die eigentliche Aussagekraft der Zeichnung ", hat Gerhard Kettner denn auch gesagt," geht von den ungezeichneten Stellen aus."

In diesen Zeichnungen findet sich häufig etwas Melancholisches, auf jeden Fall ein tiefer Ernst.

Wie für Käthe Kollwitz oder Honoré Daumier, für Matisse und Cézanne, an denen er sich in bestimmten Phasen seines Schaffens orientiert hat, gilt das auch für Gerhard Kettner.

Und mehr noch als in seinen Landschaftsbildern oder den thematischen Szenen, mehr noch als in seinem Blatt zur Zerstörung Dresdens finde ich diese Ernsthaftigkeit und Intensität in seinen Porträts.

Wie Kettner sich etwa an dem Schauspieler Rolf Hoppe oder dem Bildhauer Ernst Drake buchstäblich "abgearbeitet" hat, das steht der großen Porträtmalerei oder -fotografie in nichts nach.

Meine Damen und Herren,

die Arbeit des Zeichners ist eine der ständigen Entscheidungen. Drei, vier Striche bestimmen oft über den Charakter, den das Werk am Ende haben wird.

Übermalen gilt nicht, neues Licht oder neue Perspektiven durch neue Schichten von Farbe stehen dem mit Schwarz und Weiß arbeitenden Zeichner nicht zur Verfügung.

Er sei deshalb, hat Kettner einmal sinngemäß gesagt, ganz und gar von der "sichtbaren Welt" geprägt: "Ich kann nichts illustrieren." Und das meinte er schon so, dass er auch die Ideen anderer nicht illustrieren könne und wolle.

Genau dies aber - die Entscheidungen, die er abseits seiner Kunst getroffen hat, und das "Sich-in-den-Dienst-Stellen" für die Ideen anderer - ist es, das Gerhard Kettner auch zu einer umstrittenen Persönlichkeit gemacht haben.

Er ist bereits 1969 in die SED eingetreten und hat bis 1988 dem Ministerium für Staatssicherheit der damaligen DDR als "gesellschaftlicher Mitarbeiter" zugearbeitet.

Einige, auf deren Urteil ich Wert lege, darunter auch Künstlerfreunde, haben mir wegen dieser, Zitat: "gefährlichen Nähe", die Kettner zum Regime gesucht habe, ausdrücklich davon abgeraten, an der heutigen Ausstellungseröffnung teilzunehmen.

Wie Sie sehen, habe ich mich anders entschieden. Ich denke aber, man darf zu den in Rede stehenden Vorwürfen nicht schweigen.

Gerhard Kettner war in der Geschichte nicht der erste Künstler, der eine gewisse Nähe zur Macht gesucht hat. Eine solche Nähe ist wohl selbst dann problematisch, wenn die Macht nicht in der Weise inhuman und diktatorisch ist, wie das in der früheren DDR der Fall war.

Wir können Kettner nicht mehr zu seinen Motiven befragen und sollten deshalb mit abschließenden Urteilen äußerst vorsichtig sein.

Er selbst hat es wohl so dargestellt - und in dieser Überzeugung folgen ihm einige seiner Freunde und Schüler - , dass er ohne Parteimitgliedschaft und die entsprechenden Kontakte zur Staatssicherheit seine Lehrtätigkeit als Rektor der Hochschule für Bildende Künste in Dresden nicht hätte ausüben können.

Diese Fürsprecher betonen, welch großer Gewinn Kettners Rektorenschaft für seine Studenten gewesen sei - vor allem in der Nachfolge seines berüchtigten Vorgängers, der selbst in der Aktzeichnung noch die "korrekte politische Haltung" eingefordert habe.

Andere widersprechen dieser Auffassung. Sie sagen, es habe zu jener Zeit noch keinen "systembedingten Druck" zur Mitarbeit in Partei und / oder Staatssicherheit gegeben. Kettner hätte auch ohne diese Nähe Gutes bewirken können.

Ich halte es für beinahe ausgeschlossen, in dieser Sache endgültig gerecht zu urteilen. Ich selbst bin ganz gewiss nicht geeignet - und werde es mir deshalb auch nicht anmaßen - , hier zu richten.

Wer dem - vermeintlichen oder tatsächlichen - Druck jenes Regimes nicht ausgesetzt war, wer für sich selbst nicht entscheiden musste, welchen Kompromiss er meinte eingehen zu müssen, der hat auch kein Recht, für sich in Anspruch zu nehmen, er hätte dieser Versuchung widerstehen können.

Sich in dieser Situation so oder so verhalten zu haben, sagt sich leichthin - insbesondere, wenn man in jenem Staat nicht leben musste, und erst recht, wenn der Betroffene nicht mehr gehört werden kann.

Ich denke aber, dass solche, vorsichtig formuliert: "gebrochenen" Biographien wie die Gerhard Kettners uns allen nur Anlass sein können, den hohen Wert zu schätzen, den es hat, in einer freien Gesellschaften aufwachsen und sein Leben gestalten zu können - auch das künstlerische Leben.

Die Kunst braucht die Macht nicht. Und wehe der Macht, die meint, die Künste missbrauchen zu dürfen.

Meine Damen und Herren,

wir könnten es uns in dieser Diskussion auch einfach machen. Nämlich, indem wir den Satz des Philosophen Friedrich Nietzsche zitieren, der anlässlich seines Zerwürfnisses mit dem Komponisten Richard Wagner - unter anderem wegen dessen anti-semitischer Ausfälle - gesagt hat: Man tut auch in diesem Falle gut daran, den Künstler von seinem Kunstwerk zu trennen."

Das ist sicher ein richtiger, ein gültiger Satz. Dennoch sollte uns auch ein Tag wie der heutige Gelegenheit sein, über Kunst und Herrschaft, über die Verstrickungen eines Künstlerlebens aufrichtig nachzudenken und zu sprechen. Aufrichtig " allerdings sollte diese Diskussion schon sein. Und vor allem: Sie sollte sich hüten vor der Falle der Selbstgerechtigkeit.

In diesem Sinne wünsche ich uns eine auch über den Tag hinaus anregende Beschäftigung mit Gerhard Kettner und seiner Kunst.

Ich danke Ihnen.