Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 09.11.1999
Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/11738/multi.htm
Erinnern feiern am Brandenburger Tor - lautet das Motto des großen Europäischen Jugendfestes. Dazu sind 1000 junge Leute aus Deutschland und 28 weiteren Nationen nach Berlin gekommen. Ich grüße Sie alle sehr herzlich!
Erinnern feiern am Brandenburger Tor - dazu sind wir heute, sind Sie, liebe Berlinerinnen und Berliner und viele Gäste aus dem In- und Ausland hier zusammengekommen. Auch Sie grüße ich sehr herzlich.
Meine Damen und Herren,
der 9. November ist für uns Deutsche ein ganz besonderer Tag, ein geschichtsträchtiger Tag. Kaum ein anderes Datum symbolisiert Stolz und Schmerz, Licht und Dunkel in der Geschichte unserer Nation so sehr wie der 9. November.
Es ist der Tag, an dem 1918 die erste Deutsche Republik ausgerufen wurde - ein paar hundert Meter von hier entfernt.
Es ist der Tag, an dem 1923 Hitler einen ersten Anschlag auf die noch junge deutsche Demokratie verübte.
Es ist der Tag, an dem 1938 Deutsche in verbrecherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogen anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Bürger zerstörten und Menschen nur deshalb töteten, weil sie jüdischer Abstammung waren.
Es ist schließlich aber auch der Tag, an dem sich 1989 die Mauer nach mehr als 28 Jahren öffnete. Für die Berliner, für uns Deutsche in Ost und West und für die Menschen in ganz Europa begann damit ein neuer Abschnitt in der Geschichte.
Dieser Tag markiert einen Wendepunkt für unser Land - einen Wendepunkt von europäischer, ja weltweiter Dimension.
Wie sehr dieses Ereignis die Menschen in aller Welt berührt hat - dafür steht, sehr verehrter Maestro Rostropowitsch, Ihr spontaner und unvergessener Auftritt vor 10 Jahren an der Mauer. Herzlichen Dank, dass Sie heute mit uns Erinnern feiern.
Die Bilder, die wir eben noch einmal sehen konnten, bewegen die Menschen, bewegen auch mich noch immer.
Gerne sähe ich auch heute noch etwas von der überschäumenden Freude und dem großen Optimismus von damals.
Ich weiß, dass Hoffnungen enttäuscht und Erwartungen nicht erfüllt wurden. Die Angleichung der Lebensverhältnisse vollzieht sich langsamer, als viele es erhofften.
Gleichwohl: In den 10 Jahren seither haben wir Deutschen viel erreicht. Dennoch: Die innere Einheit ist noch nicht vollendet. Sie ist - wie Fritz Stern kürzlich in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels deutlich machte - "die Vorbedingung für politische Stabilität in der neuen Republik".
Ich sehe es als meine wichtigste Aufgabe als Bundeskanzler an, die innere Einheit unseres Landes endlich voranzubringen.
Dabei vertraue ich auch auf die Stärke und den Willen, die Sie, liebe Berliner, und die die Menschen aus Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Monaten der DDR gezeigt haben.
Meine Damen und Herren, The Wind of Change ", den Michail Gorbatschows Reformpolitik entfacht hatte, machte den Völkern in Mittel- und Osteuropa Mut. Ohne seine Reformpolitik wäre die Entwicklung in Europa so nicht möglich gewesen.
Er hat Raum gelassen für Zivilcourage, mit der die Menschen in der damaligen DDR die deutsche Geschichte um etwas Einmaliges bereichert haben: die Erfahrung, dass friedliche Beharrlichkeit und demokratischer Gemeinsinn Diktaturen zu Fall bringen. Dass Freiheit und Demokratie erkämpft werden müssen - aber dass sie auch erkämpft werden können.
Dass diese Entwicklung möglich wurde, dafür haben wir auch den Völkern in den heutigen Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas zu danken. Wir haben den Polen, den Ungarn, den Tschechen zu danken, um nur wenige zu nennen. Auch sie haben Zivilcourage bewiesen.
Meine Damen und Herren,
zu danken haben wir selbstverständlich auch den damals verantwortlichen Politikern: meinem Vorgänger Helmut Kohl ebenso wie seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher.
Sie haben die historische Chance zur Wiedervereinigung genutzt. Und sie haben zugleich nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Zukunft Deutschlands nur in einem freien Europa möglich ist.
Meine Damen und Herren,
Erinnern feiern am Brandenburger Tor - für mich ist Erinnern das Fundament für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Zukunft.
Mit anderen Worten: Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was früher geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.
Ich bin davon überzeugt, dass sich die heutige Jugend Europas dieser Verantwortung bewußt ist - ob sie aus Finnland oder Spanien, ob sie aus Irland oder Polen kommt.
Das gilt auch für Sie, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Europäischen Jugendfest. Ihre Sprecherinnen und Sprecher haben dies soeben mit ihrem Beitrag eindrucksvoll bewiesen.
Von Ihnen wünsche ich mir dafür, dass Sie sich aktiv für das Zusammenwachsen Europas einsetzen. Für ein Europa der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte.