Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 09.11.1999
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/90/9990/multi.htm
Wenn es ein ganz besonderes Datum in der Geschichte der Deutschen gibt, dann ist das der 9. November. An keinem anderen Tag konzentriert sich die Erinnerung an historische Einschnitte so sehr wie an diesem.
Es ist ein Tag der Freude, aber auch ein Tag der Scham und des Nachdenkens. Ein Tag des Aufbruchs, aber auch ein Tag, an dem, 1938, der Weg in einen Abgrund an Unmenschlichkeit begann.
Nur wer sich diese Zusammenhänge vor Augen führt, wird den heutigen 9. November als das begehen können, was er inzwischen für die Entwicklung in Deutschland und Europa bedeutet: als einen Tag des Triumphes von Freiheit und Demokratie.
Heute vor zehn Jahren waren wir Deutschen, wie der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, es spontan ausgedrückt hat,"das glücklichste Volk der Erde." Das Wort des Tages war: "Wahnsinn". Unbekannte lagen einander in den Armen.
28 Jahre lang hatte die Mauer, dieses "häßlichste Bauwerk Europas", Berlin geteilt. 28 Jahre lang waren die Menschen im Osten unseres Landes eingesperrt. In ungleich härterem Maße als der Westen hatte Ostdeutschland für die Folgen der NS-Diktatur büßen müssen.
Über Jahrzehnte hinweg wurden die Menschen von einer zunehmend ineffektiven Staatswirtschaft um die Früchte ihrer Arbeit gebracht.
Der Staat, den sie sich nicht ausgesucht hatten - übrigens so wenig wie die Menschen im Westen, die das Glück von Marshallplan und Demokratisierung erfuhren - dieser Staat, hielt sie hinter Mauer und Stacheldraht gefangen.
Dagegen und gegen die Bevormundung und Entrechtung hatte sich in den Monaten vor dem 9. November 1989 eine rasch wachsende Massenbewegung gebildet. Von Rügen bis Plauen ließen sich immer mehr Frauen und Männer immer weniger von Polizei und Staatssicherheit einschüchtern.
Zehntausende von DDR-Bürgern stimmten "mit den Füßen" ab. Sie hatten ihre Ausreise beantragt oder durch Flucht über Ungarn und in die Botschaftsgebäude von Warschau und Prag einfach erzwungen.
Am 9. November reagierte die SED-Führung unter Egon Krenz zwar auf das Leben und die Massendemonstrationen. Aber da war es für die SED-Diktatur bereits zu spät.
Privatreisen "nach dem Ausland", verkündete Günter Schabowski an jenem Abend, sollten ab sofort kurzfristig genehmigt werden. Aber die so lange Eingesperrten wollten sich ihre Freiheit von niemandem mehr "genehmigen" lassen.
In jener Nacht machten sie die Mauer zum Gespött und brachten sie so zum Einsturz. Zehntausende von Ostberlinern strömten nach Westberlin; Westberliner strebten in den Osten.
An den Grenzübergängen ging die deutsche Teilung im fröhlichen Gedränge und in Freudentränen unter.
An jenem Abend war der Prozeß unumkehrbar geworden, der zusammenwachsen läßt,"was zusammen gehört" - wie Willy Brandt es so unnachahmlich formuliert hat. Die Deutschen haben sich vereint, noch bevor Deutschland vereinigt wurde.
Gerade weil wir uns auch zehn Jahre danach noch immer auf dem Weg zur inneren Einheit Deutschlands befinden, ist wichtig festzuhalten: Die Mauer wurde nicht in Washington, Bonn oder Moskau zum Einsturz gebracht. Sie wurde von den mutigen und unerschrockenen Menschen eingedrückt, und zwar von Ost nach West.
Ihr Ausruf "Wir sind das Volk!" wurde zu einem mächtigen Symbol für den Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung.
Und mit ihrer Zivilcourage haben die Menschen in der damaligen DDR die deutsche Geschichte um etwas Einmaliges bereichert: die Erfahrung, daß friedliche Beharrlichkeit und demokratischer Gemeinsinn Diktaturen zu Fall bringen.
Daß Freiheit und Demokratie erkämpft werden müssen - aber daß sie auch erkämpft werden können.
Das ist die historische Bedeutung des 9. November 1989. Erstmals in diesem Jahrhundert wurde von Deutschland ein beeindruckendes Signal für Freiheit und Selbstbestimmung nach Europa ausgesandt.
Sicher: Ohne ein Ende des Kalten Krieges, das heißt also: ohne den Reformkurs in der damaligen Sowjetunion hätten die Menschen 1989 ihrem freien Willen nicht so unaufhaltsam Ausdruck geben können.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal ganz persönlich Michail Gorbatschow meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Seine Reformpolitik hat die Entwicklung von Frieden und Demokratie in Deutschland und in ganz Europa entscheidend gefördert.
Auch den großartigen Beitrag unserer Nachbarn und Verbündeten im Westen will ich hervorheben.
Die feste Verankerung Deutschlands im europäisch-atlantischen Bündnis, aber auch die maßgeblich von Willy Brandt eingeleitete Politik der Entspannung gegenüber dem Osten, haben jene Entwicklung ermöglicht, in der die Mauer schließlich ohne jede Gewaltanwendung von den Menschen hinweggefegt werden konnte.
Unser Dank und unsere Anerkennung gelten vor allem auch den Völkern in den heutigen Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas. Ihr mutiger Einsatz für Demokratie und Menschenrechte, aber auch ihre Solidarität und Hilfsbereitschaft waren Voraussetzungen dafür, daß der Widerstand gegen das SED-System schließlich erfolgreich sein konnte.
Aber dieser Widerstand der Ostdeutschen hat auch den Nachbarvölkern Impulse für ihren Kampf um die Freiheit gegeben. Das war der große Unterschied zu jener anderen deutschen Revolution des 9. November, der von 1918. Sie hatte zwar den Krieg beenden und die Monarchie zum Abdanken zwingen können, es aber nicht vermocht, eine stabile Demokratie in Deutschland zu etablieren.
Die obrigkeitsstaatlich geprägten Eliten in Wirtschaft, Politik, Militär und Bürokratie blockierten eine demokratische Entwicklung der Republik.
Nur fünf Jahre später, wiederum am 9. November, ließ Hitler seine Putschisten auf die Münchner Feldherrenhalle marschieren.
Zwar konnte die von den Nazis ersehnte "nationale Revolution" verhindert werden.
Aber der 9. November 1923 war eben nur die Ouvertüre zu dem, was am 9. November 1938, in der "Pogromnacht", grausame Realität werden sollte.
In jener Nacht wurden in ganz Deutschland jüdische Geschäfte zerstört und geplündert, Synagogen in Brand gesetzt, Juden - die nun überhaupt keine "Mitbürger" mehr waren - durch die Straßen gehetzt, mißhandelt, in Konzentrationslager deportiert, ermordet.
Wir stehen heute in Trauer und Ehrfurcht vor den Opfern der national-sozialistischen Ausrottungspolitik.
Der 9. November 1938 steht für das einzig wahrhaft "Tausendjährige" an Hitlers Reich: nämlich unsere unvergängliche Scham und die unvergeßliche Schande, welche die Nationalsozialisten und ihre Anhänger über Deutschland und die Welt gebracht haben.
Es hat nichts Beschönigendes, wenn ich in diesem Zusammenhang darauf hinweise, daß einige Deutsche diese Scham schon im Augenblick des Geschehens empfanden.
Nicht weit von hier, in der Oranienburger Straße, jagte der Vorsteher des zuständigen Polizeireviers mit einigen Beamten die SA-Horden aus der Neuen Synagoge, in der sie bereits Feuer gelegt hatten, und alarmierte die Feuerwehr.
Vielleicht war dieser Wilhelm Krützfeld kein Held des Widerstandes. Aber er war ein Beweis dafür, daß auch unter barbarischen Verhältnissen eine gewisse Zivilcourage, ein Rest an Menschlichkeit aufgebracht werden konnten.
Alle vier Ereignisse des 9. November in diesem Jahrhundert, hat der Historiker und diesjährige Friedenspreisträger Fritz Stern gesagt, geschehen "in einem europäischen Kontext".
Dies gilt natürlich für den 9. November 1938, aber uneingeschränkt auch für den 9. November 1989. Insofern sind die Revolutionstage im Herbst 1989 wirklich der seltene Fall einer "zweiten Chance" für Deutschland und für Europa.
Der 9. November 1989 steht für eine realistische Perspektive auf Frieden, Demokratie, Wohlstand und Freiheit in Europa.
Nicht nur aus Dankbarkeit, sondern im Lichte genau dieser großartigen Perspektive ist und bleibt Deutschland der Anwalt der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union.
Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer darf Europa nicht ein weiteres Mal geteilt werden; diesmal an einer gedachten "Wohlstandsgrenze" zwischen der Union und ihren östlichen Nachbarn.
Nicht zuletzt die Ereignisse im Kosovo in diesem Jahr haben uns gezeigt, daß nur eine europäische Perspektive die Stabilität und den Frieden in einem Europa der Menschen und der Menschenrechte garantieren kann.
Auch für diese europäische Vision steht der 9. November 1989. Es mag gewiß sein, daß damals viele Hoffnungen geweckt und viele Erwartungen seitdem enttäuscht wurden.
Dennoch: Wir haben gemeinsam schon viel erreicht.
Und auch wenn es bis zu unserem gemeinsamen Ziel - der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West - noch ein Stück des Weges ist, noch eine Zeit dauern wird, auch wenn es Rückschläge geben wird, wissen wir doch, daß wir es gemeinsam schaffen können.
Auch das wollen wir heute in der Hauptstadt Berlin feiern. Es soll ein Fest der Freude und auch des Stolzes werden. Dabei sollte niemand der Versuchung erliegen, die Vergangenheit zu verdrängen.
Das gilt für die schreckliche Vergangenheit des 9. November 1938. Aber es gilt auch für jenes politische System, das durch den Mauerfall beseitigt wurde.
In beiden Fällen darf es keinen irgendwie gearteten Schlußstrich unter die geschichtliche - und wo nötig auch gerichtliche - Aufarbeitung geben.
In diesem Sinne können wir den heutigen 9. November als einen Tag der Demokratie und der Freiheit feiern.
Und das ist das Verdienst der Menschen in der damaligen DDR.