Redner(in): Christina Weiss
Datum: 27.09.2003

Untertitel: Die Ausstellung ist als Fortsetzung der Festwochen-Ausstellung "Berlin - Moskau / Moskau - Berlin 1900-1950" eine in ihrer Art und Darstellung einmalige Werkschau, die im kommenden Jahr in der Tretjakow-Galerie Moskau gezeigt werden wird.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/23/533823/multi.htm


Ein Mann schnürt frühmorgens den Rucksack, schließt die Tür hinter sich und weiß, dass er schier Unmögliches zu tun beabsichtigt. Denn dieser Mann begibt sich von Berlin aus auf den Weg nach Moskau. Nicht mit dem Flugzeug, nicht mit der Bahn oder mit dem Auto. Der Mann geht zu Fuß. Tausende von Kilometern, bei Wind und Wetter, wie man so schön sagt.

In dieser Zeit durchmisst er nicht nur Straßen, Wege, Felder, blühende und weniger blühende Landschaften; er durchmisst auch ein enormes Potenzial an Erfahrungen. Mit Gegenden, mit Menschen, mit Kulturen.

Und Erinnerungen.

Man könnte sagen, er sei ein Verrückter, ein Abenteurer, dieser Mann. Nur auf der Suche nach einer Sensation, nach den Rändern seiner eigenen Existenzbedingung. Ich bin dieser Meinung keineswegs.

Das, was Wolfgang Büscher getan hat, fordert mir den allergrößten Respekt ab. Einmal, weil es in einer Zeit der Schnelllebigkeit, der fast unaufhaltsamen zivilisatorischen Progression, ein Gegenmodell kreiert: den Moment des Innehaltens, der eingehenden Betrachtung von Menschen und deren kultureller Identität.

Und zum anderen, weil dieser Reisende meines Erachtens weit mehr ist als nur ein Reisender mit einem sehr persönlichen Ziel. Er hat sich mit dieser Reise der Rolle eines Kulturvermittlers, eines Botschafters der Humanität verschrieben.

Er hat ein markantes Zeichen in die Welt geritzt. Ein Zeichen für Verständigung. Wolfgang Büscher hat, erlauben Sie mir dies emphatische Wort, mit seinem Weg von Berlin nach Moskau in gewisser Weise einen Brückenkopf geschlagen. Zwischen Ost und West. Zwischen zwei Kulturen, die einander seit jeher so nah und doch zugleich so fremd scheinen. Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß "- so lautet der Titel des Buches, das der Reisende nach seiner Heimkehr geschrieben hat. Wer es noch nicht gelesen hat, sollte dies schleunigst nachholen. Und ob es nun Zufall ist oder nicht: Das Buch ist just zu dem Zeitpunkt erschienen, als die" Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003 / 2004 " daran gingen, ihre ersten Höhepunkte zu feiern.

So etwa die Übergabe des legendären, nunmehr restaurierten Bernsteinzimmers im Katharinenpalast zu Zarskoje Zelo; so natürlich auch die Veranstaltungen im Rahmen der 300-Jahr-Feiern der Stadt Sankt Petersburg, um nur die renommiertesten Projekte des bilateralen Kulturdialogs zu nennen.

Wir wissen aus der Geschichte, auch aus der Geschichte Sankt Petersburgs, wie vielfältig - um ein vorsichtig bemessenes Wort zu verwenden - wie vielfältig die Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren und es noch sind. Politisch wie kulturell.

Das Politische hat, auch dies eine Erkenntnis gerade aus der jüngeren Geschichte, das Kulturelle zwar oft überwölbt, es gewissermaßen verschattet. Doch die kulturellen Bande zwischen Russland und Deutschland, zwischen Russen und Deutschen waren stark genug, diese Belastungen zu überstehen. Die kulturelle Energie treibt noch immer den Motor unserer Beziehungen an.

Und mit Fug und Recht dürfen wir heute sagen: Der Kulturaustausch zwischen Berlin und Moskau, doch nicht nur zwischen diesen beiden Hauptstädten, ist von einer Vitalität, die ihresgleichen sucht.

Die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen 2003 / 2004 stehen dafür ein. Sie machen, das darf ich wohl ohne Übertreibung und ohne Anmaßung sagen, schon jetzt ihrem Titel "Kulturen im Dialog" alle Ehre.

Hunderte Veranstaltungen im Bereich der Literatur, der Musik, der Bildenden Kunst, des Films, der Jugendkultur, zeigen, wie reich die Möglichkeiten zu einem solchen Dialog sind, wie vielfältig die Ausdrucksformen. In der Chronik der europäischen Kultur spielen sie eine zentrale Rolle; jenseits von wirtschaftlichen Zwängen, historischen Narben, hier und dort aufscheinenden Präjudizierungen.

Die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen befördern nicht nur den interkulturellen Dialog; sie sind ein wesentlicher Baustein der wachsenden Freundschaft zwischen beiden Völkern, Nationen.

Kurz: Zwischen den Menschen auf beiden Seiten.

Wie förderlich, wie wegweisend ein solcher Austausch sein kann, hat der italienische Schriftsteller Cesare Pavese angedeutet: Doch alles in der Geschichte ist Revolution; auch eine unmerkliche und friedliche Erneuerung oder Entdeckung.".

Einen kulturellen, kulturpolitischen Meilenstein innerhalb dieser Erneuerung und Entdeckung bildet die Ausstellung "Berlin-Moskau / Moskau - Berlin 1950 - 2000", die zu eröffnen ich heute Abend die Ehre habe.

Diese in ihrer Art und Darstellung einmalige Werkschau, die im kommenden Jahr in die Tretjakow-Galerie Moskau gezeigt werden wird, ist, wie Sie wissen, als Fortsetzung der Festwochen-Ausstellung "Berlin - Moskau / Moskau - Berlin 1900 - 1950" gedacht.

Und obwohl sie thematisch an ihre Vorgängerin anknüpft, verhält sich diese Werkschau doch ganz anders zu ihrem Gegenstand: der Kunst. Sie wandert nicht linear durch die Dekaden, sondern setzt thematische Akzente. Sie bildet künstlerische Konstellationen ab, die bislang so, und so deutlich, nicht gesehen wurden.

Der Blick auf fünfzig Jahre russische und deutsche Kunst ist selbstredend der von heute. Aber er ist beileibe kein nostalgischer oder ein rein ästhetischer Blick. Es ist ein prüfender, wägender, gleichsam komparatistischer Blick. Einer, der sich nicht scheut, die extremen Gegensätze der offiziellen und nicht-offiziellen Kunst zu vergegenwärtigen - mithin ein riskanter Blick.

In diesem Zusammenhang möchte ich schon jetzt eine Entscheidung der Kuratoren begrüßen. Und dies nicht nur, weil sie mutig ist, sondern weil sie ein Zeichen ist für die intellektuelle Kraft des Kulturdialogs: Die Ausstellung "Berlin - Moskau / Moskau - Berlin 1950 - 2000" trennt die Kunstwelten nicht, sondern integriert sie miteinander, ineinander.

Anders gesagt: Das gemeinsame Interesse an den heterogenen Entwicklungen hier wie dort wird punktuell und retrospektiv ausgelotet. Und das in allen erdenklichen Bereichen der Kunst.

Erklärtes Ziel der Ausstellung ist es, die Kunstwerke von ihren ursprünglichen Zuordnungen zu befreien, um einen neuen Blick zu gestatten. Im Mittelpunkt steht dabei, so der Wunsch der Kuratoren, die Frage nach dem Verhältnis von Massenkultur und künstlerischer Einzelleistung.

Meiner Meinung berührt dies eine der spannendsten Fragestellungen überhaupt der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Nämlich die Frage nach den Möglichkeiten, die ein Individuum innerhalb eines festgezurrten Systems besitzt. Hier wie dort. Vor fünfzig Jahren wie heute. Die Geschichtsschreibung berichtet davon nur selten.

Sie ordnet ein, sie ordnet zu, sie ordnet unter. Sie belässt, poetisch gesprochen, die Verwunderung im Schatten. Liebe aber, befand Stendhal, beginnt mit Verwunderung.

Eben diesen Mut zur Verwunderung zeichnet diese Werkschau im Speziellen aus. Im weiter gefassten Sinne tun es die Deutsch-Russischen Kulturbegegnungen. Wer sich nicht mehr wundern kann, dem wird das Unwahrscheinliche wohl nicht mehr begegnen.

Und wer nicht stets die Hoffnung auf die Weiterführung des kulturellen Dialogs hegt, der wird diesen Dialog nie verständnisvoll führen können. Der große und berühmte russische Dichter Alexander Puschkin hat dieses Phänomen in treffliche Verse gekleidet: Wie glücklich ist, wer ohne Beben / Die Leidenschaft sich eingesteht; / Wem im geheimnisvollen Leben / Die stille Hoffnung lieblich weht." In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine schöne, anregende und aufregende Ausstellung.

Vielen Dank!