Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 24.09.2003

Untertitel: Nur die Vereinten Nationen können die Legitimität garantieren, die nötig ist, um der irakischen Bevölkerung den raschen Wiederaufbau ihres Landes unter einer eigenständigen, repräsentativen Regierung zu ermöglichen. Deutschland ist bereit, einen solchen Prozess zu unterstützen: durch humanitäre, technische und ökonomische Hilfe oder auch durch Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte.
Anrede: Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/531138/multi.htm


Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der 58. Generalversammlung der Vereinten Nationen am Mittwoch, 24. September 2003, 12.47 Uhr ( 18.47 Uhr MESZ ) , in New York

Ich gratuliere zunächst dem Präsidenten zu seiner Wahl zum Vorsitzenden dieser 58. Generalversammlung und wünsche ihm viel Erfolg für seine Arbeit.

Ich danke Präsident Kavan für das Engagement, mit dem er die 57. Generalversammlung geleitet hat. Den Ausführungen der italienischen Ratspräsidentschaft für die Europäische Union schließe ich mich an.

Herr Präsident, dies ist ein besonderes Jahr für Deutschlands Mitarbeit in den Vereinten Nationen. Die Geschichte erinnert und weist uns zugleich den Weg. Vor 30 Jahren, am 18. September 1973, haben die Vereinten Nationen Deutschland die Rückkehr in die Völkerfamilie ermöglicht.

Mein Vorgänger, der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, hat dafür die Grundlagen geschaffen. Sein Ansehen als Antifaschist hat für Deutschland wieder Vertrauen wachsen lassen. Sein Engagement als überzeugter Internationalist ging weit über die Entspannungspolitik im damaligen Ost-West-Konflikt hinaus. 1980 richtete Bundeskanzler Willy Brandt mit seinem "Nord-Süd-Bericht" eine dringliche Erwartung an die Staatengemeinschaft.

Er sagte: "Die Globalisierung von Gefahren durch Krieg, Chaos, Selbstzerstörung erfordert eine Art'Weltinnenpolitik', die über die nationalen Grenzen weit hinausreicht."

Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Aufgabe fühlen wir Deutsche uns verpflichtet, nicht zuletzt weil die Geschichte uns den Weg weist. Es ist der Weg in eine intensive internationale Zusammenarbeit natürlich unter dem Dach der Vereinten Nationen, die wir - auch durch mutige Reformen - weiter stärken müssen. Es ist der Weg zu einer universalen Ordnung des Rechts und der Menschenwürde, des verantwortlichen Regierens und der Teilhabe aller Menschen am Wohlstand in der Welt, und es ist der Weg zu Sicherheit und Frieden durch umfassende Prävention:

Wir müssen, auf der Basis eines effektiven Multilateralismus, entschlossen handeln, wo Frieden gefährdet und Menschenrechte verletzt werden. Aber wir müssen uns genauso entschlossen engagieren, Konflikte zu vermeiden und stabile Strukturen zu schaffen, damit die Menschen ihr Leben in Freiheit und tolerantem Miteinander führen können.

Herr Präsident, vor 30 Jahren war Deutschland ein durch den Eisernen Vorhang geteiltes Land mit nur eingeschränkter Souveränität. Heute ist Deutschland eine souveräne Nation, eine zivile Macht im Herzen des geeinten Europas. Wir leben in einem gemeinsamen Raum der Freiheit, des Rechts, des Wohlstands und der sozialen Verantwortung. Dies zeigt: Eine Entwicklung zu Gerechtigkeit und Frieden ist möglich, und wir werden nicht nachlassen, diese Entwicklung zu fördern: ob im Nahen Osten, in Afrika oder in anderen Krisengebieten.

Im Bewusstsein unserer eigenen Geschichte nehmen wir unsere Verantwortung für eine kooperative Friedenspolitik wahr. Wir tun das mit wirtschaftlichen, politischen und humanitären Mitteln.

Aber wir übernehmen auch, Seite an Seite mit unseren Partnern in der NATO und in der Europäischen Union, militärische Verantwortung dort, wo das zur Sicherung des Friedens und zum Schutz der Menschen unumgänglich ist. Mehr als 9.000 Angehörige der deutschen Streitkräfte und der deutschen Polizei sind heute in internationalen Friedensmissionen im Einsatz.

Unser Engagement für den Frieden in Afghanistan steht dabei an erster Stelle. Deutschland ist bereit, dort anhaltend engagiert zu bleiben - auch über das bisherige Maß hinaus.

Grundlage für dieses Engagement ist die Charta der Vereinten Nationen. Deutschland hat sich in jenem Vertrag, der unsere Einheit begründet hat, verpflichtet, seine Streitkräfte ausschließlich im Rahmen der Vereinten Nationen einzusetzen. Die Charta gibt uns - ich zitiere - "die notwendigen Bausteine an die Hand, damit unser gemeinsamer Begriff von Menschlichkeit niemanden ausschließt, und die Werte von Toleranz und Menschenwürde für alle Menschen und Völker gelten."

So hat es Sergio Vieira de Mello formuliert, der am 19. August 2003 einem verbrecherischen, hinterhältigen Anschlag in Bagdad zum Opfer fiel. Mit ihm wurden 22 Personen getötet, darunter viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vereinten Nationen. Ihr Einsatz galt den Menschen im Irak und deren Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ich denke, ihr Tod verpflichtet uns und ist uns Vermächtnis.

Unsere Antwort muss sein, die Rolle und das Engagement der Vereinten Nationen im Irak zu stärken. Nur die Vereinten Nationen können die Legitimität garantieren, die nötig ist, um der irakischen Bevölkerung den raschen Wiederaufbau ihres Landes unter einer eigenständigen, repräsentativen Regierung zu ermöglichen. Mein Land, Deutschland, ist bereit, einen solchen Prozess zu unterstützen: durch humanitäre, technische und ökonomische Hilfe, aber auch durch Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte.

Herr Präsident, internationaler Terrorismus, zerfallende staatliche Strukturen und die Gefahr der Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen bedrohen unsere gemeinsame Sicherheit.

Wie also muss unser Weg zu mehr Sicherheit aussehen?

Wir müssen die Terroristen und ihre Hintermänner stellen und deren Infrastruktur zerschlagen - daran kann kein Zweifel sein - , und wir müssen die Weiterverbreitung von Atomwaffen und anderen Massenvernichtungsmitteln verhindern, die Inspektionsregime stärken und eine Politik der kontrollierten Abrüstung betreiben.

Aber die Geschichte und unsere unmittelbare Erfahrung lehren uns auch, dass wir scheitern werden, wenn wir unser Denken und Handeln auf militärische und polizeiliche Aspekte verengen. Wir müssen an den Wurzeln des Terrorismus und an den Ursachen von Unsicherheit ansetzen. Um Fanatismus zu bekämpfen, müssen wir für soziale und materielle, aber auch für kulturelle Sicherheit sorgen.

Dies können wir nur auf der Grundlage eines nicht verengten, umfassenden Sicherheitsverständnisses erreichen. Um Ruchlosigkeit zu bekämpfen, müssen wir der Rechtlosigkeit Einhalt gebieten. Hierin liegt die zentrale Aufgabe der internationalen Gerichtsbarkeit, besonders des Internationalen Strafgerichtshofs.

Um die Menschen für den Weg der Freiheit, des Friedens und der gesellschaftlichen Offenheit zu gewinnen, müssen wir ihnen helfen, in gesicherten gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen mehr Teilhabe und mehr Wohlstand zu erreichen.

Wir können das beispielhaft in Afghanistan sehen. Dort ist es der internationalen Staatengemeinschaft gelungen, die Menschen vom Joch der Taliban und der Al Qaida zu befreien. Parallel dazu sind bei der Petersberg-Konferenz in Bonn - unter der Ägide der Vereinten Nationen - politische Perspektiven für eine Neuordnung Afghanistans erreicht worden.

Diesen Prozess müssen wir durch nachhaltiges internationales Engagement auch bei der Schaffung von Sicherheit im Lande weiter begleiten. Der Kampf gegen den Terrorismus - davon bin ich überzeugt - kann dauerhaft nur gewonnen werden, wenn die Menschen den Erfolg dieses Kampfes in ihrem eigenen Leben spüren. Sie müssen erleben, dass eine Rückkehr in die internationale Gemeinschaft für sie zu mehr Freiheit, zu mehr Sicherheit, aber auch zu mehr persönlichen Entwicklungschancen und größerer Teilhabe am Wohlstand führt.

Herr Präsident, zweifellos haben wir bei der Durchsetzung unserer gemeinsamen, in der Charta vereinbarten Ziele bereits Vieles erreicht. Mehr Länder als je zuvor haben heute demokratische Regierungen. Gemeinsam haben wir mehr Menschen als je zuvor aus der Armut führen können.

Doch die Gräben zwischen Arm und Reich in der Welt sind längst nicht überwunden, der Kampf gegen Hunger, Unrecht und Unterdrückung ist nicht gewonnen. Armutsbekämpfung bleibt auch ein Imperativ unserer Friedens- und Stabilitätspolitik.

Die Zahl der Kriege zwischen Staaten hat drastisch abgenommen. Auf dem Balkan beispielsweise ist es uns gelungen, durch den beherzten Einsatz der NATO und der Vereinten Nationen Kriege zu beenden, teils schon im Ansatz zu verhindern.

Andererseits ist unsere Welt - nicht erst seit den barbarischen Terrorangriffen auf New York und Washington, aber auch in Bali, Casablanca, Moskau oder Djerba - auf dramatische Weise unsicherer geworden. Neue Bedrohungen, derer kein Staat der Welt allein Herr werden kann, erfordern mehr denn je internationale Zusammenarbeit. Aber sie erfordern auch neue Strategien. Deshalb sind wir aufgerufen, die Instrumente der Vereinten Nationen im Hinblick auf die neuen Herausforderungen zu überprüfen.

Wir alle tragen Verantwortung dafür, die Menschen und ihre Rechte nicht nur vor zwischenstaatlichen Kriegen zu schützen, sondern auch vor Völkermord und den Folgen einer asymmetrischen, privatisierten Gewalt. Eine politische Verpflichtung zu umfassender Prävention muss das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, aber auch die Institutionen des Völkerrechts weiter stärken.

Innerhalb der Vereinten Nationen müssen wir die Kraft zu den überfälligen institutionellen Reformen finden. Die Vorschläge des Generalsekretärs finden die volle Unterstützung meiner Regierung. Wir müssen uns darauf verständigen, wie wir Kompetenzen, Kapazitäten und knappe Ressourcen noch besser als bisher zuordnen und einsetzen.

Ich teile die Auffassung des Generalsekretärs, dass die Legitimität des Sicherheitsrats davon abhängt, dass er repräsentativ für alle Völker und Regionen ist. Eine Reform und Erweiterung - gerade auch um Vertreter der Entwicklungsländer - ist notwendig.

Für Deutschland wiederhole ich, dass wir im Rahmen einer solchen Reform auch selbst bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen.

Herr Präsident, die Welt des 21. Jahrhunderts hält für uns Menschen viele Möglichkeiten bereit - Wege zur guten, aber auch zur schlechten Entwicklung. Beides, die Fülle der Chancen, aber auch die Größe der Gefahren, zwingt uns zur internationalen Partnerschaft sowie zur Stärkung und Ausweitung des Multilateralismus. Wir werden unsere Welt nur sicherer machen können, wenn wir in der Lage sind, sie auch gerechter machen.

Die geeignete Plattform dafür hat sich die Staatengemeinschaft geschaffen: Es sind und bleiben die Vereinten Nationen. Lassen Sie uns gemeinsam die Vereinten Nationen noch stärker machen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und mehr Gerechtigkeit in der Welt zu schaffen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.