Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 10.09.2003
Untertitel: Der Bundeskanzler hat die Länder und die Opposition aufgefordert, die geplanten Strukturreformen der Agenda 2010 und das Vorziehen von Steuerentlastungen trotz der Uneinigkeit um deren Finanzierung mitzutragen. Das könne zusätzliche Wachstumsraten schaffen, "die wir brauchen, wenn es wirklich auf dem Arbeitsmarkt vorangehen soll", sagte Schröder am 10. September in der Debatte des Bundestages zum Haushalt.
Anrede: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/15/524215/multi.htm
Diese Debatte findet in einer Zeit außergewöhnlich schwieriger Problemlagen im internationalen wie im nationalen Maßstab statt. Ob die Debattenbeiträge - jedenfalls der, den wir bisher gehört haben - dieser Tatsache gerecht werden, muss jeder für sich selber entscheiden.
Nur wenige Bemerkungen zu den Problemlagen. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist nicht gewonnen, nicht in Afghanistan, nicht in anderen Teilen der Welt. Kein Zweifel: Die Situation im Irak ist außerordentlich besorgniserregend. Wir haben vor einem Jahr darüber geredet und wir werden auch jetzt darüber reden müssen. Die Situation im Nahen Osten muss uns alle besorgt machen. Das Töten und der Terrorismus gegen Israel haben nicht aufgehört und es wird schwierig sein, zur so genannten Roadmap, die den Friedensprozess im Nahen Osten voranbringen kann, zurückzukehren.
National - das wird gar nicht bestritten - sind wir im dritten Jahr der Stagnation. Das hat natürlich Auswirkungen auf unser Land. Wir sind in einer ökonomischen Situation, in der die Steuereinnahmen eingebrochen sind, weil die Arbeitslosigkeit gewachsen ist, weil wir kein Wachstum haben und die Aufwendungen für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit natürlich gestiegen sind.
Herr Merz, ich möchte mich auf das beziehen, was Sie gestern gesagt haben: Das ist kein Phänomen, das sich allein auf Deutschland bezieht.
Ich habe hier die Zahlen über das Wachstum in Europa, die vom Statistischen Amt der EG gestern veröffentlicht worden sind. Das Wachstum in der Eurozone im Verhältnis vom zweiten zum ersten Quartal ist minus 0,1 Prozent, Niederlande minus 0,5 Prozent, Frankreich minus 0,3 Prozent, Italien, Belgien und Deutschland minus 0,1 Prozent. Ich sage das nicht, um irgendetwas weniger besorgniserregend darzustellen, als es ist. Ich sage das nur vor einem Hintergrund, der in der Auseinandersetzung zwischen Herrn Merz einerseits und Herrn Eichel andererseits auch gestern eine Rolle gespielt hat.
Die Zahlen, die ich Ihnen über Europa mitteile - etwa über Frankreich, über die Niederlande, aber auch über die anderen, die ähnliche oder gleiche Wachstumsraten wie wir haben - , haben natürlich einen ganz anderen Hintergrund. Ich sage das mit Bezug auf die Debatte über die Folgen der Wiedervereinigung, die gestern angeklungen ist. Herr Merz, der Hinweis von Herrn Eichel war kein Vorwurf an irgendjemanden, sondern sollte verdeutlichen, dass Deutschland im Unterschied zu den europäischen Staaten mit gleichen oder noch schlechteren Wachstumsraten etwas schultern muss, was kein Land der Welt - schon gar keines in Europa - zu schultern hat.
Der Hinweis auf die Tatsache nämlich, dass wir wegen der Einheit - ich denke, Gott sei Dank haben wir sie - jährlich vier Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes von West nach Ost transferieren, ist kein Vorwurf, dass irgendwer schuld daran sei; es ist im Grunde der Hinweis darauf, dass wir - ungeachtet der Anstrengungen, die wir vornehmen müssen und vornehmen wollen - auf den internationalen Märkten präsenter sind als in der Vergangenheit. Unsere Volkswirtschaft hat an Kraft also nicht verloren, sondern gewonnen, und zwar sowohl absolut als auch relativ. Das ist doch der Zusammenhang, den man herstellen muss.
Ich bin stolz auf die Leistungsfähigkeit, die dahinter steckt. Es ist nicht die Leistungsfähigkeit dieses Hohen Hauses und seiner Mitglieder; es ist die Leistungsfähigkeit unseres Volkes. Darauf dürfen und müssen wir auch einmal stolz sein, gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten.
Wir haben es dann - das ist der zweite Problemkreis im nationalen Maßstab; darüber ist ja nicht hinwegzusehen - mit der Überalterung unserer Gesellschaft zu tun. Das ist - das weiß ich wohl - keine neue Erkenntnis. Ich will auch zugeben, dass die Frage, ob es richtig war, den demographischen Faktor, der seinerzeit von Ihnen eingeführt worden ist - auch das haben Sie gestern schon angesprochen, Herr Merz - , aufzuheben, durchaus berechtigt gestellt werden kann. Ich sage Ihnen: Das war ein Fehler, keine Frage. Natürlich haben wir den zu verantworten. Die Einzigen, die keine Fehler zu verantworten haben, sind Sie, weil Sie - so treten Sie jedenfalls auf - keine machen.
Ich sage Ihnen mit Bezug auf diese Debatte nur eines: Der Bericht der Rürup-Kommission liegt bereits vor. Wenn auch das vorliegt, was Herr Herzog für Sie erarbeitet, dann werden wir in punkto Rente vielleicht ähnlich rational miteinander reden können wie bei der Gesundheitsreform. Eines ist doch klar - die Kenner jedenfalls wissen es - , nämlich dass uns auch die Beibehaltung des demographischen Faktors, den Sie seinerzeit beschlossen haben, die Probleme nicht vom Hals gebracht hätte, mit denen wir wegen der Überalterung unserer Gesellschaft zu kämpfen haben. Der demographische Faktor allein hätte es nicht gebracht.
Ich will daran erinnern, dass wir es gewesen sind, die zum ersten Mal in der deutschen Geschichte auch in Bezug auf die Rente das gemacht haben, was man Herstellung von Kapitaldeckung nennt. Das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt, wenn man die Rente für die Alten in dieser Gesellschaft so sicher wie möglich machen und sie für die Jungen bezahlbar halten will.
Wir werden uns sehr rational darüber unterhalten müssen, welche Konsequenzen das im Übrigen hat. Um es den Menschen draußen zu erklären: Wir sind in der Situation, dass im Vergleich zu 1960 - das hat mit dem Älterwerden zu tun - die Bezugsdauer der Altersrenten heute Gott sei Dank um 70 Prozent höher ist. Dass das Druck auf die Finanzierung ausübt, liegt doch auf der Hand. Wir haben, bezogen auf die Probleme, die ich genannt habe, zu handeln und das versuchen wir auch.
Die Aufgabe, die wir haben, ist, unter radikal veränderten Bedingungen, sowohl was das weltwirtschaftliche und das europäische wirtschaftliche Umfeld als auch die Alterspyramide unserer Gesellschaft angeht, Wohlstand und Gerechtigkeit in unserem Land zu sichern. Das ist die gemeinsame Aufgabe. Es mag unterschiedliche Wege geben, über die es sich zu streiten lohnt, allerdings nicht in dem Ton wie eben, Herr Glos; nur sollten wir das dann auch sehr rational tun und den Menschen klar machen, wer welche Vorschläge hat. Unsere Aufgabe ist es, angesichts dieses veränderten Umfelds, angesichts des veränderten Altersaufbaus unserer Gesellschaft dafür zu sorgen, dass wir unsere sozialen Verpflichtungen erfüllen können, gleichzeitig aber die Ressourcen unseres Landes freisetzen, um in das zu investieren, was wirklich über die Zukunft entscheidet, das heißt bessere Betreuung unserer Kinder, mehr Investitionen in Bildung, mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung. Das alles entscheidet jetzt darüber, ob Deutschland in fünf, in zehn, in 20 Jahren noch ein Land ist, das soziale Gerechtigkeit auf hohem Niveau gewährleistet. Das ist die Aufgabe, die uns gestellt ist.
Um diese Aufgabe zu erfüllen, unternimmt der Haushalt und unternehmen seine Begleitgesetze den ernsthaften und schwierigen Versuch, auf der einen Seite die Wachstumskräfte unseres Landes - sie sind sichtbar - zu unterstützen und auf der anderen Seite die Konsolidierung nicht aufzugeben. Es sind nämlich zwei Seiten einer Medaille, auf der einen Seite den Versuch zu unternehmen, Wachstumskräfte, Trends, die positiv sind, zu unterstützen, und auf der anderen Seite durch Strukturveränderungen dafür zu sorgen, dass das auch objektiv möglich ist und immer mehr möglich wird. Das heißt, dass wir uns zunächst einmal darum kümmern müssen, wie wir konjunkturell das Positive, das es Gott sei Dank auch gibt, unterstützen können. Das ist ja eben verschwiegen worden. So weist der Ifo-Geschäftsindex zum vierten Mal in Folge eine aufsteigende Tendenz aus.
Gemäß den jüngsten Zahlen steigt auch die Industrieproduktion wieder an. Das gilt für die Bereiche, die sich jetzt gerade auf der Messe in Berlin präsentiert haben, das gilt aber auch für die Automobilindustrie, die optimistisch auf die bevorstehende Automobilmesse schaut. Ich sage nicht, dass damit die Probleme schon gelöst wären oder so gelöst werden könnten, aber ich finde, dass wir alle miteinander die Verpflichtung haben, die positiven Trends, die es in unserem Land gibt, und nicht die negativen Trends zu stützen.
Deshalb appelliere ich wirklich an die Mehrheit im Bundesrat, das, was in der jetzigen Situation nötig und möglich ist, auch mitzutragen, nämlich das Vorziehen der nächsten Stufe der Steuerreform von 2005 auf 2004. Warum? Ich denke, dass wir Anlass haben, davon auszugehen, dass über eine solche Maßnahme, wie alle Forschungsinstitute sagen, die Wachstumsraten um zusätzlich 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte erhöht werden können. Das brauchen wir nämlich, wenn es wirklich auf dem Arbeitsmarkt vorangehen soll.
Kern unseres Vorschlages ist es, jetzt den Eingangsteuersatz, der 1998 übrigens bei 26 Prozent lag, auf 15 Prozent zu senken. Er liegt ja mittlerweile schon bei 19 Prozent. Daran muss man gelegentlich einmal erinnern, denn dahinter steht ja eine steuerpolitische Leistung von Hans Eichel, die nicht von Pappe ist. Wir werden außerdem - das wird den einen Teil des Hauses vielleicht mehr freuen als den anderen - den Spitzensteuersatz, der 1998 bei 53 Prozent lag, auf 42 Prozent senken. Ich sage es noch einmal: 1998, also zu Ihrer Regierungszeit, ein Spitzensteuersatz von 53 Prozent, 2004 einer von 42 Prozent. Dies ist auf die Politik der rot-grünen Bundesregierung zurückzuführen und nicht etwa einem anderen politischen Lager geschuldet. - Man kann natürlich immer noch mehr fordern; aber das hätte man auch selber 16 Jahre lang machen können, hat es aber nicht getan. Das ist ja wohlfeil, was Sie jetzt machen. Jetzt lautet die Frage: Schaffen wir es miteinander, diese wichtige und in der jetzigen Situation nötige und mögliche Maßnahme, nämlich das Vorziehen der nächsten Steuerreformstufe auf 2004, durchzuführen oder nicht, damit der Konjunktur zusätzlichen Schub zu geben und auch auf dem Arbeitsmarkt für Bewegung zu sorgen? Hier stehen auch Sie in der Verantwortung. Sie werden sich nicht davor drücken können, sondern Sie werden immer wieder an Ihre Verantwortung erinnert werden.
Wir haben gesagt, wir finanzieren dies durch einen Mix aus Privatisierungserlösen und Neuverschuldung, welche wir, da wir sie auf ein Jahr begrenzen, für verantwortbar halten. Neben Privatisierungserlösen und Neuverschuldung ist das Ganze außerdem in die strukturpolitischen Maßnahmen eingebettet, die mit der Agenda 2010 verbunden sind. Das darf man ja nicht übersehen.
Jetzt sagen Sie, man dürfe nicht die Neuverschuldung für ein Jahr erhöhen, und wollen das nicht mitmachen, obwohl wir Ihnen anbieten, die Zins- und Tilgungslasten für die Neuverschuldung dieses einen Jahres über zusätzlichen Subventionsabbau zu begrenzen. Auch das liegt Ihnen vor.
Sie kritisieren das und sagen, das dürfe man auf gar keinen Fall machen. Das lässt sich hören. Jetzt will ich Ihnen aber einmal einen Beitrag aus einer Debatte vorlesen, die im letzten Jahr etwa zur gleichen Zeit wie jetzt, Ende August, stattfand. Es ging um die Frage, ob es zulässig sei, wegen der Flutkatastrophe die Steuerreform zu verschieben, oder ob es zulässig sei, die notwendigen Ausgaben über zusätzliche Neuverschuldung zu finanzieren. Ich sage es noch einmal: Es ist ökonomisch möglich, darüber zu streiten, ob das eine oder das andere besser ist, aber man sollte wenigstens zugeben, dass das, was wir jetzt vorschlagen, vor dem Hintergrund eigener Aussagen nun nicht wirklich der "Gottseibeiuns" schlechthin sein kann.
Ich lese einmal vor, was Herr Stoiber am 29. August 2002 in der Debatte hier im Deutschen Bundestag sagte: "Mit unserem Konzept", also dem der Finanzierung der zehn Milliarden über Nettoneuverschuldung...
Was ist denn die Verwendung der Bundesbankgewinne anderes als Nettoneuverschuldung? Machen Sie sich doch nichts vor. Jeder, der etwas von Ökonomie und Haushalt weiß, muss das doch bestätigen. Herr Stoiber sagte vor einem Jahr: "Mit unserem Konzept werden die Schulden langsamer abgebaut. Zwar fallen vorübergehend höhere Zinsen an, aber das ist auch gerechtfertigt und sinnvoll. Höhere Zinsen sind ein kleineres Übel als höhere Steuern. Höhere Steuern lähmen die Konjunktur, hemmen das Wachstum und vernichten Arbeitsplätze. Das ist der entscheidende Punkt".
Wohl wahr!
Ich weiß, dass wir in der gleichen Debatte gesagt haben: Es ist angemessen, die Stufe nach hinten zu verschieben. Ich will hier nicht verschweigen, dass wir das mit dem Argument begleitet haben, dass das Geld, das man dadurch hereinbekommt, ja nicht einbehalten und nicht für konsumtive Ausgaben verwendet wird, sondern dass es in die Wiederherstellung der Infrastruktur in den betreffenden Gebieten investiert wird. Das war also ein ganz anderer Sachverhalt, als hätte man es für konsumtive Ausgaben verwendet.
Ich erwähne diese Auseinandersetzung überhaupt nur, um deutlich zu machen, dass die gesamte Argumentation der Opposition nach dem Muster "Wir wollen das Vorziehen auch, aber der von euch konkret vorgeschlagene Weg geht auf keinen Fall" auf sehr, sehr tönernen Füßen steht. Weil diese Frage für die Mobilisierung zusätzlichen Wachstums von ungeheurer Bedeutung ist, bitte ich, darüber in diesem Zusammenhang noch einmal gründlich nachzudenken, es mit den Landesregierungen, die im Bundesrat das Sagen haben, zu bereden und vielleicht gemeinsam dafür zu sorgen, dass das gelingt, was für die Konjunktur, für den Arbeitsmarkt und für die Wirtschaft in unserem Land von großer Bedeutung ist. Denn in der Einschätzung, dass das hilfreich und von großer Bedeutung ist, unterscheiden wir uns ja nicht; wir unterscheiden uns in der Frage der Finanzierung. Es sollte Ihnen möglich sein, wenigstens tendenziell zu dem zurückzukehren, was Sie vor einem Jahr für richtig gehalten haben.
Der zweite Punkt, um den wir uns kümmern müssen und den wir angeschoben haben, hängt mit der Agenda 2010 zusammen. Wir müssen den Menschen im Land vor allen Dingen einmal sagen: Die notwendigen Reformanstrengungen haben mit der Tatsache zu tun, dass wir, anders als in früheren Zeiten, nicht mehr oder nie mehr werden darauf hoffen können, die sozialen Probleme und die Defizite, die sich in den sozialen Sicherungssystemen ergeben - ich habe die Gründe dafür genannt - , über Wachstum allein in den Griff kriegen zu können. Das wird nicht mehr funktionieren. Die Veränderungen in den sozialen Sicherungssystemen, die wir dem deutschen Parlament vorgeschlagen haben, sind notwendig. Sie sind unausweichlich wegen der Veränderung der Alterspyramide in unserer Gesellschaft. Wenn wir es schaffen wollen - und wir müssen das schaffen - , den Jungen durch Bildung Chancen zu geben, den Frauen über bessere Kinderbetreuung Möglichkeiten zu geben, am Erwerbsleben teilzunehmen, und über massive Investitionen in Forschung und Entwicklung technologisch Spitze zu bleiben, dann müssen die Anstrengungen, die sich in der Agenda 2010 finden, Wirklichkeit werden. Da hat jeder Verantwortung, wir im Bundestag genauso wie Sie im Bundesrat.
Mir kommt es darauf an, den Zusammenhang deutlich zu machen zwischen der Chance, in Zukunftsbereiche zu investieren und dafür Ressourcen zu mobilisieren, und der Notwendigkeit, die sozialen Sicherungssysteme den radikal veränderten Bedingungen anzupassen. Das ist die Aufgabe. Im Haushalt und seinen Begleitgesetzen wird diese schwierige Balance versucht, und zwar - ich will dem Thema gar nicht ausweichen - unter den Gegebenheiten und Notwendigkeiten, die mit Maastricht, mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt zusammenhängen.
Aber - wir haben das auch in der gestrigen Debatte zwischen Ihnen und Hans Eichel gehört - der Pakt heißt nicht Stabilitätspakt, sondern vielmehr Stabilitäts- und Wachstumspakt. Hinsichtlich der konjunkturellen Entwicklung gibt es weltweit positive Anzeichen, sowohl in Amerika - ob sich das dort auf den Arbeitsmarkt auswirkt, wird man sehen - als auch in Asien. Wir wissen, dass Europa in dieser Dreiergruppe ökonomisch hintenan ist. Wenn wir als Europäer unseren Beitrag zur Entwicklung der Weltwirtschaft leisten wollen, dann können wir nicht nur stabilitätsfixiert agieren - wobei die Stabilität nicht aus den Augen verloren werden darf - , sondern dann müssen wir in dieser Situation einer Stagnation im dritten Jahr alle zusammen - ich habe hinsichtlich der Wachstumsschwäche auch und gerade anderer Länder Zahlen genannt - etwas für das Wachstum tun.
Wir erbitten von der EU-Kommission in den Diskussionen lediglich, die Möglichkeiten für uns zu schaffen, Wachstum anzustreben, ohne dass wir die Perspektive der Konsolidierung aufgeben wollen. Es ist richtig, was Hans Eichel gesagt hat. Wir haben uns in den guten Zeiten auf Wachstum fixiert - Wachstum wird's schon richten - und Konsolidierung nicht entschieden genug betrieben. Das geschah aber am wenigsten unter Herrn Eichel, sondern eher unter anderen, die vor ihm Finanzminister waren; da meine ich nicht nur seinen unmittelbaren Vorgänger, sondern spreche auch von Ihrer Regierungszeit.
Es gibt Situationen, in denen die Grenze von drei Prozent zwar nicht überschritten werden sollte, aber doch nicht um den Preis des Abwürgens der Konjunktur, jeder volkswirtschaftlichen Vernunft zum Trotz. Das ist das Einzige, worauf wir hinweisen. In diesem Punkt sind wir im Übrigen einig mit anderen Ländern. Sie haben Frankreich und Italien genannt, wo wahrlich keine - wie Sie sagen würden, Herr Glos - strammen Sozialisten, die nicht mit Geld umgehen könnten, regieren. Da sind wir uns vielleicht einig.
Die Wachstumsraten in anderen Ländern, die gerne als Beispiele angeführt werden, zum Beispiel 0,7 Prozent Wachstum in Spanien, sind ja ganz schön. Aber ein solches Wachstum ist auch nicht besonders schwierig, wenn man mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes von Brüssel überwiesen bekommt. Nebenbei gesagt: 25 Prozent davon zahlt Deutschland. Auf diese Weise können Wachstumsraten natürlich leichter erzielt werden, als erstens die deutsche Einheit geschultert werden soll und muss und zweitens 25 Prozent des europäischen Haushalts bestritten werden müssen. Auch dieser Punkt gehört in eine solche Debatte.
Ich glaube, dass wir durch den Zusammenhang von wachstumsfördernder Politik - siehe Steuerreform - einerseits und dem Versuch, die Strukturen in unserer Gesellschaft zu verändern - Umsetzung der Agenda 2010 - , andererseits auf einem guten Weg sind. Außerdem will ich hier ganz klar sagen: Wir haben beim Thema Gesundheitsreform miteinander etwas zuwege gebracht. Dafür bin ich allen Beteiligten - in den Koalitionsfraktionen und der Ministerin ebenso wie Herrn Seehofer und denen, die mit ihm zusammengearbeitet haben - dankbar. Das war richtig, vernünftig und wichtig.
Man kann darüber streiten, ob in bestimmten vermachteten Bereichen genügend Markt hergestellt worden ist. Ich denke an die Kassenärztlichen Vereinigungen oder an die Apotheken. Im übrigen sage ich in Parenthese an die Freien Demokraten gerichtet: Sogar Ihr Altmeister, Herr Lambsdorff, hat geschrieben, dass man aufpassen müsse, über den Markt nicht ausgerechnet dann zu schweigen - Stichwort: Mehrfachbesitz und Fremdbesitz bei Apotheken - , wenn es an das Leder der eigenen Klientel geht. Darüber müssen Sie einmal nachdenken, ehe Sie wieder lautstark über Marktwirtschaft mit uns reden.
Ich möchte über das hinaus, was ich im Hinblick darauf deutlich zu machen versucht habe, was wir im nationalen Maßstab leisten können und leisten müssen, was wir ökonomisch mit Bezug auf den einzuhaltenden Stabilitäts- und Wachstumspakt an vernünftiger Interpretation, an wachstumsgerechter Interpretation in Europa brauchen, noch ein paar Bemerkungen zur internationalen Situation machen.
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass Herr Schäuble gesagt hat, die Union könne einem Einsatz der deutschen Soldaten in Kunduz zustimmen. Ich habe das mit Freude zur Kenntnis genommen. Warum? Es ist ja sehr interessant, einmal die Debatten, die im letzten halben Jahr über die Bekämpfung des internationalen Terrorismus geführt worden sind, zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind uns alle einig, dass Ausgangspunkt der Diskussion um die Bekämpfung des internationalen Terrorismus der 11. September war, und dies völlig zu Recht. Sie kennen die Gegebenheiten. Wir haben damals entschieden, dass wir uns an der militärischen Niederwerfung derer beteiligen, die dem internationalen Terrorismus über Ausbildung und über Schutz eine Heimstatt geben, der Taliban also. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus gerade in Afghanistan ist nicht gewonnen. Er ist alles andere als das. Es ist sehr interessant, dass während der gesamten Diskussion um den Irakkrieg über diesen Aspekt des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus kein Wort geredet worden ist, obwohl er weiterhin notwendig war. Ich bin froh darüber, dass der Zusammenhang jetzt wieder hergestellt wird. Man kann den Kampf gegen den internationalen Terrorismus in jedem Land, vor allem aber in Afghanistan, verlieren. Man wird ihn dann verlieren, wenn man den Zusammenhang zwischen der militärischen Niederwerfung der Taliban einerseits und dem, was man Nation Building nennt, andererseits nicht sieht oder nicht hinreichend zur Kenntnis nimmt und nicht für eine entsprechende Ausstattung sorgt. Das ist der Punkt.
Das ist die Begründung dafür, dass wir gesagt haben: Wir können nicht uferlos Ressourcen einsetzen, weil wir sie uferlos gar nicht haben. Aber wir sind bereit, der Aufforderung der Vereinten Nationen, unserer Partner zu folgen und zu sehen, was wir über Kabul hinaus machen können, immer aber unter Beachtung des Zusammenhangs, dass sich unser Begriff der Herstellung von Sicherheit, unser Begriff des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus niemals in der militärischen Seite erschöpfen darf und erschöpft, sondern dass man dabei immer auch die zivile Seite im Auge behalten muss. Wenn wir darüber in diesem Parlament Einigkeit erzielen können, dann bin ich sehr froh.
Dann geht es um die Frage, über die hier vielfach diskutiert worden ist - mir liegt wirklich daran, dass wir diese Diskussion so sachlich wie irgend möglich weiterführen können - : Wie entwickelt sich das im Irak? Was für einen Beitrag können wir leisten? - Dazu zunächst nur so viel: Ich habe nicht die geringste Lust, im Nachhinein in eine Diskussion darüber einzusteigen, wer in der Bewertung des Krieges Recht hatte und wer nicht Recht hatte, weil das niemanden weiterbringt. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass der Wiederaufbau des Irak mit der Perspektive auf Stabilität und Demokratie gelingen muss; denn das liegt in unserem, im europäischen Interesse genauso wie im Interesse der Alliierten und des irakischen Volkes. Es liegt auch im Interesse der gesamten Region, dass der Aufbau gelingt. Dabei spielt die Frage, wie man zu dem Krieg stand, keine Rolle. Genugtuung wäre das Verkehrteste.
Dies vorausgeschickt, will ich darauf hinweisen, dass es auch um die Frage geht: Welchen Beitrag kann Deutschland leisten? Wir engagieren uns im Bereich der humanitären Hilfe. Wir können uns auch beim Wiederaufbau im Rahmen bestimmter Projekte engagieren, die unsere Institutionen und Nichtregierungsorganisationen durchführen können und die wir natürlich finanzieren müssen. Es ist keine Frage, dass wir das tun können, wenn die Sicherheit gewährleistet ist.
Noch einmal: Bezogen auf die Sicherheit im Irak wird es Zeit, auf internationaler Ebene darüber zu reden - das wird sicherlich geschehen - , was die Sicherheitslage im Irak wirklich verbessern könnte. Ich habe Zweifel - ich sage das bewusst zurückhaltend - , ob ein Aufwuchs des gegenwärtig vorhandenen Kontingentes an Soldaten, gleichgültig von wem gestellt, ein objektives Mehr an Sicherheit bedeuten würde. Ich glaube, dass die Stimmen - sie gibt es auch in den Vereinigten Staaten von Amerika - Recht haben, die sagen: Was wir wirklich brauchen, ist die Ausbildung der irakischen Polizei und des irakischen Militärs. Wenn es trotzdem zusätzliche Kräfte geben muss, dann sollten es Kräfte sein, die eine engere Beziehung zum islamischen Glauben haben, als wir sie jemals haben können. Eine solche Debatte weist in die richtige Richtung.
Unsere Meinung ist, dass wir eine andere Rolle der Vereinten Nationen brauchen. Diese ist schon aus legitimatorischen Gründen notwendig, weil sich sonst nur wenig in Richtung mehr Sicherheit bewegt. Wir müssen, so schnell es geht - es ist klar, dass man das nicht über Nacht schaffen kann - , dazu kommen, eine wirkliche irakische Autorität in diesem Land zu installieren. Das sind die beiden Punkte, um die es geht.
Ich sage mit Bezug auf das, was wir leisten können und leisten wollen: Auch die deutschen Ressourcen sind begrenzt. Ich sage aber mit Stolz: Mit unserem Engagement auf dem Balkan, in Afghanistan und im Rahmen von Enduring Freedom leisten wir Erhebliches. Im Übrigen - das wird auch zur Kenntnis genommen - finanzieren wir unser Engagement selber. Unsere Partner wissen das inzwischen. Vor diesem Hintergrund ist es verantwortbar, zu sagen: Wir sind bereit, bei der Ausbildung der irakischen Polizei, die in Deutschland stattfinden kann und die wir zusammen mit anderen oder alleine durchführen können, zu helfen. Wir sind auch bereit, die für die Ausbildung unseres Militärs vorhandenen Hochschulen zu öffnen, soweit es die Ressourcen hergeben. Aber ich glaube nicht, dass wir in einer Situation sind, in der wir uns im Irak militärisch beteiligen sollten.
Lassen Sie mich abschließend ein paar Bemerkungen zur bevorstehenden Regierungskonferenz in Rom machen - es wird Nachfolgekonferenzen in Brüssel und danach vermutlich wieder in Rom geben - , die über die Verfassung Europas entscheidet. Wir sind uns mit unseren französischen Freunden und mit anderen darüber einig, dass das, was der Konvent vorgelegt hat, ein wirklich sehr guter Verfassungsentwurf ist. Es ist der geglückte Versuch, das Verhältnis der Institutionen zueinander unter den obwaltenden Umständen vernünftig zu regeln. In Europa ist das natürlich schwieriger, als würde es sich um einen Zentralstaat handeln. Auf der anderen Seite wird auch das Verhältnis zwischen der europäischen Ebene und den Nationalstaaten vernünftig geregelt. Wir sind letztlich alle davon überzeugt, dass es gut und richtig ist, die Grundrechte-Charta in einer solchen Verfassung zu verankern. Noch einmal: Es ist ein wirklich geglückter Entwurf.
Ich will etwas zu der Frage des Gottesbezuges sagen. Ich unterstelle, dass es Ihnen damit ernst ist. Der Bundesaußenminister und ich hatten damit überhaupt kein Problem. Nach meiner Auffassung ist der Gottesbezug nicht erforderlich.
Ich bin der Auffassung, dass diejenigen, denen das - ihrer Verankerung im Glauben wegen - wichtig ist, ein größeres Recht haben als die, die das nicht für so wichtig halten. So habe ich mich in der niedersächsischen Verfassungsdebatte verhalten. So verhalte ich mich auch in dieser Debatte. Sowohl der Außenminister als auch ich sind für den Gottesbezug eingetreten. Aber Sie kennen die Tradition anderer Länder. Was jetzt im Entwurf steht, ist das Optimum des Möglichen. Herr Glos, Sie wollen doch nicht ernsthaft fordern, dass wir wegen dieser Tatsache die Verfassung scheitern lassen.
Die rot-grüne Bundesregierung, der man ansonsten alles Mögliche unterstellt, ist mit dieser Fragestellung verantwortungsbewusst umgegangen und hat getan, was sie konnte. Was dabei herausgekommen ist, mag denen, die ganz besonders viel Wert darauf legen - ich hoffe, wirklich innerlich und nicht nur zum Kampf untereinander - , nicht ausreichen. Aber wir haben mehr erreicht, als man für möglich hielt.
Weil die Verfassung insgesamt ein ausgewogener Kompromiss ist, warne ich davor - uns muss man diese Warnung nicht sagen - , die Forderung zu erheben, das Paket aufzuschnüren. Es wird kein besseres geben. Ich bin fest davon überzeugt.
Ich verstehe, dass einzelne Staaten auf Ewigkeit einen Kommissar stellen wollen. Wenn Bulgarien und Rumänien dazukommen, wären es 27 Kommissare. Es wäre nicht leicht, sie - womöglich ohne Richtlinienkompetenz - zu einer gemeinsamen Haltung zu bringen. Ich glaube, das wird jeder verstehen. Stellen Sie sich einmal ein Unternehmen mit 27 Vorstandsmitgliedern vor! Im Übrigen darf man nicht übersehen: Wenn man so viele Kommissare hat, suchen sie sich alle ein Betätigungsfeld - und sie finden eines. Ich will das aber nicht in extenso ausführen.
Wenn wir das Paket aufschnüren, dann werden wir kein besseres zusammenbekommen, wenn überhaupt. In dieser Befürchtung sind wir uns völlig einig. Deswegen wird Deutschland auf der Regierungskonferenz dafür sorgen, das Paket zusammenzuhalten.
Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass wir eine Menge internationaler Probleme haben, die uns zusätzliche wirtschaftliche Schwierigkeiten machen. Wir sind mitten in einem ungeheuren Reformprozess im Innern. Wir tun das alles, um Ressourcen freizubekommen, um in die Zukunft zu investieren. Diejenigen, die nach uns kommen, sollen so gute Chancen haben, wie wir sie hatten. Das ist unsere Verantwortung.
Ich gebe zu: Das ist unter den obwaltenden Bedingungen nicht einfach. Was den Haushalt angeht, ist es in der gegenwärtigen Situation schwierig genug. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir es mit der Strategie der Unterstützung von Wachstum einerseits und des wirklich beherzten Angehens von Strukturreformen andererseits schaffen werden, dass diejenigen, die nach uns kommen, eine gute Zukunft erlangen. Das begreife ich als meine und unsere Verantwortung.