Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 02.10.2003

Untertitel: Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich der Eröffnungsveranstaltung des Deutsch-Spanischen Forums am 2. Oktober 2003 in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber José Maria, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/46/536946/multi.htm


Ich freue mich, hier Gastgeber sein zu können. Wir wollen heute über die Perspektiven für Europa diskutieren.

Die Jahre 2003 und 2004 werden historische Jahre für Europa sein, und zwar aus drei nahe liegenden Gründen:

Erstens werden wir im Jahr 2004 den Prozess der Erweiterung, der jetzt unmittelbar ansteht, abgeschlossen haben. Das bedeutet, dass die Erweiterung der Europäischen Union politisch gelöst ist, ökonomisch indessen verkraftet werden muss.

Zweitens. Wir haben 2004 dafür zu sorgen, dass nicht nur eine Erweiterung stattfindet, sondern Europa politisch führbar bleibt. Politisch führbar bleibt es dann und nur dann, wenn wir der Erweiterung zugleich die Vertiefung hinzufügen, wenn wir also den Verfassungsprozess, der jetzt eingeleitet ist, erfolgreich abschließen können.

Drittens. Wir müssen dann eine genauere Vorstellung davon entwickeln, wie dieses erweiterte und vertiefte Europa inhaltlich aussehen soll und wie es sich auf den unterschiedlichsten Gebieten entwickeln soll.

Zu den drei Fragen will ich kurz Stellung nehmen:

Erstens: Der Prozess der Erweiterung ist verstanden worden. 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in allen Ländern sind für diesen Prozess, wenn sie auch nicht mit allen einzelnen Maßnahmen einverstanden sind, die in diesem Prozess notwendig waren und sein werden. Die Tatsache, dass wir durch die Erweiterung der Europäischen Union die große Chance haben, Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens und dauerhaften Wohlergehens seiner Menschen zu machen, ist verstanden worden. Niemand hat das Recht, diese Chance verstreichen zu lassen. Deswegen war es möglich, wenn auch nicht einfach, sich auf den Konferenzen in Brüssel und später in Kopenhagen auf diesen Erweiterungsprozess zu einigen.

Die Beratungen von Kopenhagen waren der Abschluss dieses schwierigen Prozesses. Wenn es die Konferenz in Brüssel, auf der wir uns über die Grundzüge einer veränderten Landwirtschaftspolitik geeinigt hatten, nicht gegeben hätte, wäre dieser Prozess wohl sehr viel schwieriger und viel länger vonstatten gegangen. Ich erwähne das nur, um deutlich zu machen, dass im Europa der Fünfzehn eine Reihe wichtiger und schwieriger Kompromisse nötig waren, um den Erweiterungsprozess in Kopenhagen abschließen zu können.

Zweitens habe ich von Vertiefung zu reden. Das meint, dass der Verfassungsprozess erfolgreich sein muss. Der Konvent unter Giscard d'Estaing war in kurzer Zeit im Stande, eine so weit reichende, so präzise und erfolgreiche Arbeit abzuliefern, was die Zuordnung der Institutionen zueinander angeht. Deswegen müssen wir uns klar machen, dass dieser Prozess, der durch die Arbeit des Konvents erfolgreich eingeleitet und inhaltlich erfolgreich abgeschlossen worden ist, jetzt auf den Regierungskonferenzen ebenso vollendet werden muss. Wir haben uns darauf verständigt, diesen verfassungsgebenden Prozess in der italienischen Präsidentschaft, also bis Weihnachten dieses Jahres, abzuschließen. Ich habe die Hoffnung, dass das gelingt.

Worum geht es dabei insbesondere? Es geht zunächst um die Aufnahme der Grundrechtscharta in eine solche Verfassung. Es geht um die Zuordnung der Institutionen zueinander. Es geht natürlich auch darum, bestimmte Verhältnisse zwischen den Mitgliedstaaten zu klären.

Der Konvent hat die Zuordnung der europäischen Institutionen zueinander erfolgreich bewältigt. Der Konvent hatte darüber zu entscheiden, wie das Verhältnis von Parlament, Rat und Kommission sein sollte. Herausgekommen ist eine gestärkte Kommission mit weiterreichenden Rechten für den Kommissionspräsidenten und mit einer Zuordnung, die es der Kommission erlaubt, ihre Aufgaben als Hüterin des Vertrags wirklich wahrzunehmen.

Wir werden eine Ratspräsidentschaft haben, die kontinuierlicher arbeiten kann, als das gegenwärtig der Fall ist. Es zeigt sich mehr und mehr: Je integrierter die Europäische Union ist, je weit reichender also ihre Entscheidungen bis hinein in einzelne Sachverhalte der Mitgliedstaaten sind, umso effektiver muss die Arbeit organisiert werden. Deswegen waren die halbjährlich wechselnden Präsidentschaften zu überwinden. Das ist auf Vorschlag des Konvents auch gelungen und ins Werk gesetzt worden.

Wir haben mit der Stärkung des Europäischen Rates natürlich die Frage zu beantworten, was die Rechte des Parlamentes sein sollen. Auch hierbei zeigt sich, dass der Konvent Vorschläge, die zu einer Stärkung des Europäischen Parlamentes führen, gemacht hat.

Deutschland ist mit dem Ergebnis des Konvents nicht wunschlos zufrieden. Zum Beispiel haben wir Fragen zum Letztentscheidungsrecht des Parlaments in Budgetfragen. Dies kann man angesichts der Tatsache, dass wir der größte Nettozahler in der Europäischen Union sind, verstehen.

Generell sind wir der Auffassung, dass das Konventergebnis ungeachtet von Einzelheiten, an denen wir durchaus auch Kritik üben, so ist, dass es schwierig sein wird, ein besseres Ergebnis zu Stande zu bringen. Das hat uns zu der Formel gebracht: Jeder, der dieses Kompromiss-Paket aufschnürt, hat zugleich die Verpflichtung, dass ein neuer Konsens zu Stande kommt. An dieser Aufgabe werden sich viele die Zähne ausbeißen, die in der einen oder anderen Weise das Paket wieder aufschnüren wollen.

Ich sage es noch einmal: Auch Deutschland hätte bezüglich der einen oder anderen Frage Wünsche oder Erwartungen, die anders als das Ergebnis sind. Aber im Interesse des Vertiefungsprozesses sind wir bereit, das Konventergebnis so, wie es ist, in der Regierungskonferenz zu beschließen und damit den Verfassungsprozess fristgerecht abzuschließen.

Der zweite Bereich, der geglückt ist und den man angesichts der Kompromissnotwendigkeiten nicht besser hätte bewältigen können, ist das Verhältnis zwischen den Entscheidungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden, und denen, die in der nationalen Zuständigkeit verbleiben müssen und sollen. Der wiederholt herangezogene Gesichtspunkt der Subsidiarität ist im Konventergebnis so gelöst worden, dass es - jedenfalls für uns - auch unter diesem Gesichtspunkt zustimmungsfähig ist.

Dann stellt sich die Frage: Was sind über den erfolgreichen Abschluss des Erweiterungsprozesses und des Vertiefungsprozesses hinaus die Aufgaben, die wir in Zukunft vordringlich zu lösen haben werden? Wer sich diese Frage stellt, muss eine Vorstellung davon entwickeln, wie dieses Europa inhaltlich aussehen soll.

Ich will drei Politikbereiche nennen, denen wir in nächster Zeit besondere Aufmerksamkeit widmen müssen:

Erstens geht es um die Frage der materiellen Basis des erweiterten Europas. Wer sich die Arbeitsweise der Kommission genau anschaut, der stellt fest, dass wir notwendigerweise auf verschiedenen ökonomischen Gebieten gewaltige Integrationsaufgaben zu leisten hatten und auch geleistet haben. Er stellt aber zugleich fest, dass die Gefahr besteht, dass der industriellen Entwicklung Europas nicht die Aufmerksamkeit zuteil wird, die dieses Europa braucht. Wir brauchen in Europa aber mehr Sensibilität für die industrielle Basis des Kontinents und dessen Entwicklung. Deswegen werden wir diesem Tatbestand in verschiedenen Politikbereichen - etwa auf dem Gebiet der Chemikalienpolitik und auch auf dem Gebiet der Energiepolitik - mehr Aufmerksamkeit widmen müssen.

Um es vereinfacht auszudrücken: Wir brauchen die Integration der Finanzmärkte. Wir brauchen ein europäisches Konzept für Umweltschutz. Aber wir brauchen vor allen Dingen ein europäisches Konzept, das geeignet ist, die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents im Rahmen der Triade Europa-Amerika-Asien zu entwickeln und dort, wo sie verloren gegangen ist, wieder herzustellen.

Das macht sich etwa an dem Gebiet der Chemikalienpolitik fest. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ein bürokratisches Monstrum serviert bekommen, das die Konkurrenzfähigkeit Europas zerstören könnte. Das macht sich auch an Fragen wie der einer Übernahmerichtlinie fest, wo europaweit ein "level playing field" geschaffen werden soll. Man übersieht aber, dass die gleichen Regelungen auch stimmen müssen, wenn es etwa um das Verhältnis Europas zu Asien, aber auch zu den Vereinigten Staaten von Amerika geht.

Die zweite Aufgabe betrifft die Schaffung dessen, was wir einen einheitlichen Raum des Rechts und der inneren Sicherheit nennen. Dabei sind erhebliche Fortschritte gemacht worden. Nicht zuletzt der spanische Ministerpräsident ist es gewesen, der hierbei in seiner Präsidentschaft wichtige Impulse gesetzt hat. Was die Sicherung der Außengrenzen oder eine gemeinsame Einwanderungspolitik angeht, sind sicherlich wichtige Fortschritte gemacht worden, die wir aber weiter ausbauen müssen.

Das dritte Feld ist die Außen- und Sicherheitspolitik. Hierbei geht es um die Ausfüllung dessen, was mit dem Begriff der ESVP gemeint ist, naturgemäß im Rahmen der NATO und nicht gegen sie. Der Konventsentwurf enthält Möglichkeiten, auf diesem Feld besser voran zu kommen. Es geht darum, einen europäischen Pfeiler im Rahmen der NATO aufzubauen, also das NATO-Dach auf zwei Pfeiler zu stellen. Dazu sind wichtige Vorarbeiten geleistet worden, nicht zuletzt gemeinsam von Frankreich und Deutschland. Ich glaube im Übrigen sagen zu können, dass nach dem Treffen, das ich mit Präsident Chirac und mit dem Premierminister Tony Blair hier in Berlin hatte, in der Frage, ob ein solcher Pfeiler notwendig ist, ein großes Maß an Übereinstimmung besteht. Das gilt auch für die anderen Partner.

Worüber wir noch weiter reden müssen, ist die Frage der Zuordnung einer ESVP und ihrer Institutionen zu den Institutionen der NATO. Das macht sich insbesondere an der Frage fest, ob es einen Nukleus europäischer Verteidigungsplanungs- und Führungsfähigkeit geben muss. Wir und andere sind der Auffassung, dass es einen solchen Nukleus geben muss. Die Frage der Zuordnung zu SHAPE wird zu klären sein. Aber, wie der französische Präsident in den Beratungen gesagt hat, es gibt auch andere Vororte von Brüssel als Tervuren. Es sollte also möglich sein, die Frage der Zuordnung dieses europäischen Nukleus einerseits und SHAPE andererseits zu lösen. Ich bin jedenfalls ganz optimistisch, dass das gelingen wird.

Wir haben gute Aussichten, auch auf diesem Sektor der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik voran zu kommen. Fälle wie Mazedonien und der Kongo haben gezeigt, dass Europa immer dann, wenn die NATO - aus welchen Gründen auch immer - entweder nicht handeln kann oder nicht handeln will, auf diesem Sektor nicht handlungsunfähig bleiben darf. Insofern glaube ich, dass es im Wesentlichen diese Gebiete sind, die uns in den nächsten Monaten und Jahren inhaltlich beschäftigen werden.

Dabei sind Foren wie dieses außerordentlich hilfreich, und zwar in doppelter Weise: zum einen als sachverständiger Ratgeber für Politik und für unsere Entscheidungen, aber zum anderen um das Verständnis für die europäischen Probleme und die Lösungen, die gefunden werden, in die Zivilgesellschaft hinein zu vermitteln, um gelegentlich bestehende Sprachlosigkeit zwischen denen, die die Entscheidungen treffen, und denen, die von den Entscheidungen betroffen sind, aufzuheben. Das ist Hintergrund der Diskussion in diesem Forum, und das ist ein wichtiger Grund, warum ich mich sehr freue, Sie hier begrüßen zu können.

Ich freue mich umso mehr, als ich Gelegenheit hatte, unseren Gast, den spanischen Ministerpräsidenten, gestern Abend und heute hier begrüßen zu können. Ich habe das, lieber José Maria, sehr gerne getan und hoffe, dass wir gemeinsam dafür sorgen können, dass der gekennzeichnete Verfassungsprozess, dessen Beratungen übermorgen in Rom beginnen werden, in diesem Jahr erfolgreich abgeschlossen werden wird. Ich glaube, das ist, was immer wir in den Details noch auszudiskutieren haben, letztlich ebenso im Interesse Spaniens wie Deutschlands, weil es im Interesse Europas ist.