Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 25.09.2003
Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur aktuellen Lage im Irak vor dem Deutschen Bundestag am 25. September 2003 in Berlin
Anrede: Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/44/557344/multi.htm
Frau Präsidentin! Anlass der Reise nach New York war der 30. Jahrestag des Beitritts Deutschlands zu den Vereinten Nationen, besser gesagt: der Wiederaufnahme Deutschlands in die Vereinten Nationen. Ich hatte dort deutlich zu machen, was Kern unseres Selbstverständnisses in dieser internationalen Organisation ist. Meine zentrale Aussage war: Unser Land nimmt im Bewusstsein seiner Geschichte Verantwortung für kooperative Friedenspolitik wahr - mit wirtschaftlichen und politischen, aber, wo erforderlich, auch gemeinsam mit den Partnern in der NATO und der Europäischen Union mit militärischen Mitteln.
9.000 Soldatinnen und Soldaten aus Deutschland sind für unterschiedliche Friedensmissionen legitimiert, durch die Vereinten Nationen und natürlich durch dieses Hohe Haus. Gerade deswegen wollen wir deutlich machen, dass sich unser Sicherheitsbegriff nicht in militärischen Fragestellungen erschöpft, sondern wir bei den Ursachen der Konflikte, die zu lösen anstehen, ansetzen und immer wieder ansetzen wollen. Ich lege Wert darauf, dass deutlich wird: Armutsbekämpfung in einem sehr umfassenden Sinne ist Teil vernünftig verstandener Sicherheitspolitik.
Genauso deutlich muss werden, dass angesichts neuer Bedrohungen eine effektivere multilaterale Zusammenarbeit mehr denn je notwendig ist. Das ist der Grund, warum wir uns in New York für eine Stärkung der Vereinten Nationen und für eine Verbesserung ihres Instrumentariums eingesetzt haben. Wir unterstützen die Reformvorschläge, die der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, gemacht hat, Reformvorschläge, die zu einer noch besseren Legitimation des Sicherheitsrates führen sollen und - wir sind optimistisch, was die Umsetzung angeht - auch führen werden. Dabei geht es insbesondere um die Erweiterung des Sicherheitsrates, und zwar durch Staaten der Dritten Welt, aber unter Umständen auch - das ist in den Diskussionen und Wortbeiträgen aller deutlich geworden - durch eine stärkere Einbeziehung Deutschlands beziehungsweise Japans. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass wir bereit sind, zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, dass dies aber im Rahmen des Reformprozesses, um den es dabei geht, geschehen sollte und geschehen wird.
Selbstverständlich haben im Mittelpunkt dessen, was diskutiert worden ist, unterschiedliche internationale Fragestellungen gestanden. Diese waren auch Thema der bilateralen Gespräche, die ich sowohl mit dem amerikanischen Präsidenten als auch den Präsidenten Russlands und Frankreichs sowie den Staats- und Regierungschefs anderer betroffener Länder geführt habe. Im Mittelpunkt stand zum Beispiel die Entwicklung der Situation in Afghanistan. Ich denke, es ist richtig und wichtig, dass auch in diesem Hause deutlich wird, wie sehr unsere Partner in der internationalen Politik den Beitrag Deutschlands insbesondere in Afghanistan schätzen.
Ich hatte Gelegenheit, ein ausführliches Gespräch mit dem afghanischen Präsidenten Karzai zu führen, der berichten konnte - es wird von anderen bestätigt - , dass es ihm gelungen ist, zu einer Stabilisierung in seinem Land beizutragen. Er hat deutlich gemacht, dass es Anzeichen für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und natürlich auch für eine verbesserte Sicherheitslage gibt. Genauso klar muss indessen allen sein, dass diese positive Entwicklung in sich zusammenbrechen würde, wenn die internationale Staatengemeinschaft ihre Hilfe einstellte. Besser wäre es, wenn beschlossen würde - das werden wir tun - , diese internationale Hilfe als Beitrag zur Gewährleistung von mehr Sicherheit und verbesserten Aufbaubedingungen in diesem Land auszuweiten. Deswegen haben wir sehr intensiv über verbliebene Probleme gesprochen. Mir liegt daran, auch hier zu verdeutlichen, dass insbesondere die Situation im Süden und Südosten Afghanistans nicht der Sicherheitslage entspricht, die nötig ist, um auch dort von einer umfassenden Sicherheit sprechen zu können, soweit man das in diesem Land überhaupt tun kann.
Mit den Partnern in der NATO und der EU werden wir dafür sorgen müssen, dass insbesondere der pakistanische Präsident und seine Regierung alle Möglichkeiten der Taliban, sich jenseits der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan aufzuhalten, unterbunden werden. Es wird wichtig sein, dass die pakistanische Regierung in dieser Frage noch besser als in der Vergangenheit kooperiert.
Es wurde auch anerkannt - das ist keine Überraschung - , dass wir uns entschlossen haben, unser Engagement in Afghanistan auf Kunduz auszuweiten. Ich kann anmerken, dass es dazu einer Ausweitung des ISAF-Mandats bedarf und die Wahrscheinlichkeit, dass dies positiv gesehen wird, sehr groß ist. Wir haben in dieser Frage sowohl die Zustimmung der Vereinigten Staaten von Amerika als auch die Frankreichs und Russlands, sodass ich davon ausgehe, dass in sehr kurzer Zeit eine entsprechende Ausweitung des Mandats der Vereinten Nationen erfolgt.
Selbstverständlich hat die Situation im Irak ebenso im Mittelpunkt der Gespräche gestanden und großen Raum eingenommen. Mir liegt deswegen daran, hier noch einmal die Position der Bundesregierung zur weiteren Entwicklung im Irak deutlich zu machen. Wichtig ist die gemeinsame Überzeugung, dass unabhängig von der Frage, wie man zur Notwendigkeit des Krieges stand - ob zustimmend oder nicht zustimmend - , die Staatengemeinschaft insgesamt - inklusive Europa und naturgemäß auch Deutschland - ein dringendes Interesse daran hat, dass es zu einem freien, demokratischen und in seinen Strukturen natürlich auch stabilen Irak kommt.
Ich glaube, dass ein stabiler Irak in der Region ein wichtiger Beitrag sein könnte, um auch zu mehr Stabilität in der Region zu kommen. Auch das war Gegenstand der Gespräche. Dabei ist in Bezug auf den Nahostkonflikt klar geworden, dass es zu der Roadmap, die das Quartett vereinbart hat, keine rationale Alternative gibt und dass es ungeachtet all der schrecklichen Schwierigkeiten, die es in der Region gibt, unsere gemeinsame Pflicht ist, immer wieder dafür zu sorgen, dass versucht wird, das, was in der Roadmap festgeschrieben worden ist, zu implementieren.
Der Wiederaufbau Iraks - das ist gemeinsame Auffassung - ist in erster Linie eine Angelegenheit der Iraker selbst. Es ist Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, verkörpert durch die Vereinten Nationen, ihnen dabei mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu helfen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die irakische Souveränität so rasch wie möglich und natürlich auch praktisch erfolgreich wiederherzustellen. Hierzu ist nach unserer Auffassung ein realistischer Fahrplan nötig, der einige zentrale Wegmarken enthalten muss. Zum einen geht es um die Ausarbeitung einer Verfassung und zum anderen um die Durchführung freier und demokratischer Wahlen, naturgemäß unter der Ägide der Vereinten Nationen. Dabei ist ein pragmatisches Vorgehen wichtig. Man muss vermutlich trennen zwischen der Übertragung von Souveränität in der eben erläuterten Weise und der Übertragung administrativer Regierungsgewalt an eine notwendigerweise zu schaffende provisorische Regierung des Irak.
Wir haben die Hoffnung, dass in diesen Eckpunkten auch im Weltsicherheitsrat Gemeinsamkeit hergestellt werden kann. Das erscheint deshalb möglich, weil es in dieser Frage prinzipiell keine Unterschiede gibt zwischen denen, die im Weltsicherheitsrat zu entscheiden haben. Sowohl Frankreich als auch wir, aber eben auch die Vereinigten Staaten von Amerika, sind der Auffassung, dass es einer Souveränitätsübertragung bedarf. Gegenwärtig verhandeln die Außenminister über die Frage, wie der Zeitplan beschaffen sein sollte. Darüber müsste man Einigkeit erzielen können. Das wird Sache der laufenden Verhandlungen in New York, aber auch der Gespräche, die die Außenminister zu führen haben, sein.
Klar ist, dass die internationale Staatengemeinschaft auch materiell wird helfen müssen. Dazu bedarf es natürlich zunächst einmal einer präzisen Bedarfsanalyse. Sie wissen, dass diese Bedarfsanalyse gegenwärtig von der Weltbank und vom IWF erstellt wird. Es geht um die Frage, was gebraucht wird, um den Wiederaufbau realistischer anzugehen. Dabei muss man berücksichtigen, dass der Irak nach Wiederaufnahme seiner Erdölförderung und Wiederherstellung und Absicherung der entsprechenden Ölpipelines ein potenziell reiches Land ist. Natürlich müssen die notwendigen Mittel erst mobilisiert werden, um sie für den Wiederaufbau einzusetzen. Gleichwohl gilt, dass die mittelfristig zu erwartenden Öleinnahmen eingesetzt werden müssen, um den Wiederaufbauprozess voranzubringen und zum Erfolg zu führen.
Erst nach Auswertung dieser Analyse macht eine Geberkonferenz, um die es geht, wirklich Sinn. Erst dann kann konkret bestimmt werden, was gebraucht wird und wer was zu leisten imstande ist. Bezogen auf den Beitrag Deutschlands will ich sehr klarmachen, dass wir nicht daran denken, uns im Irak militärisch zu engagieren. Angesichts unseres Engagements im Übrigen verstehen die Partner diese Haltung Deutschlands durchaus. Wir haben darüber hinaus klargemacht, dass wir bereit sind, die gegenwärtig durch uns geleistete humanitäre Hilfe - die ist beachtlich, auch im Vergleich zu anderen - weiterzuführen. Es wird in der nahen Zukunft darum gehen, ob und gegebenenfalls welche konkreten Projekte mit deutscher Hilfe durchgeführt werden können. Einige unserer Fachleute vom THW sind bereits im Irak im Einsatz. Natürlich achten wir dabei strikt darauf, dass die Sicherheit dieser Experten garantiert wird. Die internationalen Finanzinstitutionen sind in erster Linie berufen, Leistungen für den Wiederaufbau bereitzustellen. Darüber hinaus wird es um Hilfen von der Europäischen Kommission gehen.
Ich habe zudem deutlich gemacht, dass Deutschland bereit ist, beim Aufbau von irakischem Sicherheitspersonal selbst konkrete Hilfe zu leisten. Meine persönliche Überzeugung ist - sie wird von vielen geteilt - , dass es in der jetzigen Phase eben nicht in erster Linie darum geht, die Anzahl der im Irak eingesetzten Soldaten zu erhöhen, sondern zusätzliche Sicherheit vor allem dann hergestellt werden kann, wenn irakisches Sicherheitspersonal in ausreichender Zahl zur Verfügung steht; denn ausschließlich diese Menschen haben die Fähigkeit, mit der Bevölkerung umfassend zu kommunizieren, und ausschließlich diese Menschen verfügen über die notwendigen Kenntnisse von Kultur und Mentalität, um auf Dauer erfolgreich Sicherheit garantieren zu können.
Hier liegt der Grund, warum wir angeboten haben, bei der Ausbildung von Polizei mit bei uns gegebenenfalls vorhandenen Kapazitäten und Fazilitäten hilfreich zu sein. Wir können das in durchaus beachtlichem Maße, nicht zuletzt in Deutschland, machen. Wir sind aber auch bereit, dies in einem anderen Land in Zusammenarbeit mit unseren Partnern zu erwägen.
Mein Eindruck ist, dass der angebotene Beitrag durchaus Beachtung findet, weil insgesamt gesehen wird, dass vor allen Dingen die Ausbildung von irakischem Sicherheitspersonal, sei es schwerpunktmäßig Polizei, sei es aber auch Militär, geeignet ist, einen Sicherheitszuwachs herzustellen. Damit wird deutlich, dass der Beitrag Deutschlands hinsichtlich seiner internationalen Verpflichtungen und seiner Bereitschaft, mitzuhelfen, durch den Wiederaufbau und das Herstellen von Demokratie im Irak Stabilität in der Region zu schaffen, als beachtlich gewürdigt wird. So sollten wir das auch miteinander vertreten.
In den unterschiedlichen bilateralen Gesprächen sind über diese beiden Problembereiche hinaus insbesondere zwei Themen zutage getreten, bei denen es innerhalb der NATO und anderen internationalen Organisationen große Übereinstimmung gibt.
Der erste Punkt ist: Wie schafft man es, in Zukunft besser - ich könnte auch sagen: noch besser - dafür zu sorgen, dass Massenvernichtungswaffen nicht weiterverbreitet werden? Dabei hat sich gezeigt, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika bereit sind, dem VN-Sicherheitsrat in dieser Frage eine neue Bedeutung zu geben. Dies ist meiner Meinung nach ein positiver Ansatz, der dem entspricht, was Deutschland in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer vertreten hat, und den wir deswegen begrüßen und unterstützen können.
Der zweite Punkt ist die Sorge um die Entwicklung im Iran gewesen. Hier wird anerkannt, dass der Brief der Außenminister Englands, Frankreichs und Deutschlands klar gemacht hat, dass die Europäer, aber auch andere vom Iran erwarten, mit der Internationalen Atomenergiebehörde umfassend zu kooperieren. Ich denke, dass das ein Feld wichtiger Gemeinsamkeiten innerhalb Europas ebenso wie im transatlantischen Verhältnis ist. Wir haben alle ein Interesse daran, deutlich zu machen, dass wir gemeinsam die Erwartung haben, dass diese Kooperation umfassend geleistet wird und der Erfolg dieser Kooperation einen umfassenden Verzicht auf die Herstellung von Massenvernichtungswaffen durch den Iran bedeuten muss.
Deswegen sind wir auf einem guten Weg, insbesondere was den Reformprozess der Vereinten Nationen, was unsere Rolle als Teil der Vereinten Nationen und was die deutsche Rolle in den internationalen Konflikten, über die hier zu berichten war, angeht