Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.10.2003

Anrede: Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Böhmer, lieber Herr Kertész, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/535831/multi.htm


Hochverehrter

Der 3. Oktober - kein Zweifel - ist für die Deutschen ein Tag der Freude. Wir freuen uns über die wiedererlangte Freiheit, die Voraussetzung für eine staatliche Einheit war. Wir freuen uns darüber, dass der 3. Oktober auch immer der Tag sein wird, an dem wir uns an den Mut erinnern, mit dem die Deutschen in der damaligen DDR die Mauer zum Einsturz gebracht und ein diktatorisches Regime beseitigt haben.

Inzwischen wachsen Jugendliche heran, die Mauer und Todesstreifen - zum großen Glück - nur aus Erzählungen und Geschichtsbüchern kennen, die aber womöglich Bilder von der großen Flut im vergangenen Jahr im Gedächtnis haben und behalten werden. Bilder, die nicht nur Zerstörung und Not zeigen, sondern auch den gelebten, praktizierten Gemeinsinn der Deutschen in Ost und West.

In den dreizehn Jahren der deutschen Einheit haben wir miteinander viel erreicht. Es war richtig und schön, Herr Ministerpräsident Böhmer, dass Sie darauf hingewiesen haben. Wir haben das vor allem aufgrund der Tatkraft und Courage der Menschen in den damals neu hinzugekommenen Ländern erreicht.

Trotz dieser beeindruckenden Aufbauleistungen ist die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern nach wie vor bedrückend hoch. Wir dürfen in unseren Anstrengungen, bei der Vollendung der Einheit in dem Sinne nicht gleiche, aber gleichartige Lebensverhältnisse herzustellen, sicher nicht nachlassen. Auch wenn vieles geschafft ist, machen wir uns keine Illusionen, dass noch ein langer und gelegentlich auch beschwerlicher Weg vor uns liegt.

Wir erinnern heute aber auch daran, dass Deutschlands Freiheit und Einheit nur im europäischen Kontext gelingen konnten. Beides wäre nicht möglich gewesen ohne die friedliche Revolution in Mittel- und Osteuropa von 1989, ohne das Zerschneiden des Stacheldrahts an der ungarischen Grenze, ohne die Solidarnosc-Bewegung in Polen oder ohne die samtene Revolution in Prag. Deshalb freue ich mich, dass Imre Kertész heute hier unter uns ist und zu uns sprechen wird.

Lieber Herr Kertész, Sie stehen mit Ihrem Lebenswerk dafür, die Menschlichkeit gegen die Erfahrung der Tyrannei in Deutschland zu setzen. Sie verkörpern die Kraft der europäischen Kultur. Sie haben nie nachgelassen, der europäischen Aufklärung das Wort zu reden, obwohl Sie selbst unter den teuflischen Abwegen der europäischen Geschichte, den Nazis, aber auch später den Kommunisten, gelitten haben. Sie haben geholfen - und wir sind Ihnen dankbar dafür - , dass wir Deutsche uns der Vergangenheit stellen und gemeinsam mit unseren Nachbarn die Zukunft Europas gestalten können. Es ist ein bewegender Augenblick, dass Sie heute mit uns in Deutschland unseren Tag der Einheit feiern.

Zwischen dem 3. Oktober 1990 und heute liegen nicht nur dreizehn Jahre deutscher Einheit, sondern auch dreizehn Jahre deutscher Souveränität - natürlich eingebettet in die europäische Integration. Deutsche Friedenspolitik ist deshalb eine Politik in Europa, für Europa und von Europa aus. Aber: Anders als noch 1990 kann sich Deutschland heute notwendigen Entscheidungen in der Außenpolitik nicht mehr entziehen. Wir können nicht mehr auf die Vergangenheit oder gar auf mangelnde Souveränität verweisen. Unsere Partner überall in der Welt erlauben uns das nicht.

Wir können durchaus stolz sein auf die Art und Weise, wie Deutschland seiner gewachsenen internationalen Verantwortung gerecht geworden ist. Wir haben dort, wo wir es für erforderlich hielten, auch militärische Verantwortung übernommen. 9.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten sind heute auf dem Balkan, im Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder auch in Afghanistan zum Schutze der Menschen und zur Herstellung von Sicherheit im Einsatz. Aber die deutsche Gesellschaft tut das ohne jeden "Hurra-Patriotismus". Ich denke, auch darauf können wir stolz sein.

Dort, wo wir überzeugt waren, dass die angenommene Bedrohung die Gefahren und Konsequenzen eines Krieges nicht rechtfertigt, haben wir auch den Mut gehabt, Nein zu sagen. Wir verfolgen als Zivilmacht im Herzen Europas eine Politik der Prävention und des Engagements für Sicherheit in einem sehr umfassenden Sinne: mit politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Mitteln und, wenn es sein muss - ich habe darauf hingewiesen - , auch mit militärischen Mitteln.

Für diese Politik finden wir Partner und große Übereinstimmung in der Europäischen Union, in der NATO und, wie ich erst in der vergangenen Woche wieder habe erfahren können, auch und gerade in den Vereinten Nationen.

Als stärkste Wirtschaftsmacht in der Europäischen Union tragen wir auch eine Verantwortung für Wachstum und ökonomischen Fortschritt nicht nur für Deutschland, sondern für Europa. Europa erwartet von uns zu Recht, dass wir die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Potenziale unseres Landes für die Menschen in Deutschland, aber auch in ganz Europa nutzen und, wo immer wir können, entwickeln.

Nur dann können wir im friedlichen Wettbewerb mit anderen in Europa Impulse geben, die für den gemeinsamen Markt, die gemeinsame Währung und damit für gemeinsamen Wohlstand der Europäer wichtig sind. Das macht die internationale, die europäische Dimension der Diskussion um unsere Reform-Agenda 2010 aus, dass es nämlich zum einen einer nationalen Kraftanstrengung in Deutschland bedarf, aber zum anderen vom Erfolg der Reformen bei uns noch etwas mehr abhängt als unser eigenes Wohlergehen. Gemeinsam müssen wir einen Pfad finden, der wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit miteinander neu in Einklang bringt.

Wir Deutschen sollten am 3. Oktober mit Bescheidenheit auf die Länder Mittel- und Osteuropas schauen. In diesen Ländern ist seit 1989 auch Unglaubliches geleistet worden. Sie hatten eben keinen starken Partner, dessen Steuer- und Sozialaufkommen sie sofort mit hätten in Anspruch nehmen können. Sie haben eine enorme Anstrengung unternommen, um dorthin zu gelangen, wo wir alle in Europa sein wollen: in einer gemeinsamen Europäischen Union, die den Kontinent zusammenhält und Europa das nötige Gewicht auch im weltweiten Wettbewerb verleiht.

Deutschland hat sich auch deshalb immer als Anwalt dieser Beitrittsländer verstanden und - das sage ich am Vorabend der Regierungskonferenz in Rom - wird sich auch in Zukunft weiter so verhalten.

Wir sollten nicht zulassen, dass Kleingeisterei und Kleinmut uns lähmen, weil noch längst nicht alles erreicht ist, was wir uns vorgenommen haben. Stattdessen sollten wir an einem solchen Tag auch einmal innehalten und zurückblicken auf das, was geleistet werden konnte: So, wie Deutschland heute geeint ist, wird Europa bald eins sein. Diese Einheit basiert nicht auf der Logik von Machtpolitik, sondern auf dem Willen zur Freiheit und auf dem doch ganz einzigartigen europäischen Modell des sozialen Ausgleichs und der ökonomischen Effizienz.

Es stimmt, dass Europa mit der Erweiterung der größte Binnenmarkt der Welt sein wird. Aber es stimmt auch, dass es auf diese Größe allein nicht ankommen darf, sondern vielmehr darauf, dass wir in Europa durch den freien Willen der Menschen Spaltungen und alte Rivalitäten überwunden haben und dass diese Freiheit zu einer sozialen und auch internationalen Verantwortung führt, die wir gemeinsam, und zwar im Bewusstsein unserer erreichten Leistungen, wahrgenommen haben und weiter wahrnehmen müssen.