Redner(in): Christina Weiss
Datum: 07.10.2003
Untertitel: "Es ist nur folgerichtig, dass die heutige Eröffnung der 55. Frankfurter Buchmesse den Höhepunkt des deutsch-russischen Kulturdialogs markiert, der im April 2001 von Gerhard Schröder und Wladimir Putin erdacht und von den Kulturministern beider Länder ins Leben gerufen wurde."
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/66/537666/multi.htm
soviel Russland war in Deutschland nie. Kaum ist im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie die Musik der Petersburger Komponistin Galina Ustwólskaja verklungen, da wird in der Frankfurter Schirn Kunsthalle die Ausstellung "Traumfabrik Kommunismus" eröffnet. Im Westen nie gesehene Bilder sowjetischer Massenkultur überraschen, überrumpeln, überwältigen den Betrachter, Monumentalbilder, auf denen Komintern-Kongresse verewigt sind, wie Anton von Werner sie nicht schöner hätte malen können. Gerade noch ist Tschechows "Schwarzer Mönch" der Erzählung entstiegen und leibhaftig auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele erschienen, da wird die lang erwartete Werkschau "Berlin - Moskau 1950 - 2000" eröffnet, eine der wohl produktivsten und aufregendsten deutsch-russischen Kooperationen, die in unserem gemeinsamen Kulturjahr 2003/2004 Wirklichkeit werden.
Und nun schlägt Russland, Ehrengast der diesjährigen Buchmesse, neue Seiten auf.
Es ist nur folgerichtig, dass die heutige Eröffnung der 55. Frankfurter Buchmesse den Höhepunkt des deutsch-russischen Kulturdialogs markiert, der im April 2001 von Gerhard Schröder und Wladimir Putin erdacht und von den Kulturministern beider Länder ins Leben gerufen wurde. Denn Erfahrung, die ästhetische wie die gesellschaftliche, politische oder private, kann auf das geschriebene und gedruckte Wort nicht verzichten, um sich ihrer selbst zu vergewissern und anderen zugänglich zu werden. Wo, wenn nicht hier und zu dieser Stunde, sollten wir uns die Unersetzlichkeit des Buches im Prozess wechselseitiger, grenzüberschreitender Verständigung vergegenwärtigen. Zeitung, Fernsehen, Internet sind in der Informationsgesellschaft unverzichtbar. Doch nur das Buch, dieses langsame, nachhaltige Medium schließt uns die Welt auf.
Das Interesse an Russland hierzulande war und ist beträchtlich. Nicht nur die Experten kennen ihren Bulgákow und ihren Nabókow. Und selbst Autoren, die auch in Russland erst während und nach der Perestroika erstmals unzensiert editiert oder sogar wiederentdeckt wurden, wie Isaak Babel und Daniil Charms haben bei uns zwar kein Massenpublikum, aber eine nicht unerhebliche, kundige Leserschaft gefunden. Die 100 russischen Autoren und 200 Verlage, die sich in Frankfurt dem internationalen Publikum präsentieren, dürfen also mit "qualifizierter Neugier" rechnen.
In beeindruckender Fülle bieten die deutschen Verlage Neuerscheinungen russischer Literatur in deutscher Übersetzung an. Keine Pionierarbeit, sondern häufig Fortsetzung einer jahre- oder jahrzehntelangen Pflege der russischen Literatur. Diese Vielfalt ist einzigartig und bestätigt, was man immer wieder hört: dass unsere von einer schweren Krise heimgesuchte Verlags- und Buchhandelslandschaft trotz allem das weltweit größte und vielseitigste Angebot fremdsprachiger Literatur zu bieten hat. Dank des lang ersehnten Gesetzes zur Buchpreisbindung, das am 1. Oktober 2002 in Kraft getreten ist, ist diese Vielfalt zumindest nicht mehr unmittelbar bedroht.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit heute jedoch auf diejenigen lenken, ohne die wir den Dialog zwischen eigener und fremder Kultur nicht führen könnten: auf die Übersetzer. Sie sind weit mehr als Sprachmittler; stellvertretend für uns, die Leserinnen und Leser, haben sie sich auf die andere Seite begeben, sich - meist aus Passion, aus Neugier und meist ohne nach den Nutzen-Kosten-Relationen zu fragen - mit der fremden Sprache, dem fremden Land vertraut gemacht. Ohne die "Erfahrung am eigenen Leibe" könnte nicht gelingen, was der Arbeit am Text erst ihre Grundlage gibt: die wechselseitige Verständigung. Übersetzer wissen besser als andere Menschen, wie nah Gelingen und Scheitern dieser Verständigung beieinander liegen. Ohne die manchmal verzweifelte Hoffnung, dass wir Menschen - in babylonische Verwirrung gestürzt - einander doch irgendwie verstehen können, weil mehr Gemeinsames als Trennendes existiert, könnten die Übersetzer, könnte niemand von uns arbeiten.
Indem die Übersetzer die eigene Sprache durch die fremde anschauen, erproben und in Bewegung versetzen, bereichern und differenzieren sie unsere gemeinsame. Deshalb ist jede gelungene literarische Übersetzung eine Bereicherung der jeweiligen Sprache insgesamt."Jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien", ist nach Walter Benjamin die Aufgabe des Übersetzers."Um ihretwillen bricht er morsche Schranken der eigenen Sprache: Luther, Voß, Hölderlin, George haben die Grenzen des Deutschen erweitert." Entsprechendes gilt auch für das Russische, das dank der übersetzenden Dichter Púschkin und Shukówskij, Lérmontow und Pasternák zu einer großen Übersetzersprache wurde.
In der noch ungeschriebenen Geschichte des Übersetzens ist das Kapitel über die deutsch-russischen Beziehungen vermutlich eines der spannendsten.
Wir kennen die Bilder, oft Wortspielen entsprungen, mit denen man von alters her die Übersetzer bedacht hat. Traduttore - traditore ( der Übersetzer als Verräter ) , der Übersetzer als Fährmann, der uns ans andere Ufer bringt, als Brückenbauer über dem Abgrund des Nichtverstehens.
Nach Russland fährt man nicht im Boot, sondern in der Eisenbahn. Und da die Gleise im ehemaligen russische Imperium eine größere Spurweite haben als bei uns, wird der Zug an der einstigen polnisch-sowjetischen, heute weißrussischen Grenze, auf ein neues Fahrgestell umgesetzt. Spurwechsler, Mauerspringer, Papierschmuggler - diese Rolle kam vielen Übersetzern aus osteuropäischen Sprachen ( in der Bundesrepublik wie in der DDR! ) bereits in der Epoche des Ost-West-Konflikts zu. Wir sollten nicht vergessen, dass auch sie zu den Unermüdlichen gehörten, die Löcher in den Eisernen Vorhang gebohrt haben. Stellvertretend für andere, die sich eingerichtet hatten in der Teilung Europas, haben sie sich auf den Weg gemacht. Spurwechsel " heißt ein Film, in dem deutsche und russische Literaturübersetzer über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Kulturen sprechen, wie sie ihnen bei der Arbeit begegnen. Sie reden über die strukturellen Differenzen ihrer Sprachen und die kulturhistorisch unterschiedlichen Resonanzräume - kurz, über all das, was geschieht, wenn ein Text die Sprache wechselt. Auch dieser Film ist ein deutsch-russisches Gemeinschaftsprojekt. Er wird im Internationalen Übersetzerzentrum gezeigt, das dank des Engagements der Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr erstmals eingerichtet werden konnte.
Die Einrichtung dieses Zentrums ist als Anlaufstelle für Übersetzer, Lektoren, Verleger und interessierte Fachbesucher gedacht. Es bedeutet zudem mehr Öffentlichkeit für die Arbeit der Übersetzer, die trotz einer gestiegenen Aufmerksamkeit für diesen Berufsstand, noch nicht genug gewürdigt wird.
Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang eine Bemerkung.
Seit dem 1. Juli 2002 ist das neue Urhebervertragsrecht in Kraft. Darin fordert der Gesetzgeber Urheber und Verwerter auf, sich einvernehmlich auf Vergütungsregeln zu einigen. Nach zwei Verhandlungsrunden, die von der Verlegervereinigung Belletristik und Sachbuch und dem Verband der Übersetzer geführt wurden, musste Anfang September ein Schlichtungsverfahren eingeleitet werden. Ohne auf die Gründe dieses Scheiterns einzugehen, möchte ich an beide Seiten appellieren, konstruktiv mit dem neuen Gesetz umzugehen. Das setzt voraus, dass die Verhandlungspartner einander ernst nehmen und bereit sind, sich aufeinander zuzubewegen. Dass Übersetzer, deren Arbeit die so bewunderte Qualität und Vielfalt unseres Buchmarkts ermöglicht, noch immer um angemessene Honorare kämpfen müssen, ist unverständlich. Dass literarische Verleger mit jeder Übersetzung eines guten, aber schwer verkäuflichen Titels ein Risiko eingehen und sich gezwungen sehen könnten, künftig auf solche Titel zu verzichten, ist bedrohlich.
Ich möchte beide Seiten auffordern, kooperativer zu sein und mit Phantasie und gegenseitigem Wohlwollen nach einem gemeinsamen Weg zu suchen. Sie sind doch aufeinander angewiesen! Die Leserinnen und Leser brauchen Sie. Das Buch ist ein unersetzliches Gut. Ich bin sicher, dass sich Lösungen finden lassen.. Das Übersetzen ist eine der schwierigsten und verantwortungsschwersten Arten literarischer Arbeit... Im Akt des Übersetzens verbirgt sich eine an der Gesundheit zehrende nervliche Zerrüttung. Diese Arbeit ermüdet das Gehirn und trocknet es mehr aus als viele andere Arten schöpferischer Arbeit. Wenn man für einen guten Übersetzer nicht Sorge trägt, nutzt er sich schnell ab ", schreibt der russische Dichter Ossip Mandelstám 1929 in einer zornigen Abrechnung mit dem jungen sowjetischen Verlagswesen; seine Diagnose ist leider von zeitloser Gültigkeit.
Es wäre in seinem Sinne gewesen, dass wir trotz knapper Spielräume im Kulturhaushalt deshalb in diesem Jahr die Förderung für den Deutschen Übersetzerfonds von 102.000 € auf 200.000 € aufgestockt haben.
Russland und Deutschland sind sich heute so nah wie nie. Dies belegen nicht nur die vielen deutsch-russischen Projekte, sondern auch die Intensität des wirtschaftlichen Austauschs, die Dichte der wissenschaftlichen Kommunikation und des interkulturellen Dialogs, wie es sie in unserer gemeinsamen Geschichte noch nicht gegeben hat. Die Neugier wächst, und gerade junge Menschen machen sich in großer Zahl auf, reisen, lernen die Sprache, schließen Freundschaften.
Vermutlich zum erstenmal in Russlands Geschichte konnte eine junge Generation von Schriftstellern weitgehend ohne Zensur und Gängelung aufgewachsen. Kein "Wolfshund-Jahrhundert" springt sie mehr an wie einst Ossip Mandelstám, über den übrigens zur Buchmesse die erste große Biographie erschienen ist, verfasst von seinem deutschen Übersetzer Ralph Dutli. Es scheint, als unterschieden sie sich in ihrem Individualismus, mit ihren literarischen Clubs und Popstars nicht sehr von ihren Altersgenossen im Westen.
Dennoch geistert ein Epigramm durch unsere Köpfe: "Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen, / mit unseren Maßen nicht zu messen, / Russland ist von andrer Größe, / an Russland kann man nur glauben" - dass diese berühmten Verszeilen meist affirmativ zitiert werden, sollte uns nachdenklich stimmen. Ermuntern sie nicht geradezu zur Selbstaufgabe des Denkens? Zur Kapitulation vor dem Unbegreiflichen? Spricht aus ihnen nicht eine ärgerliche Überheblichkeit?
Der Verfasser, Fjódor Tjúttschew, ein bewunderter Liebes- und Naturlyriker, der Goethe verehrte und sich im privaten und öffentlichen Leben ausschließlich des Französischen bediente, der Heine und Schiller übersetzte - dieser gebildete Europäer russischer Zunge brüskiert uns 1866 mit seiner Absage an das Prinzip Aufklärung. Er war ein Vordenker des Panslawismus, überzeugt dass Russland das Christentum vor dem antichristlichen-revolutionären Westen zu verteidigen habe. Russland als das Andere Europas ( oder des Westens, was dasselbe ist ) - dieser Gedanke erfreut sich längst neuer Aufmerksamkeit und wir sollten gut zuhören, wer ihn heute aus welchen Gründen wieder affirmiert.
Denn Russland ist ja längst im Westen angekommen, und der Westen hat in Russland Einzug gehalten. Russland gehört zu Europa. Dennoch müssen wir uns heute, mehr als zehn Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, mehr als zehn Jahre nach dem Ende der europäischen Teilung fragen, warum wir von der russischen Kultur fasziniert, von vielem, was in diesem riesigen Land vorgeht, jedoch irritiert sind. Noch immer herrscht Angst vor einer gewissen Unberechenbarkeit und Undurchschaubarkeit. Dass wir manche Ereignisse in Russland mit dem Verstand nicht begreifen können, ermutigt unseren Glauben keineswegs. Im Gegenteil. Dass im Süden des Landes täglich Menschen zu Opfern kriegerischer Auseinandersetzungen werden, belastet uns. Und doch: Russland in Europa - das bedeutet die Unteilbarkeit der Menschenrechte hier wie dort.
Das mutige Wort hat eine lange Tradition in Russland. Schriftsteller fühlten sich der Wahrheit verpflichtet - viele zahlten dafür einen hohen Preis. Heute muss kein Dichter mehr um sein Leben fürchten. Aber in Russland wie in Deutschland gilt: die Arbeit, einander zu verstehen, einander zu erklären - und Bücher spielen in diesem Prozess nun einmal eine prominente Rolle - ist eine Herausforderung. Dass wir einander im kulturellen Dialog frei und mit so viel Hoffnung begegnen können, ist eine einzigartige historische Chance.
Wir wissen, dass alle Bemühungen, durch Kultur und Bildung Fortschritte zu erzielen, umsonst sind, wenn die Politik nicht nachfolgt. Und umgekehrt gilt: Die Ausbildung demokratischer Strukturen, der Kampf gegen Korruption, Kriminalität, Terrorismus, die Zivilisierung der Persönlichkeit - ohne die Kultur als Avantgarde dieses Veränderungsprozesses werden keine tragfähigen Fundamente errichtet.
Wir hatten das Glück, langjährige Diktaturen fallen zu sehen. Heute sind wir noch immer in einer Phase des historischen Umbruchs und der Neugestaltung, mitten in einem langwierigen Transformationsprozess, dessen Gelingen nicht nur von den Institutionen, sondern wesentlich von uns selbst abhängt.
Stärker als früher wird die diesjährige Frankfurter Buchmesse über das Geschäftliche hinaus ein Ort der Debatten sein. Dass es sogar eine Satellitenschaltung zu den Kosmonauten an Bord der internationalen Raumstation geben wird, hätte den futuristischen Dichter Velimir Chlebnikow, der sich "mit den Sternen duzte" mit Stolz erfüllt. Vertiefen wir uns in die neuen Seiten, doch lassen wir uns nicht davon abhalten, die alten zu Ende zu lesen.
Ich wünsche uns allen eine anregende Messe.