Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 11.09.2003

Untertitel: "Es geht darum, dass wir in diesem Herbst in Deutschland dazu kommen, jene Tendenzen des Aufschwungs zu stärken, die es nicht nur, aber Gott sei Dank auch im automobilen Sektor gibt. Auf der anderen Seite müssen wir dafür sorgen, dass die sozialen Sicherungssysteme Deutschlands, die wichtig und notwendig sind, neu justiert werden, weil sich die Bedingungen, unter denen sie nur funktionieren können, radikal geändert haben, (und zwar) sowohl, was die ökonomischen Grundlagen angeht als auch die Frage der Alterspyramide unserer Gesellschaft", so Bundeskanzler Schröder.
Anrede: Herr Professor Gottschalk, Frau Oberbürgermeisterin, Herr Ministerpräsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/97/524997/multi.htm


Ich fand es gut und richtig, Herr Professor Gottschalk, dass Sie auf den 11. September hingewiesen haben. Vor zwei Jahren am 11. September wurden New York und Washington von einem hinterhältigen Terroranschlag heimgesucht, der dazu geführt hat, dass wir - damit meine ich nicht nur die westliche Welt - uns verbunden haben in dem Willen, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Wir haben uns seinerzeit verbunden, um in Afghanistan diejenigen militärisch niederzuwerfen, die den Taliban Ausbildung im internationalen Terror ermöglichten und ihnen Heimstatt und Schutz gegeben haben.

Auch heute - zwei Jahre danach - ist dieser Kampf, den wir gemeinsam mit unseren amerikanischen Freunden führen, nicht gewonnen - weder in Afghanistan noch in anderen Regionen der Welt. Wir müssen im Gegenteil erkennen, dass wir in diesem Kampf nach wie vor nicht nachlassen dürfen. Zugleich müssen wir aber begreifen, dass wir den Kampf gegen den internationalen Terror nur gewinnen können, wenn wir neben der militärischen Leistung strikt darauf achten, dass Wiederaufbau als andere Seite einer Medaille begriffen wird. Das macht das deutsche Engagement in Afghanistan aus.

Daneben möchte ich anlässlich dieser internationalen Messe auf eine andere bedrohliche Lage hinweisen. Wie immer man zum Krieg im Irak gestanden hat - es hat durchaus Differenzen gegeben, die auch allen bekannt sind - , geht es jetzt darum, dass wir miteinander dem Irak eine Perspektive in Frieden und in Demokratie geben und damit die dringend notwendige Stabilität in dieser Region schaffen. Denn ansonsten hätte dies nicht nur Folgen für die politische Stabilität in der gesamten Region, sondern auch Bedeutung für die Stabilität der Weltwirtschaft, die sich in Amerika, in Asien, in Europa und in Deutschland gerade beginnt zu erholen. Das zu festigen und es nicht beeinträchtigen zu lassen, ist Aufgabe gemeinsamer internationaler Politik.

Meine Damen und Herren, über diese internationalen Fragestellungen hinaus sind wir am Vorabend einer Regierungskonferenz in Europa, die politisch und ökonomisch gleichermaßen wichtig ist und die zweierlei leisten soll und leisten muss. Zum einen muss der Erweiterungsprozess auch formal abgeschlossen werden. Jene zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten, die beitreten wollen, sollen vor den Europawahlen im nächsten Jahr beitreten können.

Zum anderen ist neben der Erweiterung die so genannte Vertiefung unabdingbar, um das größer gewordene Europa politisch führbar zu halten. Es ist also der Verfassungsprozess, der ausgehend vom Europäischen Konvent in der Regierungskonferenz möglichst in diesem halben Jahr abgeschlossen werden muss. Wir werden daran arbeiten, dass das gelingt. Erweiterung und Vertiefung, das sind zwei Seiten einer Medaille.

Darüber hinaus - darauf ist zu Recht hingewiesen worden - gilt es in diesem Herbst Weichenstellungen vorzunehmen, insbesondere in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die für unser Land von hoher Bedeutung sind. Wegen unserer Rolle in Europa sind sie zugleich von hoher Bedeutung für die ökonomische und damit gesellschaftliche Entwicklung auf unserem Kontinent. Deutschland übernimmt, was diesen notwendigen Reformprozess angeht, eine Schlüsselrolle. Das bestimmt also unsere Verantwortung nicht nur für Deutschland, sondern für Europa insgesamt.

Was bedeutet das im Einzelnen? Zum einen sind wir im dritten Jahr einer Stagnation und sehen bereits jetzt, dass sie in diesem Jahr überwunden werden kann. Das ist notwendig für uns, für die Menschen, die Arbeit brauchen, für die Entwicklung in Deutschland und über Deutschland hinaus. Zum anderen bleibt als große Herausforderung die Überalterung unserer Gesellschaft - ein Prozess, der für die, die es betrifft, sehr gut ist, der aber für diejenigen, die ihn finanzieren müssen, Herausforderungen heraufbeschwört.

Es geht jetzt darum, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass wir in diesem Herbst in Deutschland jene Tendenzen des Aufschwungs stärken, die es nicht nur im automobilen Sektor gibt. Auf der anderen Seite müssen wir dafür sorgen - das gehört zusammen - , dass die sozialen Sicherungssysteme Deutschlands neu justiert werden. Und dies, weil sich die Bedingungen, unter denen sie funktionieren können, radikal geändert haben: sowohl die ökonomischen Grundlagen als auch die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft.

Daraus ergeben sich zwangsläufig Aufgaben, die abgearbeitet werden müssen. Ich beginne mit den konjunkturpolitischen Vorhaben. Wir haben in diesem Herbst nach fast drei Jahren Stagnation in Deutschland einen beginnenden Aufschwung. Die Wachstumsraten in anderen europäischen Ländern, die gelegentlich als Beispiel hingestellt worden sind, sind leider nicht so positiv, wie wir sie uns wünschen. Das kann uns nicht zufrieden stellen. Umso wichtiger ist es, dass wir in Deutschland und aus Deutschland heraus in diesem Herbst mit dem Vorziehen der Steuerreformstufe 2005 auf 2004 ein konjunkturelles Signal setzen, das uns und damit auch Europa hilft. Das bedeutet, meine Damen und Herren, dass wir ab 2004 einen Eingangssteuersatz von 15 Prozent, nachdem er 1989 bei 26 Prozent lag, und einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent, der 1989 bei 53 Prozent lag, haben werden.

Ich glaube, dass all diejenigen Recht haben könnten, die in den wissenschaftlichen Instituten der Auffassung sind, das Vorziehen der Steuerreform könne zwischen 0,3 und 0,5 Prozentpunkte Wachstum erbringen, das wir volkswirtschaftlich, auch gesellschaftspolitisch dringend brauchen.

Herr Präsident, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es hierfür einer vernünftigen Finanzierung bedarf. Für die Bundesrepublik wird durch das Vorziehen der Steuerreformstufe für ein Jahr - denn 2005 wäre sie ohnehin gekommen - eine Summe von etwa 7 Milliarden Euro bewegt. Wir wollen und werden sie finanzieren über das Einstellen von Privatisierungserlösen in einer Größenordnung von 2 Milliarden Euro und über eine Nettoneuverschuldung in der restlichen Größenordnung, die aber sinnvoll ist. Denn es macht wenig Sinn, auf der einen Seite durch das Vorziehen der Steuerreform Kaufkraft zu schaffen und sie auf der anderen Seite kontraproduktiv gegen zu finanzieren.

Wir finanzieren also in einer Größenordnung von 5 Milliarden Euro - für ein Jahr - zusätzliche Neuverschuldung und - das ist das Angebot, das dem Bundestag vorliegt - finanzieren die daraus resultierenden höheren Zinsen durch Subventionsabbau. Dafür liegen die Vorschläge auf dem Tisch.

Wir halten das, um der Konjunktur in dieser Situation einen Impuls zu geben, für zentral wichtig. Ich betone hier: Man kann über Einzelheiten des Finanzierungskonzeptes streiten. Nur wer ein anderes will, muss klare Vorschläge machen, die sich nicht kontraproduktiv zu dem verhalten dürfen, was wirtschaftlich sinnvoll ist.

Falsch und in dieser Situation außerordentlich gefährlich wäre es aber, wenn man im Bundesrat zum Entschluss käme, das Vorziehen der Steuerreformstufe auf 2004 nicht stattfinden zu lassen.

Verantwortbar ist das Setzen dieses Konjunkturimpulses indessen nur dann, wenn man die Aufgaben, die sich aus der veränderten Altersstruktur unserer Gesellschaft ergeben, wirklich anpackt, also das durchzusetzt, was sich mit der "Agenda 2010" verbindet.

Was ist das im Einzelnen? Es ist notwendig, im Bereich der Gesundheit zu mehr Eigenverantwortung auf der Seite der Versicherten zu kommen. Das ist Teil des Kompromisses, den es in dieser Frage glücklicherweise zwischen Regierung und Opposition gegeben hat.

Auf der anderen Seite muss es mehr Markt und mehr Transparenz bei den Leistungsanbietern geben. Da hätte ich mir bezogen auf das Marktverhalten etwa von Ärzten und Apothekern mehr gewünscht. Aber ich stehe zu dem vereinbarten Kompromiss. Er wird dazu führen, dass die Beiträge zur Gesundheitsfürsorge, die ja Lohnnebenkosten sind, sinken werden. Unser zentrales Problem ist ja nicht die Höhe der Steuern, mit der wir uns im Mittelfeld in Europa befinden, sondern die Höhe der Abgaben auf Arbeit in Deutschland. Sie müssen gesenkt werden. Das ist die Aufgabe, die in diesem Herbst geleistet werden muss.

Bei der Gesundheit sind wir auf einem guten Wege. Die einschlägigen Gesetze werden beschlossen. Da die Länder daran beteiligt waren, sehe ich kein Problem im Bundesrat.

Wir werden im Herbst zu Fragen der Altersvorsorge entscheiden müssen. Und zwar zu der Frage, in welchem Maße neben der aufgebauten Kapitaldeckung Zuwächse bei der Altersversorgung noch möglich sind. Wir werden dazu ein geschlossenes Konzept vorlegen, das wegen des veränderten Altersaufbaus die bisherigen Reformvorhaben nachjustiert.

Die Bezugsdauer der Renten ist wegen der verlängerten Lebensdauer seit 1960 um rund 70 Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass es einen enormen Druck auf die Finanzierungssysteme gibt. Diesen Druck müssen wir auffangen. Ein wesentliches Element ist nur gemeinsam mit der Wirtschaft durchsetzbar: Wir haben das zentrale Problem, dass das Eintrittsalter in die Rente real zu gering ist. Es liegt mit allen Folgen, die das hat, bei ungefähr 60 Jahren.

Wenn die Renten für die Alten sicher und die Beiträge für die Jungen bezahlbar bleiben sollen, muss dieses reale Renteneintrittsalter erhöht werden. Das bedeutet, dass wir all das, was wir uns früher leisten konnten, nämlich Belegschaften unter Inanspruchnahme von Vorruhestand und Frühverrentung zu verjüngen, uns in Zukunft nicht mehr leisten können.

Herr Präsident Gottschalk, der Reformprozess, den Sie fair eingefordert haben, ist nicht nur einer, der an die Adresse der Politik gerichtet ist. Dieses Rentenbeispiel zeigt, dass dies ein gemeinsamer Prozess ist, der nur gelingen kann, wenn Politik, Wirtschaft und auch Gewerkschaften an einem Strang ziehen und wir auf diese Weise Deutschland nach vorne bringen.

Meine Damen und Herren, wir müssen jetzt den Wachstumsimpuls durch das Vorziehen der Steuerreformstufe setzen und darüber hinaus dafür sorgen, dass die Reformmaßnahmen, die mit der "Agenda 2010" bezeichnet werden - es sind insgesamt zehn Gesetze - , nicht nur den Bundestag, sondern auch den Bundesrat passieren. Hier ist der 21. September, der Tag der bayerischen Landtagswahl, zu erwähnen. Meinetwegen kann das erst nach dem 21. September besprochen werden. Aber dann muss es geschehen, dann müssen sich auch die Ministerpräsidenten bewegen.

Ich möchte noch ein paar Bemerkungen zur Automobilindustrie machen. Viele Probleme der Branche lassen sich nicht mehr national, sondern nur noch europäisch lösen. Europäische Lösung kann und sollte Gleichheit auf den Märkten heißen. Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass derzeit bei denen, die in Brüssel Entscheidungen zu treffen haben, die Integration der Finanzmärkte und der sorgsame Umgang mit den natürlichen Ressourcen im Vordergrund steht.

Beides ist ohne Zweifel wichtig. Aber ebenso wichtig ist - und wird weniger bedacht - die Sorge um die industrielle Basis der europäischen Wirtschaft. Und hier spielt die Automobilindustrie eine ganz zentrale Rolle. Mein Wunsch, an dem wir auch zusammen mit dem französischen Präsidenten und dem britischen Premierminister arbeiten, ist, dass die Länder mit einer differenzierten Produktionsstruktur - die differenzierteste hat zweifellos Deutschland - es nicht gestatten können, dass nicht genügend Sorgfalt auf den Erhalt und die Entwicklung dieser ausdifferenzierten industriellen Produktionsstruktur verwendet wird.

Das macht sich zum einen an einer Auseinandersetzung fest, die noch nicht zu Ende geführt worden ist, die wir aber hartnäckig bezüglich der Frage "' Level Playing Field'bei Übernahmen" führen. Denn wir sind in erster Linie der Adressat von Übernahmewünschen, die es bei anderen, bei kleineren Ländern, ja weniger gibt. Wir müssen uns zum anderen mit der Chemikalienrichtlinie auseinander setzen. Wir tun das mit aller Macht und mit Unterstützung aus der Wirtschaft und vielleicht auch - das wäre wichtig - aus der Automobilindustrie. Wir müssen verhindern, dass eine mittelständisch strukturierte Chemieindustrie, wie es sie in Deutschland - sogar überwiegend - gibt, nicht in große ökonomische Schwierigkeiten kommt.

Mein Wunsch ist also, zusammen mit dem Verband und mit anderen Verbänden, dass die Obacht für die industrielle Produktionsstruktur auf europäischer Ebene wichtig genommen wird. Das ist ein wichtiger Punkt, und ich hoffe, dass wir, Präsident Gottschalk, dabei auch in Zukunft eng zusammenarbeiten können.

Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang: Sie haben zurecht darauf hingewiesen, dass der Diesel ein Aggregat ist, das in Deutschland eine besondere Bedeutung hat und von der deutschen Automobilindustrie zu einer Qualität entwickelt worden ist, die zur absoluten Weltspitze gehört. Daher kann die deutsche Automobilindustrie - gestützt auf ihre Innovation beim Diesel - die Euronorm 4 vorerfüllen. Wir werden aber eine öffentliche Debatte über die Euronorm 5 bekommen. Ich finde, es ist gut, wenn hierbei ein paar Eckpunkte genannt werden. Dazu gehört zum einen, dass sich die Investitionen, die in Bezug auf die Euronorm IV getätigt worden sind, amortisieren müssen. Sie werden sich aber nur dann amortisieren können, wenn eine unter Umständen notwendige steuerliche Förderung für eine weiter gehende Norm zeitlich abgepasst wird. Der andere Punkt ist klar: Bei der Debatte über die Euronorm 5 geht es um auf europäischer Ebene festzusetzende Grenzwerte, nicht um das Vorschreiben von Technologien. Die festzusetzenden Grenzwerte werden dazu führen, dass es Partikelfilter geben wird, die auch bereits jetzt mit großem Erfolg angeboten werden. Ähnliches gilt für das vertretbare Maß des Ausstoßes an Stickoxyden pro Kilometer.

Meine Damen und Herren, der Optimismus, den es in der Rede des Präsidenten gab - nicht nur, was den Automobilsektor angeht- , ist berechtigt. Die Zahl der Neuzulassungen im Juli dieses Jahres ist die beste in den letzten vier Jahren gewesen. Das macht klar, dass der Markt in Bewegung ist. Ich will alles tun, um diese positive Bewegung zu unterstützen, dass also die Zulassungszahlen vom Juli überboten werden und dass wir ein nächstes Jahr mit besseren Geschäften als in der Vergangenheit bekommen. Ein Jahr, in dem Kaufzurückhaltung auch auf dem Binnenmarkt der Vergangenheit angehört. Das wird der Fall sein, wenn wir auf der einen Seite die Reformmaßnahmen, die sich mit der "Agenda 2010" verbinden, in Bundestag und Bundesrat beschliessen und auf der anderen Seite dafür sorgen werden, dass wir mit dem Vorziehen der Steuerreformstufe 2005 auf 2004 dem nächsten Jahr einen solchen Schub geben werden, dass die prognostizierten Wachstumserwartungen Realität werden.

Das ist bezüglich der Rahmenbedingungen gemeinsame Aufgabe und gemeinsame Verantwortung in erster Linie der Politik. Aber wenn wir nicht dazu kommen, diesen Reformprozess in den nächsten anderthalb Jahren als einen Reformprozess der gesamten Gesellschaft zu begreifen und Druck aus der Gesellschaft entwickeln, dann werden wir weniger erreichen, als wir erreichen können. Die Kraft unserer Volkswirtschaft und die Fähigkeit unserer Menschen ist groß. Sie zu bündeln, ihr einen vernünftigen Rahmen zu geben, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Ich denke, das wird auf dieser Messe deutlich werden, und deshalb, meine Damen und Herren, erkläre ich die IAA hier in Frankfurt auch gerne für eröffnet. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.