Redner(in): Christina Weiss
Datum: 23.09.2003

Untertitel: Rede von Staatsministerin Christina Weiss zur Eröffnung der Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus. Die visuelle Kultur der Stalinzeit", die vom 24. September 2003 bis zum 4. Januar 2004 in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main gezeigt wird.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/71/530771/multi.htm


Anrede! Die Retro-Mode, die eben noch die DDR-Ostalgie feierte, rückt nun den finsteren Reiz des Sowjetreiches ins Rampenlicht ", schreibt ein großes deutsches Nachrichtenmagazin in seiner neuesten Ausgabe und meint damit nicht nur, aber auch die Ausstellung, die wir heute Abend eröffnen. Ich denke, vor dem Hintergrund der historischen Geschehnisse verdienen solche Vorbehalte durchaus Beachtung. Andererseits wäre es zu einfach, in der Beschäftigung mit der Kunst aus der Zeit des Stalinismus nur eine Mode zu sehen. Die kritische Auseinandersetzung mit dem sogenannten Sozialistischen Realismus birgt auch Chancen. Sie entspricht dem berechtigten wissenschaftlichen Interesse, sich analytisch mit gesellschaftlichen wie kulturellen Phänomenen der Vergangenheit zu befassen. Diese Ausstellung wird zeigen, dass der Sozialistische Realismus vielschichtiger war, als man bei oberflächlicher Betrachtung glauben könnte.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich fällt es schwer, diese Bilder anzusehen ohne an die Verbrechen und Greueltaten zu denken, die der Stalinismus begangen hat. Das ist wahrscheinlich die erste und tragischste Erkenntnis dieser Ausstellung: Die Kunst hat schon immer dazu geneigt, die Realität zu übersteigen und hinter sich zu lassen. Dass jedoch die Kluft so enorm sein kann, das hat meines Erachtens etwas zutiefst Beunruhigendes und Irritierendes. Selbstverständlich darf und soll die Kunst neue Wirklichkeiten schaffen. Wenn aber die Diskrepanz so groß wird wie in der Sowjetunion unter Stalin, dann kommt man nicht umhin, Künstler der Mittäterschaft zu verdächtigen. Propaganda ist im Kern immer unehrlich. Je dicker sie aufträgt, je kitschiger die Mittel sind, derer sie sich bedient, desto unheimlicher wird sie. Da beginnt man, an allen Begriffen zu zweifeln. Realistisch war der Sozialistische Realismus auf keinen Fall.

So ist die Tragödie, die in dieser Ausstellung zu besichtigen ist, nicht nur eine politische und humanitäre, sondern auch eine künstlerische. Die Geschichte des Sozialistischen Realismus ist eine Geschichte der Verführungskraft, aber auch der Verführbarkeit der Kunst. Sie ist eine Geschichte ihrer Schwäche und ihres Versagens."Die Maler müssen das Sujet und die Gegenstände aufgeben, wenn sie reine Maler sein wollen", schrieb Kasimir Malewitsch in der berühmten, 1916 in Moskau erschienenen Schrift "Vom Kubismus und Futurismus zum Suprematismus". Wenn man sich dann ansieht, was später aus den Werken dieses Malers geworden ist, der als Erfinder des schwarzen Quadrats einst zu den kühnsten Revolutionären der Modernen Kunst zählte, so begreift man das ganze individuelle Drama, das schreckliche Scheitern, welches die neue sozialistische Doktrin mit sich brachte.

Und doch liegen auch hier Tragödie und Komödie nahe beieinander. Vielleicht wird es manchen unter Ihnen beim Rundgang durch die Ausstellung ähnlich ergehen wie mir, als ich zum ersten Mal Werke des Sozialistischen Realismus gesehen habe. Diese Bilder haben nicht nur etwas Unheimliches, sie wirken in ihrem grenzenlosen Kitsch oft auch unfreiwillig komisch. Das heißt nicht, dass man diese Kunst belächeln sollte, dazu ist der Zusammenhang, aus dem sie stammt, zu folgenreich gewesen. Doch wer sich heute vor Augen hält, wie all diese "Ideen von wunderbarer Weite und Tiefe", diese "intensiven, heroischen und komplizierten Empfindungen", die der Ideologe des Sozialistischen Realismus, der Schriftsteller und spätere sowjetische Kommissar für Volksbildung, Anatoli Lunatscharski, konstatiert, umgesetzt wurden; wer all die fröhlich scherzenden Feldarbeiterinnen, die heldenhaften Rote-Armee-Generäle zu Pferde und die sowjetische Errungenschaften feiernden Massen betrachtet, der kann sich einer gewissen Belustigung nicht erwehren. Das Pathos dieser Darstellungen ist zu naiv, zu durchschaubar.

Dazu passt die Mitteilung, die ich in dem Interview entnehme, das Boris Groys mit dem Künstler Ilja Kabakov geführt hat. Kabakov erinnert darin an den Umstand, dass der Sozialistische Realismus im Grunde von niemandem wirklich ernst genommen wurde, außer vielleicht von Parteifunktionären. Alle anderen, die Künstler wie die Bevölkerung als eigentlicher Adressat der Propaganda, haben diesen Stil nie sonderlich geschätzt.

Daher halte ich es auch für eine gute Entscheidung, die künstlerische Kritik am Sozialistischen Realismus, die in den siebziger und achtziger Jahren in der Sowjetunion entstand, unter der respektlosen Abkürzung SozArt firmiert und durch Künstler wie Erik Bulatov, Komar und Melamid, Boris Mikhailov oder eben Ilja Kabakov repräsentiert wird, in die Ausstellung zu intergrieren. Die maßlose Überzeichnung und die daraus folgende Ironisierung ist ein probates Mittel, der geballten ästhetischen Wucht der stalinistischen Kunsterzeugnisse Herr zu werden, ohne oberlehrerhaft den Zeigefinger zu erheben.

Und auch dies ist eine Erkenntnis, die diese Ausstellung bereit hält: Zwar scheinen diese Bilder aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen, doch sind die Mechanismen, die dort zur Anwendung gelangen, auf der anderen Seite sehr aktuell. Denn diese Zusammenschau erfüllt, was man über jede gelungene Kunstausstellung sagen kann: Sie gibt nicht nur Auskunft über die Vergangenheit, sondern ist auch imstande, den Blick auf die Gegenwart zu bereichern. Traumwelten zu kreieren, darin aufzugehen und Befriedigung zu finden, ist eines der zeitübergreifenden und regimeunabhängigen Grundbedürfnisse der Menschen. Der Sozialistische Realismus war die erste echte Form von Massenkultur - nicht nur, weil er für die Masse gedacht war, sondern weil er sich Methoden zunutze machte, von denen sich seine Urheber sicher sein konnten, dass sie die Massen auch erreichen.

Bis dahin war die Kunstbetrachtung einem adligen und bürgerlichen, auf jeden Fall aber gebildeten Publikum vorbehalten. Das änderte sich nun - einmal in der herkömmlichen Malerei, aber auch unter Einsatz moderner und modernster Techniken wie der Fotografie, dem Plakat und dem Kino. Und es ist schon interessant und paradox, dass die Darstellung einer sozialistischen Wirklichkeit sich dabei Verfahren bediente, die ihren Ursprung im Bereich der kapitalistischen kommerziellen Werbung haben.

Der Stalinismus existiert zum Glück schon lange nicht mehr. Doch die Menschen sind nach wie vor anfällig für massenkulturelle Manipulation, für irrationale Heilsversprechen und das Vorgaukeln von Realitäten, die sich nur als Bilder materialisieren."Die charakteristische Hysterie unserer Zeit dreht sich um die Produktion und Reproduktion des Realen". Das schrieb der französische Soziologe Jean Baudrillard einmal in einem seiner Aufsätze. 1978 war das, in dem Essay "Die Präzession der Simulakra", und hat von seiner Gültigkeit bis heute nichts eingebüßt.

So ist diese Ausstellung in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Sie handelt von der Verblendung und Korrumpierbarkeit, aber auch von der Freiheit der Kunst. Denn sie illustriert, was geschieht, wenn die Kunst ihre Freiheit verliert. Ich wünsche Ihnen, den Organisatoren, viel Erfolg und viele Besucher, und den Festgästen einen scharfen Blick, einen gewinnbringenden Ausstellungsrundgang und anregende Gespräche. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.