Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.09.2003
Untertitel: Wir wissen, dass Deutschland, was die Zeitungsvielfalt angeht - und wir sagen das mit großem Stolz -, zu den Ländern gehört, die im internationalen Vergleich an der Spitze sind. Die Bundesregierung hat ein großes Interesse daran, dass das so bleibt.
Anrede: Sehr geehrter Herr Heinen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/60/548860/multi.htm
wir wissen, dass Deutschland, was die Zeitungsvielfalt angeht - und wir sagen das mit großem Stolz - , zu den Ländern gehört, die im internationalen Vergleich an der Spitze sind. Die Bundesregierung hat ein großes Interesse daran, dass das so bleibt. Die Auseinandersetzung, die wir unter Umständen führen müssen, geht also nicht um die Frage, ob das so bleiben soll, sondern sie geht ausschließlich um die Frage, wie man bewerkstelligt, dass es so bleibt.
Dies sollte das gemeinsame Ziel bleiben, weil ungeachtet der Nutzung neuer Medien sich die Zeitung als Informationsquelle ungebrochener Wertschätzung erfreut. Auch im Zeitalter moderner Kommunikationstechnologien haben die Zeitungen bei allen Schwierigkeiten ihren Platz verteidigen können.
Drei Viertel aller Deutschen lesen regelmäßig eine Tageszeitung. Dieses erstaunliche Leseverhalten ist übrigens nicht nur eine Chance für die Verlegerinnen und Verleger. Das beinhaltet auch ein gewisses Maß an Verantwortung. Hierzu gehören Genauigkeit und Wahrhaftigkeit in der Sache ebenso wie die Achtung der Würde der Menschen, die zum Gegenstand von Berichterstattung würden. Und ich füge hinzu: Auch Politiker, jedenfalls was die Berichterstattung über allzu Persönliches angeht, haben ein Recht, dass man ihre Würde achtet. Das sollte nicht ohne Grund oder gar mit unlauteren Gründen übersehen werden.
Pressefreiheit steht und fällt mit der Frage, wie nachhaltig gesichert die wirtschaftliche Basis der Medienunternehmen ist. Mit Bezug auf die aktuelle Diskussion über die Fusionskontrolle möchte ich daran erinnern, dass ich über diese Frage anlässlich eines ganz besonderen Ereignisses zum ersten Mal geredet habe. Das war beim Jubiläum des Verlages Neven DuMont in Köln. Herr Neven selber hat sich die ganze Zeit über nie die Chance entgehen lassen, mich immer wieder daran zu erinnern.
Es ist richtig, dass es um die wirtschaftliche Basis der Medienunternehmen nicht zum Besten steht - oder es jedenfalls besser sein könnte. Die Werbeeinnahmen sind in den letzten beiden Jahren um rund ein Viertel zurückgegangen. Dies ist auch eine Folge der seit zweieinhalb Jahren anhaltenden stagnativen Tendenzen. Aber es ist nicht nur eine Folge der Schwächephase, sondern es ist auch ein strukturelles Problem.
Der Anteil der jüngeren Leser ist insbesondere durch die Verbreitung des Internets rückläufig gewesen. Auch wenn sich das noch nicht aktuell in Zahlen umsetzt, ist es doch eine Gefährdung der wirtschaftlichen Position der Verlage. Aber immerhin noch die Hälfte der Jüngeren bis zu 29 Jahren informiert sich aus Zeitungen. Das ist eine gute Entwicklung, auf der Sie mit einem attraktiven Angebot aufbauen können.
In diesem Zusammenhang bin ich Ihnen für die vielfältige Unterstützung der Politik der Bundesregierung dankbar. Ich bin dankbar, dass Sie kostenlos Anzeigenraum zur Verfügung stellen, um offensiv Werbung für mehr Ausbildungsplätzen zu machen. Das liegt im Interesse der Entwicklung unserer Gesellschaft.
Für die Zukunft der Zeitung ist die Bewältigung des Strukturwandels eine zentrale Herausforderung. Es geht hier in erster Linie um unternehmerische Entscheidungen. Aber Herr Heinen hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es eben auch um Rahmenbedingungen geht - Rahmenbedingungen, die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Verlage erhalten und, wo immer es vertretbar und verantwortbar ist, entwickeln sollen. Also müssen wir über die Fusionskontrolle und ihre Überprüfung reden.
Ausgangspunkt dieser Diskussion ist sowohl der sich verschärfende internationale Wettbewerb als auch die schon skizzierte Konkurrenz anderer Medien zu den Produkten, die Sie entwickeln und vertreiben. Das sind gewichtige Gründe für eine Verbesserung der Kooperationsmöglichkeiten der Verlage.
Andererseits ist es unsere Aufgabe, Pressevielfalt zu bewahren. Auch dafür muss der Rahmen stimmen. Deshalb kann es nach meiner Auffassung bei diesem Thema nur eine einvernehmliche Lösung zwischen dem Verband und seinen Mitgliedern und der Bundesregierung und der Mehrheit des Parlamentes geben. Dies muss eine Lösung sein, die sowohl die Freiheit des Verlegers respektiert, die aber auch das gemeinsame Ziel realisiert, Pressefreiheit oder Pressevielfalt nicht zu gefährden, sondern zu erhalten.
Herr Präsident, Sie haben eine gemeinsame Position von Verlagen aller Größenordnungen angekündigt. Ich hoffe, dass diese Arbeit Erfolg haben wird. Denn wir wollen und können erst auf der Grundlage einer gemeinsamen Position handeln. Diese Entwicklung könnte helfen, die Modernisierung des Pressefusionsrechtes weiter voranzubringen.
Was die finanziellen Perspektiven der Zeitungen angeht, gibt es sorgenvolle Blicke nach Brüssel. Sie haben zum Beispiel. über die geplanten Regelungen im Rahmen der EU-Börsentransparenz-Richtlinie und die gesellschaftsrechtlichen Regelungen gesprochen. Sie haben Bedenken gegen den geplanten Wegfall der Veröffentlichungspflicht von Börsenpflichtmitteilungen und Handelsregisteranzeigen in den Zeitungen geäußert. Ich glaube, dass man hier nicht allen Wünschen entgegenkommen kann. Aber es muss angemessene Übergangsfristen geben. Wir wollen uns dafür einsetzen.
Ungleich bedeutender für die Bilanzen der Verlage sind die Einnahmen aus Werbung. Auch aus diesem Grund hat sich die Bundesregierung hier klar und deutlich gegen pauschale Werbeverbote für ganze Produktgruppen ausgesprochen. Ich sage ausdrücklich - und die Klage, die wir angestrengt haben, beweist das - : Wir sind gegen das Verbot der Tabakwerbung. Ich muss aber hinzufügen, damit das nicht missverstanden wird: Es ist Ziel der Bundesregierung, den Tabakkonsum, insbesondere bei Jugendlichen, zu reduzieren. Das ist ein unbestritten gefährliches gesellschaftliches Problem. Wir haben deshalb eine Vielzahl verschiedener Maßnahmen ergriffen. Dazu gehören die Anhebung der Tabaksteuer ebenso wie verstärkte Prävention und Aufklärung. Auch eine vereinbarte abgestufte Veränderung im Werberecht ist Teil dieses Paketes. Bestimmte Einschränkungen, zum Beispiel bei einzelnen Medien - etwa Rundfunk oder Kino - oder für bestimmte Zielgruppen, besonders Jugendliche, haben wir veranlasst.
Aber ein umfassendes Werbeverbot kann es nicht geben. In einer freien Gesellschaft muss für legale Produkte - mit Einschränkungen im Einzelnen - grundsätzlich geworben werden können. Das ist unsere Auffassung, und wir werden sie auch beibehalten.
Wir wollen mit dieser Klage erreichen, dass die Gemeinschaftskompetenzen im Bereich der Binnenmarktpolitik präziser geklärt werden. Denn den Rückgriff auf diese - so könnte man sagen - Kompetenz-Kompetenz kann man ja in allen Bereichen wirksam machen. Dann kommt man zu einer umfassenden europäischen Kompetenz, die auch dem widerspricht, was wir gerade mit der europäischen Verfassung im Sinne der Subsidiarität verändern wollen. Die Möglichkeiten von Werbung haben auch mit der Konsumentenfreiheit zu tun. Das ist etwas, was gemeinsam aufrechterhalten werden soll.
Ich will die Gelegenheit nutzen, ein paar Bemerkungen zu dem zu machen, was in den nächsten Wochen und Monaten ansteht. Wir stehen vor einem wichtigen Wendepunkt für unsere Gesellschaft. Wir sind gegenwärtig in einer Situation - und Sie spüren das ja keineswegs nur bei den Werbeeinnahmen, sondern Sie spüren das natürlich auch als Staatsbürger und als Leser der Zeitungen und Zeitschriften - , in der es Anzeichen dafür gibt, dass wir aus der stagnativen wirtschaftlichen Phase herauskommen. Alle mir bekannten Geschäftsindizes weisen in diese Richtung. Es gibt durchaus Anzeichen, dass die realwirtschaftlichen Vorgänge in die gleiche Richtung weisen.
Auf der anderen Seite sehen wir Gefährdungen, die nicht nur, aber auch aus der Euro-Dollar-Parität erwachsen. Es gibt Gefährdungen, die mit immer noch zu geringer Konsumneigung zu tun haben. Das gemeinsame Ziel muss daher sein, die positiven Anzeichen mit allen Mitteln zu unterstützen, damit wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa aus der Phase der Stagnation herauskommen. Diejenigen, die sonst immer als Vorbild in Europa bezeichnet wurden, sind im Moment in der Situation, dass deren Wachstum negativer als bei uns ist. Und dies, ohne dass sie die Lasten einer Wiedervereinigung zu bewerkstelligen. Lasten, die wir gerne übernehmen, die aber ökonomische Auswirkungen haben.
Wir haben in dieser Situation mit der Agenda 2010 Vorschläge gemacht, die Strukturen verändern und wirtschaftliche Entwicklung positiv beeinflussen. Wir haben zudem vorgeschlagen, die dritte Steuerreformstufe auf 2004 vorzuziehen. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir in der jetzigen Situation einen Dreiklang in den wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen aus Wachstumsimpulsen, Strukturreformen und Konsolidierung brauchen. Dieser auch für Europa wichtige Dreiklang muss von Deutschland ausgehen.
Das heißt erstens: Wir müssen angesichts radikaler Veränderungen an der ökonomischen Basis unserer Gesellschaft die sozialen Sicherungssysteme in ihren Strukturen in Ordnung bringen. Das ist eine zentrale Aufgabe, die wir haben. Dieser Reformweg wird mit der "Agenda 2010" beschrieben, und er muss Stück für Stück - das wird sich in diesem Herbst entscheiden - durchgesetzt werden. Zugleich wird diese Aufgabe durch die Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesellschaft erschwert. Beides erlaubt es uns nicht, zuzuwarten oder Verzögerungen in Kauf zu nehmen.
Zweitens: Wir müssen die Wachstumsimpulse unterstützen, ohne das Prinzip einer vernünftigen, langfristig angelegten Konsolidierungspolitik der öffentlichen Haushalte aufzugeben. Aber es gibt Situationen, in denen man auf der Basis des Stabilitäts- und - denn so heißt er - Wachstumspaktes mehr für Wachstum tun muss. In einer solchen Situation befinden wir uns. Wir wollen mehr für Wachstum tun, indem wir die Steuerreformstufe 2005 auf 2004 vorziehen.
Nun gibt es eine große Auseinandersetzung über die Frage der Finanzierbarkeit. Wir haben entschieden, dass wir für das eine Jahr - es geht nur um ein Jahr - die Finanzierung der Zinsen durch einen Mix aus Privatisierungserlösen, Subventionsabbau und Erhöhung der Nettoneuverschuldung sicherstellen.
Was dagegen eingewendet wird, ist: Ihr müsst weniger durch Nettoneuverschuldung finanzieren. Das heißt aber, dass das, was über das Vorziehen der Steuerreform zur Mobilisierung der Konjunktur in den Wirtschaftskreislauf gegeben wird, an anderer Stelle dem Kreislauf wieder entzogen werden muss. Das macht wenig Sinn. Ich hoffe, dass diejenigen, die im Bundesrat die Mehrheit haben, erkennen, dass wir uns in einer Situation befinden, in der man diesen Wachstumsimpuls so setzen muss, dass er auch konjunkturell Erfolg haben kann und nicht durch eine bestimmte Form der Finanzierung konterkariert wird.
Drittens haben wir die Aufgabe, mittel- und langfristig bei einer vernünftigen, das Wachstum nicht unterbindenden Konsolidierungspolitik zu bleiben.
Diesen Dreiklang werden wir im Herbst durchsetzen müssen, und ich bin sicher, dass wir ihn auch werden durchsetzen können. Dabei sind wir durchaus gesprächsbereit, wie sich bei der Gesundheitsreform gezeigt hat und sich bei der Rentenreform, die vor uns steht, zeigen wird. Aber wir hoffen auch, dass wir eine Schubkraft in die öffentliche Debatte bekommen, damit diese Reformen nicht zerredet und in parteipolitischen Egoismen kaputt gemacht werden, sondern der wirtschaftlichen Entwicklung und damit unserem Volk zugute kommen.
Ich glaube, dass dieses Reform-Fenster nicht sehr lange offen sein wird, vielleicht nur in diesem Herbst. Deswegen werbe ich vor Ihnen auch nicht für Kritiklosigkeit, die man nicht erwarten kann, aber für eine Unterstützung des Reformwillens, der im Volk spürbar ist. Wenn es den unterschiedlichen Interessengruppen und parteipolitischen Egoismen gelingen sollte, das Werk, das wir mit der "Agenda 2010" begonnen haben, zu stoppen, dann wird es nicht wieder erneut begonnen werden können.